Ein junges Paar fährt zu einer Hausbesichtigung. Zu ihrem Schrecken warten vor Ort fast 200 Leute. Es stellt sich heraus, dass die meisten aus spiritistischen Gründen gekommen sind: Auf einem der Maklerfotos ist am Fenster ein weißer Schatten zu sehen …

Eine alte Dame kauft ein Haus am Meer, das den Versprechen den Maklers nicht gerecht wird. Sie stirbt an Überforderung mit dem neuen Anwesen. Jahre später kehrt der rücksichtslose Makler mit seinem teuren Auto auf das Grundstück zurück und trifft auf einen einzelnen Bauarbeiter …

Irene Huss ist zum traditionellen Krebsessen in der Nachbarschaft eingeladen. Plötzlich ertönt ein gellender Schrei, und eine halbbekleidete Frau stürzt in den Garten. Irene Huss findet den Ehemann blutüberströmt …

Dies und vieles mehr in 13 gesammelten Kurzgeschichten der schwedischen Queen of Crime.

HELENE TURSTEN wurde 1954 in Göteborg geboren und arbeitete lange Jahre als Zahnärztin, ehe sie sich ganz auf das Schreiben konzentrierte. Mit ihren Kriminalromanen begeisterte sie Schwedens Kritiker und Publikum auf Anhieb und schrieb sich auch in Deutschland in die Herzen der Krimileser und -leserinnen. Ihre Serie um die Göteborger Kriminalinspektorin Irene Huss hat mittlerweile auch in Deutschland eine riesige Fangemeinde und wurde erfolgreich verfilmt. Helene Tursten lebt in Sunne/Värmland und ist verheiratet mit einem Expolizisten.

Helene Tursten

MEINE
KLEINEN MORDE

Kriminalgeschichten

Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger
und Holger Wolandt

INHALT

TOTER WINKEL

ÄLTERE DAME SUCHT WEIHNACHTSFRIEDEN

DIE TODSÜNDE

DIE UNGLÜCKLICHE BRAUT

EIN SELTSAMES VERSCHWINDEN ZU MITTSOMMER

ÄLTERE DAME AUF REISEN

DER WEIHNACHTSMANN IST TOT

MITTWINTERMORD

SCHRITTE

DIE KELLERJUNGEN VON UNNA

DIE ÜBLICHE GESCHICHTE

DIE WOHNUNGSPROBLEME EINER ÄLTEREN DAME

IM SCHEIN DES KREBSMONDES

NACHBEMERKUNG

TOTER WINKEL

Kriminalinspektorin Irene Huss kann es sich für gewöhnlich erlauben, die Weihnachtsvorbereitungen gelassen anzugehen. Schließlich ist ihr Mann Koch in einem der besten Restaurants Göteborgs, und die Weihnachtszeit wird jedes Jahr nach dem gleichen Muster begangen: Bereits am ersten Advent beginnt Krister mit dem Weihnachtsgebäck. Um diese Zeit kommen auch immer die erwachsenen Zwillingstöchter nach Hause, um mitzuhelfen. Natürlich nicht, ohne sich einen großen Vorrat an Zimtschnecken und Plätzchen mit nach Hause zu nehmen. Sobald sich der Duft von Safran und Weihnachtsgewürzen ausbreitet, schaltet Irene die Kaffeemaschine ein und deckt den Couchtisch mit dem geerbten Kaffeeservice. Im Schein der ersten Adventskerze genießen dann alle zusammen das noch warme Luciagebäck und die mürben Pfefferkuchen. Die Plätzchen verwahrt Irene in gut schließenden Blechbüchsen, aber einen Großteil des Gebäcks friert sie ein und nimmt es je nach Bedarf portionsweise aus dem Gefrierschrank. Auch mit dem Weihnachtsessen hat Irene keine Arbeit, Krister kocht alles selbst, angefangen von den Karamellbonbons bis hin zum eingelegten Hering und den mit Honig bestrichenen Spareribs, ganz zu schweigen von seiner Spezialität, dem portweinmarinierten und überbackenen Weihnachtsschinken, der immer in der Mitte des Weihnachtsbuffets steht. Sogar die Wurst und der Senf stammen aus eigener Herstellung. Zusammen mit der Tochter Jenny, die Vegetarierin ist, bereitet Krister außerdem noch einige leckere Gemüsegerichte und wunderbare Salate zu. Essen ist für ihn Beruf und Hobby, und niemand könnte dankbarer dafür sein als Irene. Der Einzige, der ihre kulinarischen Fertigkeiten zu schätzen weiß, ist ihr Hund Egon, wenn sie sein Trockenfutter mit Essensresten aufbessert.

