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Das Buch

Mandera, im Nordosten Kenias: In der von Terrorattacken gebeutelten Stadt werden drei Männer (zwei Amerikaner, ein Brite) ins Hospital eingeliefert. Sie zeigen Ebola-ähnliche Symptome: die X1-Mandera-Pandemie ist ausgebrochen …

Berlin: Ein Mann erwacht in seinem Zimmer im Concord Hotel und hat das Gedächtnis verloren. Laut einer Zimmerservice-Quittung lautet sein Name Desmond Hughes. Mit ihm im Raum befinden sich die Leiche eines anderen Mannes sowie ein Zettel mit einem seltsamen Code darauf. Hughes gelingt es, den Code zu entschlüsseln. Es ergibt sich eine amerikanische Telefonnummer, der Anschluss der Epidemiologin Dr. Peyton Shaw …

Atlanta: Peyton Shaw wird kontaktiert, um sich als international renommierte Expertin der mysteriösen, verheerenden Seuche anzunehmen. Vor Ort findet sie heraus, dass eine geheimnisvolle Organisation für den Beginn der Pandemie verantwortlich ist. Der Countdown zum Untergang der Menschheit scheint unaufhaltbar …

Der Autor

A.G. Riddle wuchs in North Carolina auf. Zehn Jahre lang beschäftigte er sich damit, diverse Internetfirmen zu gründen und zu leiten, bevor er sich aus dem Geschäft zurückzog. Seitdem widmet Riddle sich seiner wahren Leidenschaft: dem Schreiben. Seine ebenfalls bei Heyne erschienene Atlantis-Trilogie ist in Amerika schon jetzt ein Phänomen. Riddle lebt in Parkland, Florida.

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

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Die Originalausgabe Pandemic erschien 2017
bei Riddle Inc., Raleigh, North Carolina

Vollständige deutsche Erstausgabe 03/2018

Copyright © 2017 by A. G. Riddle

Published in agreement with the author,

c/o Danny Baror International Inc, Armonk, New York, USA

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Umschlagabbildung: Johannes Wiebel

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Peter Gudella, Bildagentur Zoonar GmbH, kzww, I’m friday, Svetlana Turchenick, GCapture, sandyman, d1sk, somkanae sawatdinak)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-22407-3
V001

www.heyne.de

Dieser Roman ist einem Kreis von Helden gewidmet, von dem wir selten hören. Nach Hurrikans und anderen Naturkatastrophen gehören sie zu den Ersten, die kommen, und den Letzten, die gehen. Sie arbeiten in Kriegsgebieten überall auf der Welt, und trotzdem tragen sie keine Waffen, um sich zu schützen. Auch jetzt gerade riskieren sie ihr Leben im Kampf gegen Bedrohungen, die jeden Menschen in jedem Land der Erde betreffen.

Sie leben unter uns; sie sind unsere Nachbarn und Freunde und Familienangehörigen. Es sind die Männer und Frauen, die in den USA und anderswo im Gesundheitswesen arbeiten. Ihre Taten zu recherchieren war eine große Inspiration beim Schreiben dieses Romans. Sie sind die wahren Helden einer Geschichte wie Pandemie.

Anmerkung zum Thema Fakten und Fiktion

Pandemie ist ein fiktives Werk, das auf Tatsachen beruht. Ich habe versucht, die Reaktionen des CDC und der WHO auf einen tödlichen Ausbruch in Afrika so genau wie möglich zu schildern. Mehrere Experten auf diesem Gebiet haben dazu beigetragen. Jegliche Fehler sind jedoch mir allein zuzuschreiben.

Die wissenschaftlichen Hintergründe sind größtenteils real. Vor allem die Darstellung der Forschung zum M13-Phage und GP3-Protein entspricht hundertprozentig den Tatsachen. Therapien, die daraus entwickelt wurden, werden gegenwärtig in klinischen Studien getestet und zeigen vielversprechende Ansätze, Alzheimer, Parkinson und Amyloidose zu heilen.

Auf meiner Internetseite (agriddle.com) gibt es eine Rubrik facts vs. fiction und weiteres Bonusmaterial zu Pandemie.

Danke fürs Lesen.