Allein das Besorgen der Weihnachtsgeschenke verursacht einen gewissen Stress, dem sich nicht einmal Irene entziehen kann. Diese Aufgabe kann unmöglich jemand anderes für sie erledigen. Bei Familie Huss ist es Tradition, dass man sich keine teuren Sachen schenkt. Die Geschenke sollen persönlich sein und möglichst eine Bedeutung haben. Allerdings hatte Krister im Vorjahr ihr Geschenk, Joggingshorts mit passendem T-Shirt, nicht sonderlich zu schätzen gewusst, denn körperliche Ertüchtigung ist ihr Ding, nicht seines. Sie musste also versprechen, dieses Jahr keine Turnschuhe, Hanteln oder Ähnliches zu kaufen.

Man kann nicht jedes Jahr einen Treffer landen, dachte Irene, als sie auf dem riesigen Parkplatz auf dem Frölunda Torg einparkte. Glücklicherweise war gerade ein anderes Auto weggefahren, denn weit und breit war keine einzige freie Parklücke in Sicht. Sie stieg aus, schloss die Fahrertür ab und schaute auf das große Entree, vor dem sich die Menschenmassen drängten. Warum lerne ich nie, die Weihnachtseinkäufe im Oktober zu erledigen, statt bis zum 23. damit zu warten, dachte Irene verärgert. Aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich ins Getümmel zu stürzen und zu hoffen, dass sie die Dinge finden würde, die sie sich vorgestellt hatte.

Das große Thermometer an der Fassade des Gebäudes zeigte fünf Grad minus. Eine dünne Schneedecke, die hoffentlich über die Weihnachtstage liegen bleiben würde, überzog die Stadt. Gemeinsam mit Hunderten anderer Menschen drängte Irene sich durch die Türen des Einkaufszentrums. Scheppernde Weihnachtsmusik vermischte sich mit lautem Stimmengewirr. Wärme schlug ihr entgegen. An der Decke hingen riesige Weihnachtsbaumkugeln, die sich langsam drehten und ihre Farbe veränderten. Dazwischen waren Girlanden aus künstlichen Tannenzweigen angebracht. Praktisch, dann rieseln den Leuten wenigstens keine Nadeln in die Haare, dachte Irene und wappnete sich für das, was ihr bevorstand.

Das Einkaufszentrum war erst kürzlich umgebaut worden. Kein Laden war mehr dort, wo er vorher war. Einige existierten überhaupt nicht mehr, und andere waren hinzugekommen. Damit die Kunden eine Chance hatten, sich zurechtzufinden, standen große Übersichtstafeln an den Eingängen und Rolltreppen. Irene blieb vor einer stehen und betrachtete den Plan. Aus den Augenwinkeln nahm sie einen jungen Mann wahr. Sie drehte den Kopf zur Seite und sah ihn an. Nicht etwa, weil er sonderlich auffällig gekleidet gewesen wäre, sondern weil er im Dezember eine Sonnenbrille trug. Dann bemerkte Irene den weißen Stock, den er vor sich her schwenkte. Offenbar war er sehbehindert. Irene erstaunte es, dass er sich am Tag vor Heiligabend in die Menschenmassen eines der größten Shopping-Center Göteborgs wagte. Aber er schien gut zurechtzukommen, die Leute wichen ihm aus. Sie wandte sich wieder dem Übersichtsplan zu. Krister wollte sie dieses Jahr einen Schal schenken, und zwar keinen praktischen aus dicker Wolle, sondern einen schicken aus weichem Kaschmir, denn so einen besaß er noch nicht. Vorzugsweise ein Muster mit Rot, denn das würde gut zu seinem dunkelblauen Mantel passen. Im Men’s Shop hatte es im Vorjahr solche Schals gegeben. Dieses Jahr hatten sie sie sicher auch wieder im Sortiment. Wenn sie das Geschäft denn fand. Da! Er war in den 2. Stock umgezogen. Jetzt musste sie nur noch die richtige Rolltreppe nehmen …

Der gewaltsame Stoß traf sie vollkommen unerwartet. Irene fiel vornüber und konnte sich im letzten Moment noch an einem stabilen Mülleimer aus Metall festhalten. Etwas lag schwer auf ihrem Rücken, sie krümmte sich unter dem Gewicht über den Korb.

»Verdammt! Können Sie nicht aufpassen!«, brüllte ihr eine Männerstimme ins Ohr.

Jemand klammerte sich an ihrem Rücken fest. Zwar war sie einmal Meisterin im Jiu-Jitsu gewesen, aber alles war so schnell und überraschend geschehen, dass sie vollkommen überrumpelt war. Das Gewicht auf ihrem Rücken war nicht mehr zu spüren, aber jetzt erhielt sie einen schmerzhaften Hieb gegen das Schienbein. Als Irene über ihre Schulter schaute, sah sie den blinden Jüngling. Um sie herum blieben die Leute stehen und betrachteten die Dame mittleren Alters, die offenbar einen blinden jungen Mann angerempelt hatte. Verwirrt und beschämt überlegte Irene, wie um alles in der Welt das hatte geschehen können. Eben noch hatte sie ihn in fünfzig Metern Entfernung gesehen, ein paar Augenblicke später lag er auf ihrem Rücken.

»Wer ist hier eigentlich sehbehindert!«, fauchte der Jüngling.

Irene sah, dass er fast noch ein Junge war. Er trug eine große Daunenjacke und Jeans und sah aus wie alle anderen Teenager. Sein Haar war schwarz gefärbt, und er hatte einen Irokesenschnitt. Das Einzige, was ihn von den meisten Jugendlichen unterschied, war die Tatsache, dass er sehbehindert war.

»Entschuldigung, aber ich …«, stammelte Irene, wurde aber sofort unterbrochen.

»Von wegen Entschuldigung! Passen Sie nächstes Mal halt auf!«, pöbelte er und fasste seinen Stock fester. Rasch versetzte er ihrem Bein einen weiteren Hieb, drehte sich um und bahnte sich einen Weg durch die Menschentraube, die sich um sie herum gebildet hatte.

Irene hatte ihr Gleichgewicht wiedergewonnen, und nun begann Wut in ihr aufzusteigen. Ein solcher Stoffel! Selbst wenn er blind war, konnte er sich gesittet benehmen. Die Leute um sie herum hatten das Interesse verloren und verliefen sich. Sie folgte dem Jungen eine Weile mit dem Blick. Mit erstaunlicher Sicherheit bewegte er sich quer durch die riesige Haupthalle auf einen der Ausgänge zu, über dem das Symbol für die Straßenbahn hing. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass sie ihn bewunderte. Er kam gut im Gedränge zurecht und konnte offenbar auch alleine Straßenbahn fahren. Sie fühlte sich plötzlich erschöpft und benommen. Sie brauchte jetzt dringend eine Tasse Kaffee. Ihr Blick fiel auf einen großen Kaffeeautomaten im Eingangsbereich einer Buchhandlung. Daneben standen ein paar Tische und Stühle. Derartigen Kaffee war sie von ihrem Arbeitsplatz gewöhnt. Sie stellte keine hohen Ansprüche. Hauptsache Koffein. Sie reihte sich in die Schlange ein. Als sie den Reißverschluss ihrer Jackentasche öffnen wollte, stellte sie fest, dass dieser bereits geöffnet war. Hatte sie vergessen, ihn zuzumachen? Verblüfft schob sie die Hand in die Tasche, um ihre Brieftasche herauszunehmen. Sie war nicht dort.

Man musste keine erfahrene Polizistin sein, um zu begreifen, was geschehen war. Sie war bestohlen worden. Von einem blinden Jüngling, der wahrscheinlich so gut sah wie ein Falke.