Gerry

A. G. Riddle

PROLOG

Das Schiff der US-Küstenwache hatte seit drei Monaten den Arktischen Ozean durchkämmt, ohne dass die Crew wusste, wonach genau sie suchte. Im letzten Hafen hatte der Eisbrecher ein Team aus dreißig Wissenschaftlern und ein dutzend Kisten mit seltsamen Apparaten an Bord genommen. Die Crew wurde über ihre Gäste und die geheimnisvolle Ausrüstung im Dunkeln gelassen. Tag für Tag pflügte sich der Bug der Healy durchs Eis, während die Männer und Frauen an Bord ihren Pflichten nachgingen und wie befohlen Funkstille hielten.

Die Geheimhaltung und die Eintönigkeit der täglichen Arbeiten lösten einen endlosen Strom von Gerüchten aus. Die Crew spekulierte bei den Mahlzeiten und in ihrer Freizeit, wenn sie Schach, Karten oder Computerspiele spielte. Am wahrscheinlichsten schien es, dass sie ein U-Boot oder ein gesunkenes Kriegsschiff suchten – vermutlich amerikanischer oder russischer Herkunft – oder vielleicht ein Frachtschiff mit gefährlicher Ladung. Einige glaubten, sie sollten Atomsprengköpfe aufspüren, die vor Jahrzehnten im Kalten Krieg abgeschossen worden und in den Arktischen Ozean gestürzt waren.

Um vier Uhr morgens nach Anchorage-Zeit summte das Telefon an der Wand neben der Koje des Kapitäns. Der Mann nahm den Hörer ab, ohne das Licht einzuschalten.

»Miller.«

»Halten Sie das Schiff an, Captain. Wir haben es gefunden.« Dr. Hans Emmerich, der leitende Wissenschaftler des Einsatzes, legte ohne ein weiteres Wort auf.

Nachdem er die Brücke angerufen und den sofortigen Stopp befohlen hatte, zog Miller sich schnell an und begab sich auf den Weg zum größten Forschungsraum des Schiffs. Wie der Rest der Besatzung war er neugierig, was dieses Es war. Aber vor allem wollte er wissen, ob das, was unter ihnen lag, eine Gefahr für die 117 Männer und Frauen darstellte, die auf dem Schiff dienten.

Miller nickte den Wachen an der Luke zu, bückte sich und trat ein. Einige Wissenschaftler diskutierten vor einer Reihe von Monitoren miteinander. Er ging zu ihnen und warf einen Blick auf die grünstichigen Bilder, die den felsigen Meeresgrund zeigten. Auf manchen davon war ein dunkles längliches Objekt in der Mitte zu sehen.

»Captain.« Dr. Emmerichs Stimme war wie eine Leine, die Miller zurückhielt. »Wir sind leider gerade äußerst beschäftigt.« Emmerich trat vor den Offizier der Küstenwache und versuchte, ihn von den Bildschirmen wegzudrängen, aber Miller wich nicht von der Stelle.

»Ich wollte sehen, ob wir Ihnen helfen können«, sagte er.

»Wir kommen sehr gut allein zurecht, Captain. Bitte bleiben Sie auf der momentanen Position – und halten Sie Funkstille.«

Miller zeigte auf die Bildschirme. »Sie haben also nach einem U-Boot gesucht.«

Emmerich entgegnete nichts.

»Ist es amerikanisch? Russisch?«

»Wir glauben, das Boot ist … unter multinationaler Trägerschaft.«

Miller kniff die Augen zusammen und fragte sich, was das bedeuten sollte.

»Sie müssen mich jetzt wirklich entschuldigen, Captain. Wir haben eine Menge Arbeit. Wir lassen bald das Tauchboot zu Wasser.«

Miller nickte. »Verstanden. Viel Glück, Doktor.«

Sobald der Kapitän gegangen war, beauftragte Emmerich zwei der jüngeren Wissenschaftler, sich an der Tür zu postieren. »Lasst niemanden mehr rein.«

An seinem Computerterminal verschickte er eine verschlüsselte E-Mail.

Vermutlich Wrack der RSV Beagle geortet. Setzen Suche fort. Koordinaten und erste Bilder angehängt.

Dreißig Minuten später saßen Dr. Emmerich und drei weitere Wissenschaftler in dem Tauchboot und steuerten auf den Meeresboden zu.

Auf der anderen Seite der Erde fuhr das Frachtschiff Kentaro Maru vor der somalischen Küste durch den Indischen Ozean.

Im Besprechungsraum neben der Brücke hatten zwei Männer den ganzen Nachmittag so heftig gestritten, dass die Besatzung immer wieder unter ihren Schreien zusammenfuhr.