Irene machte auf der Stelle kehrt, versuchte, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, ständig darauf bedacht, mit niemandem zusammenzustoßen. Sie entschuldigte sich in alle Richtungen, während sie den schwarzen Irokesenkamm des Jünglings durch die Glastüren ins Freie verschwinden sah. Rolltreppen führten zu den Straßenbahnsteigen. Falls jetzt eine Straßenbahn einfuhr, würde er ihr entwischen. Es hagelte Proteste, als sie versuchte, sich an den Menschenmassen vorbeizudrängen. Eine Frau sagte laut: »Schon wieder die, die dem armen blinden Jungen das Leben schwergemacht hat!«

Weitere Entschuldigungen murmelnd, bewegte sich Irene zielstrebig auf den Ausgang mit dem blau-weißen Straßenbahnsymbol zu. Als sie die Rolltreppe endlich erreicht hatte, war sie durchgeschwitzt und wahnsinnig wütend. Dieses Früchtchen konnte was erleben, wenn sie es zu fassen kriegte! Mit großen Schritten drängte sie sich an den Menschen auf der Rolltreppe vorbei. Es wurde geschimpft und gemurrt, aber das war ihr egal, sie musste auf den Bahnsteig hinunter und den Dieb erwischen, ehe er in eine Straßenbahn einstieg.

Am Bahnsteig angekommen, sah Irene sich um. Da sie recht groß war, konnte sie über die Köpfe der Menschen auf dem Bahnsteig hinwegsehen, aber in dem fahlen Licht der unterirdischen Haltestelle war kein Jüngling mit Sonnenbrille zu sehen. Irenes Herz klopfte heftig. War er bereits verschwunden? Gerade als sie aufgeben wollte, entdeckte sie ihn. Er erhob sich von einer Bank und ging an den Gleisen entlang. Er konnte sie nicht gesehen haben, da er ihr den Rücken zuwandte. Irenes Kräfte kehrten zurück, als sie ihre Beute sah. Sie folgte ihm. Er verschwand hinter einem breiten Betonpfeiler, aber wie es aussah, würde er sich nicht absetzen können, denn der Bahnsteig endete ein paar Meter weiter an einer Mauer. Im Tunnel quietschten die Schienen, ein erstes Anzeichen dafür, dass sich die Straßenbahn näherte. Irene beschleunigte ihre Schritte, um den Dieb stellen zu können, ehe er in die Straßenbahn verschwand.

Obwohl die Bremsen kreischten, hörte sie deutlich einen schrillen Schrei. Instinktiv hielt sie inne und schaute auf den Pfeiler, hinter dem der Jüngling verschwunden war. Sie sah einen dunklen Ärmel auf den Gleisen verschwinden, als die Straßenbahn herandonnerte. Ein dumpfer Knall, und die Schienen sprühten Funken. Der Fahrer hatte eine Notbremsung durchgeführt.

Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte eine unheimliche Stille auf dem Bahnsteig, dann begann eine Frau schrill und anhaltend zu kreischen. Wenig später waren weitere Schreie zu hören. Die Erkenntnis, dass da ein Mensch unter die Straßenbahn geraten war, hatte sich rasch verbreitet. Irene zog ihr Handy aus der Tasche und wählte 112. Sie nannte ihren Namen und Dienstgrad und forderte einen Krankenwagen und die Polizei an. Dann berichtete sie kurz, was geschehen war. Auf dem Bahnsteig herrschte Chaos. Die Menschen riefen erregt durcheinander, einige hatten sich vor der Straßenbahn versammelt, um zu sehen, wie es dem Angefahrenen ging.

Irene verspürte eine Welle der Erleichterung, als ein Mann rief: »Ich glaube, er lebt!«

Sie betete, dass der Jüngling durchhalten würde, bis der Krankenwagen kam, während sie versuchte, sich durch die Menge zu drängen.

»Polizei! Bitte machen Sie den Weg frei!«, wiederholte sie mit autoritärer Stimme in regelmäßigen Abständen und hielt ihren Dienstausweis in die Höhe. Den verwahrte sie immer in der Innentasche ihrer Jacke, wo sie bis vor kurzem auch ihre Brieftasche getragen hatte.

Ein magerer Mann in einer abgetragenen Jeansjacke und mit löchrigen Jeans stieß mit Irene zusammen. Als er vorübereilte, fiel ihr auf, dass er viel zu dünn für die Kälte auf dem ungeheizten Bahnsteig gekleidet war. »Er ist ja … verdammt noch mal … zerquetscht! Tot! Krankenwagen! Rufen Sie einen …« Seine Worte überschlugen sich, während er auf die Vorderseite der Straßenbahn deutete. Er starrte Irene wild an und fuchtelte mit den Armen, ohne jedoch noch etwas Verständliches über die Lippen zu bringen. Zum Schluss wimmerte er nur noch vor sich hin. Irene begriff, dass sie einen Junkie vor sich hatte. Sie klopfte ihm beruhigend auf die Schulter und sagte, Polizei und Krankenwagen seien bereits unterwegs. Dann setzte sie ihren Weg fort.

Schließlich war sie am Kopf der Straßenbahn angelangt. Einige der Umstehenden hatten Blut gewittert und verspürten keinerlei Lust, aus dem Weg zu gehen. Wachleute eilten herbei und drängten die Schaulustigen beiseite, die erregt in ihre Handys sprachen. Etliche versuchten, mit ihnen zu fotografieren, aber die Wächter verstellten ihnen die Sicht. Irene zeigte ihren Dienstausweis und wurde zum Unglücksort vorgelassen. Sie sprang auf die Gleise hinunter. Der Jüngling war ein Stück mitgeschleift worden, und auf den Schienen war sehr viel Blut. Seine Beine verschwanden unter der Straßenbahn. Er lag auf dem Rücken und mit dem Kopf am Zaun, der die beiden Gleise voneinander trennte. Er hatte seine Sonnenbrille verloren, und Irene sah, dass seine Augen geschlossen waren. Ein leises Wimmern kam aus seiner Kehle. Es wurde immer schwächer.

»Wir sind bei Ihnen. Der Krankenwagen kommt jeden Moment. Machen Sie sich keine Sorgen. Versuchen Sie, ganz ruhig zu atmen«, sagte Irene und kniete sich neben ihn. Wie jung er ist, dachte sie, als sie die Akne auf seinen graubleichen Wangen sah. Irene ergriff seine eiskalte Hand und begann sie langsam zu massieren. Sie war erstaunt, dass er plötzlich ihre Finger umfasste und die Augen öffnete. Er sah sie verzweifelt an. Er stand unter Schock, aber es bestand kein Zweifel daran, dass er sie sah.

»Ich … will … nicht«, flüsterte er.

Sein Blick erlosch. Langsam schloss er seine Lider. Die Atmung wurde immer flacher. Er war bewusstlos. Irene hörte die sich nähernden Sirenen und hoffte inständig, dass der Krankenwagen rechtzeitig kommen würde.

Die Sanitäter trafen vor der Polizei ein. Sie kamen mit ihrer Ausrüstung angelaufen, sprangen auf die Gleise und begannen mit den lebensrettenden Sofortmaßnahmen. Einer der Sanitäter murmelte, dass sich die Feuerwehrleute mit der Befreiung des Jungen beeilen müssten, damit sie überhaupt eine Chance hatten, ihn zu retten. Die Blutlache wurde größer. Die beiden Sanitäter sahen sich an und schüttelten kaum merklich den Kopf. Irene zeigte ihren Ausweis und stellte sich ihnen vor. Sie erzählte, der junge Mann habe ihre Brieftasche gestohlen. Irene streifte Handschuhe über und durchsuchte rasch die Taschen der großen Daunenjacke, ohne die beiden Sanitäter an ihrer Arbeit zu hindern. Sie zog drei Brieftaschen, vier Handys und fünf Tütchen mit einem weißen Pulver aus seinen Taschen. Eine der Brieftaschen war ihre. In der Innentasche fand sie auch einen Ausweis mit einem Foto des Jünglings. Er hieß Marcus Larsson und war siebzehn Jahre alt.

Irene versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Was war eigentlich geschehen? Der junge Mann, Marcus Larsson, hatte auf einer Bank auf dem Bahnsteig gesessen. Vielleicht hatte er nachzählen wollen, wie viel Geld in den gestohlenen Brieftaschen war. Hatte jemand neben ihm gesessen? Sie hatte jedenfalls niemanden gesehen. Dann hatte sich Marcus erhoben und war zielstrebig an den Gleisen entlanggegangen, vermutlich um ganz vorne zu stehen, wenn die Straßenbahn hielt. Nur für die Dauer eines Augenblicks war er hinter dem Betonpfeiler und aus ihrem Blickfeld verschwunden. Dann hatte sie einen Schrei gehört und ihn mit den Armen fuchteln sehen, als er auf die Gleise stürzte.

Hatte er sich entschlossen, Selbstmord zu begehen? Wohl kaum. Wollte man den sicheren Tod, dann warf man sich nicht vor eine bremsende Straßenbahn. War es ein Unfall gewesen? War er gestolpert? Vielleicht. Oder hatte er bemerkt, dass sie ihn verfolgte, und deswegen versucht, das Gleis zu überqueren? Das war ein unbehaglicher Gedanke, aber sie glaubte ehrlich gesagt nicht, dass es sich so verhielt. Der Zaun zwischen den Gleisen war zu hoch, um so schnell hinüberklettern zu können. Als Fluchtweg kam der Weg über die Gleise nicht in Frage. Nein, nichts sprach dafür, dass er sich verfolgt gefühlt hatte. Er hatte ganz einfach mit der Beute des Tages in eine Straßenbahn verschwinden wollen.

Was auch immer sich zugetragen hatte, es war hinter dem Betonpfeiler geschehen.

Während Marcus abtransportiert wurde, baten die Streifenpolizisten Irene wie erwartet, sie auf die Wache am Frölunda Torg zu begleiten. Sie hatte ihnen erzählt, was sie in den Taschen des Jungen gefunden hatte. Aber dass sie Polizistin war, war nur einer der Gründe, warum die Kollegen mit ihr sprechen wollten. Der Hauptgrund war, dass sie die Einzige zu sein schien, die überhaupt eine Vorstellung von dem Verlauf des Geschehens hatte. Andere Zeugen hatten sich nicht gemeldet.

Auf der Wache wurde Irene von Inspektor Göran Wedöö empfangen, den sie schon seit vielen Jahren kannte. Seiner deutlich jüngeren Kollegin war sie noch nie begegnet. Irene schnappte nur den Nachnamen auf: Törnkvist. Göran Wedöö war ein großer Mann mit glattrasiertem Schädel und markanten Gesichtszügen. Als er sich auf seinen Bürostuhl setzte, protestierte dieser mit einem lauten Quietschen. Irene nahm auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz, Kollegin Törnkvist blieb neben der Tür stehen.

Zu Beginn der Unterhaltung erklärte Wedöö, der Jüngling sei bei seinem Eintreffen auf der Notaufnahme für tot erklärt worden. Irene empfand eine leichte Übelkeit, obwohl sie seit Jahren bei der Mordkommission war. Irgendwie wurde sie ein leises Schuldgefühl nicht los.

Ein Kriminaltechniker trat ein und händigte ihnen die Dinge aus, die Irene in den Taschen des Jungen gefunden hatte. Der Inhalt der kleinen Tüten würde später noch im Labor des Präsidiums analysiert werden. Dann erzählte Irene so detailliert wie möglich, was vorgefallen war. Die beiden Kollegen unterbrachen sie nicht.

Es klopfte, und der Kriminaltechniker erschien ein weiteres Mal.

Er reichte Irene ihre Brieftasche. »Jetzt habe ich die Fingerabdrücke gesichert. Willst du dich davon überzeugen, dass noch alles in der Brieftasche ist?«, fragte er.

Ihre Hände zitterten leicht, als sie sie entgegennahm. »Alles noch da«, sagte sie, nachdem sie einen raschen Blick auf den Inhalt geworfen hatte.

»Gut. Dann gibt’s jetzt eine Filmvorführung. Wir haben ein paar Videosequenzen vom Opfer und dir aus der Haupthalle«, meinte Göran Wedöö und nickte Törnkvist zu.

Diese zog eine Fernbedienung aus der Hosentasche und richtete sie auf einen großen Plasmafernseher an der Wand. Ruckartige, aus der Höhe aufgenommene Schwarzweißsequenzen waren zu sehen. Es dauerte eine Weile, bis Irene sich selbst in der Menge entdeckte, wie sie konzentriert die Informationstafel studierte. Der Jüngling näherte sich ihr zügig von hinten. Er war gut zu erkennen, da er als Einziger eine Sonnenbrille trug. Er warf sich förmlich auf Irene, woraufhin beide ungebremst auf den großen Mülleimer fielen. Einige Sekunden lang hatte es den Anschein, als würden sie miteinander ringen, dann gelang es dem Jungen, sich zu erheben, indem er sich an ihrem Rücken abstützte. Törnkvist stoppte das Video.

»In diesem Moment hat er dir deine Brieftasche geklaut«, meinte sie.

»Das ist mir klar«, seufzte Irene.

»Dann ist dir sicher auch klar, dass er genauso gut sehen konnte wie du und ich. Wenn nicht sogar besser«, sagte Wedöö und zog vielsagend seine buschigen Brauen hoch.

Er griff nach dem Ausweis, der auf dem Tisch lag, und betrachtete ihn eingehend. Dann fuhr er fort:

»Ein alter Bekannter. Marcus Larsson, siebzehn Jahre alt. Richtig verschlagener Gauner. Dealer und Dieb. Seine neueste Masche war es, in der allgemeinen Weihnachtshysterie den blinden Mann zu geben, um die Mantel- und Einkaufstaschen seiner Opfer zu leeren. Die erste von bislang zehn Anzeigen wurde vor zwei Tagen erstattet. Aber diese Zahl wird angesichts der Dinge, die er bei sich trug, natürlich noch steigen. Wahrscheinlich war er mit der Ausbeute des Tages zufrieden und wollte nach Hause fahren. Vielleicht hat er aber auch geahnt, dass wir ihm bereits auf der Spur waren.«

Ein schlaues Kerlchen, dachte Irene. Trotzdem hat er dieses grausame Schicksal auf den Straßenbahnschienen wirklich nicht verdient.

»Gibt es Kameras, die den vorderen Teil des Bahnsteigs überwachen?«, fragte sie.

»Ja. Aber leider ist der Betonpfeiler im Weg. Dahinter befindet sich ein toter Winkel«, antwortete Wedöö.

»Makaberer Ausdruck, wenn man bedenkt, was dann geschah«, meinte Törnkvist.

Irene schauderte es. Sie konnte nur zustimmen.

»Kannst du dich sonst noch an etwas erinnern? Erzähl einfach alles, was dir einfällt«, sagte Wedöö.

»Nein. Ich habe alles gesagt … Doch, eine Sache! Da war so ein Typ, der das Ganze gesehen haben könnte«, antwortete Irene.

»Wer?«, fragte Wedöö scharf.

»Ein Junkie. Fettiges, langes blondes Haar. Dünne Jacke. Sehr mager. Wahrscheinlich Anfang dreißig, sah aber älter aus. Zittrig und … konfus. Er fuchtelte mit den Armen und lamentierte. Brachte dann kein Wort mehr heraus, weil er so außer sich war. Vorher hatte er mehrmals gesagt, Marcus sei tot. Schließlich stand er nur noch zitternd da und jammerte«, sagte Irene.

Wedöö nickte Törnkvist an der Tür zu. Sie griff zu ihrem Handy und murmelte ein paar Worte hinein. Nach einigen Minuten begann der Bildschirm wieder zu flimmern. Jetzt sah man den Bahnsteig, von schräg oben. Die Sequenz war direkt nach dem Unglück aufgenommen. Die Wartenden sahen sich fragend an und bewegten sich unruhig hin und her. Plötzlich tauchte der magere Mann direkt hinter dem Pfeiler auf. Irene sah, wie sie mit ihm zusammenstieß. Er gestikulierte. Seine Körpersprache ließ große Aufregung erkennen.

»Das ist er«, sagte Irene.

Törnkvist hielt das Video an. Der Mann erstarrte mit ausgebreiteten Armen und verzweifeltem Gesichtsausdruck zu einem Standbild.

»Tricky. Auch ein alter Bekannter«, stellte Wedöö fest.

»Es ist kalt, und er ist obdachlos. Er trägt keinen Mantel. Wahrscheinlich treibt er sich im Einkaufszentrum herum«, meinte Törnkvist.

»Sehr gut möglich. Wir trommeln ein paar Leute zusammen und lassen ihn suchen. Eigentlich heißt er Mikael Nilsson«, sagte Wedöö an Irene gewandt.

Während sich der Wachdienst und die Polizei anschickten, im Einkaufszentrum nach Mikael »Tricky« Nilsson zu suchen, bekam Irene endlich ihren Kaffee. Es dauerte nur zwanzig Minuten, bis Tricky auf die Wache gebracht wurde.

Er zitterte am ganzen Körper und brach sofort zusammen. Verzweifelt versuchte er zu sprechen, brachte aber vor lauter Schluchzen kein Wort heraus. Es dauerte eine Weile, bis sie ihm eine halbwegs zusammenhängende Geschichte entlockt hatten.

Marcus Larsson hatte ihm ein paar Tütchen Amphetamin verkauft und dabei versichert, die Ware sei erstklassig. Aber Tricky war kein Anfänger und hatte rasch festgestellt, dass sich in den Tütchen hauptsächlich Backpulver befand. Normalerweise war er ein friedlicher Zeitgenosse, aber bei einem Drogengeschäft reingelegt zu werden vertrug er nicht. Außer sich vor Wut hatte er sich auf die Suche nach Marcus gemacht. Er hatte gesehen, wie der Jüngling auf den Ausgang Richtung Straßenbahn zugesteuert war. Tricky war schneller gewesen und hatte ihm hinter dem Betonpfeiler auf dem Bahnsteig aufgelauert. Als sich die Straßenbahn genähert hatte, hatte Tricky Marcus an der Jacke gepackt, und es war zu einem kurzen Handgemenge gekommen. Ob Marcus gestolpert und auf die Gleise gestürzt oder ob Tricky ihn gestoßen hatte, konnte nicht einmal er selbst sagen. Tricky hatte von Marcus nur das Geld zurückfordern wollen, das er für das wertlose Dope bezahlt hatte.

»Ich wollte ihn nicht töten! Ich wollte ihm nur einen Schre… Schrecken einjagen«, schluchzte Tricky.

Als Irene die Wache verließ, war sie erschöpft und beschloss, auf direktem Weg nach Hause zu fahren.

Egon sprang fröhlich kläffend an Irene hoch, als sie die Wohnung betrat. Hinter ihm erschien Krister. Er sah erleichtert aus.

»Hallo, meine Liebe! Du warst über sechs Stunden weg. Ich habe bereits erwogen, deine Kollegen anzurufen, damit sie nach dir fahnden«, sagte er, trat auf sie zu und küsste sie auf die Stirn.

Sie umarmte ihn und murmelte an seinem Hals:

»Die hätten mich schnell gefunden. Ich saß auf der Wache am Frölunda Torg.«

Während sie erzählte, was vorgefallen war, wärmte Krister ihr das Mittagessen auf. Noch nie hatte ihr seine hausgemachte Värmlandswurst mit Kartoffelbrei und Preiselbeeren so gut geschmeckt! Irene nahm sich noch eine Portion und fühlte sich allmählich besser.

Als sie nach dem Essen die dritte Tasse Kaffee trank, fragte Krister vorsichtig:

»Und die Weihnachtsgeschenke? Liegen die noch im Auto?«

»Nein. Ich habe keine gekauft. Aber morgen ist auch noch geöffnet. Ich kann in der Frühe noch mal hinfahren …«

»Ausgeschlossen! Weihnachten feiern wir so, wie wir es jedes Jahr feiern. Von morgens früh bis spätabends! Wir schlafen aus und dann kochen wir Kaffee. Danach zünden wir die Kerzen am Weihnachtsbaum an und essen Brote mit Weihnachtsschinken und ganz viel Senf. Das ist der schönste Morgen des Jahres für mich. Nachdem wir für das Weihnachtsbuffet gedeckt haben, machen wir einen langen Spaziergang mit Egon. Anschließend können wir uns dann mit einer Tasse Glögg stärken. Dann stellen wir das Essen bereit, damit alles fertig ist, wenn die Gäste um drei Uhr kommen«, sagte Krister lächelnd.

Er tunkte das letzte Stück Safrangebäck in seinen Kaffee und schob es in den Mund. Dann sagte er:

»Am Frölunda Torg ist heute bis acht geöffnet. Wir haben also noch zweieinhalb Stunden. Wir fahren sofort los. Ich begleite dich als dein Bodyguard«, entschied er.

Irene nahm seine Hand und lächelte ihn an.

»Mein Weihnachtsmann!«, sagte sie und blies ihm einen Kuss von der flachen Hand über den Tisch.