Ein nautischer Offizier klopfte an der Tür und wartete nervös. Sie ignorierten ihn und brüllten sich weiter an.

Er klopfte erneut.

Stille.

Er schluckte und schob die Tür auf.

Ein großer Mann namens Conner McClain stand hinter dem langen Konferenztisch. Durch den wütenden Ausdruck wirkte sein stark vernarbtes Gesicht noch abschreckender. Er redete schnell mit australischem Akzent und in einer Lautstärke, die man fast als Schreien bezeichnen konnte.

»Ich hoffe für Sie, dass mich das jetzt vom Hocker reißt, Lieutenant.«

»Sir, die Amerikaner haben die Beagle gefunden.«

»Wie?«

»Sie setzen eine neue Technik zur Vermessung des Meeresbo …«

»Sind sie auf einem Flugzeug, einem U-Boot oder einem Schiff?«

»Auf einem Schiff. Der Healy. Das ist ein Eisbrecher der Küstenwache. Sie lassen gerade ein Tauchboot zu Wasser.«

»Wissen sie schon, was auf der Beagle ist?«

»Vermutlich nicht.«

»Gut. Versenken Sie den Eisbrecher.«

Der andere Mann im Besprechungsraum meldete sich zum ersten Mal zu Wort. »Tu das nicht, Conner.«

»Wir haben keine Wahl.«

»Doch. Das ist eine Gelegenheit.«

»Eine Gelegenheit wozu?«

»Der Welt zu zeigen, was sich an Bord der Beagle befindet.«

Conner wandte sich dem jungen Offizier zu. »Sie haben Ihre Befehle, Lieutenant. Wegtreten.«

Als sich die Tür schloss, sprach Conner ruhig mit dem anderen Mann. »Wir stehen kurz vor dem wichtigsten Ereignis in der Geschichte der Menschheit. Wir werden die unzivilisierten Massen nicht darüber abstimmen lassen.«

Dr. Hans Emmerich hielt den Atem an, als sich die äußere Luke des U-Boots öffnete.

Hinter ihm sah Dr. Peter Finch auf den Bildschirm eines Laptops. »Alles klar. Abgedichtet.«

»Strahlung?«, fragte Emmerich.

»Vernachlässigbar.«

Emmerich und die drei Wissenschaftler stiegen die Leiter ins U-Boot hinab. Die LED-Lampen an den Helmen ihrer Anzüge warfen weiße Strahlen in die dunkle Gruft, während sie sich langsam und vorsichtig durch die engen Gänge bewegten, um mit ihren Anzügen nirgendwo hängen zu bleiben. Ein Riss hätte den Tod bedeuten können.

Als sie die Brücke des U-Boots erreichten, richtete Emmerich seine Helmlampe auf eine Bronzeplakette an der Wand. »Prometheus, hier Alpha eins. Empfangen Sie das?«

Ein Wissenschaftler auf der Healy antwortete sofort. »Verstanden, Alpha eins, ich empfange Ton und Bild.«

Auf der Plakette an der Wand stand:

RSV Beagle

Hongkong

1 Mai 1965

Ordo ab Chao

Emmerich verließ die Brücke und begann, die Kabine des Kapitäns zu suchen. Wenn er Glück hatte, befanden sich dort die Logbücher und gaben endlich preis, wo die Beagle gewesen war und was die Besatzung entdeckt hatte. Falls er sich nicht täuschte, enthielt das Schiff Beweise für eine wissenschaftliche Offenbarung, die den Lauf der Menschheitsgeschichte ändern würde.

Dr. Finchs Stimme knisterte in Emmerichs Ohrstöpsel. »Alpha eins, hier Alpha zwei, hören Sie mich?«

»Ich höre, Alpha zwei.«

»Wir haben die Laborebene erreicht. Sollen wir reingehen?«

»Positiv, Alpha zwei. Machen Sie vorsichtig weiter.«

Emmerich wartete in dem dunklen Gang.

»Alpha eins, wir sehen zwei Untersuchungsräume mit Metalltischen, vielleicht drei Meter lang. Die Räume sind gegen den Austritt von biologischen Stoffen gesichert. In dem Rest des Bereichs stehen lange Reihen von Aufbewahrungsboxen. Sie sehen aus wie große Schließfächer in einem Tresorraum. Sollen wir eine aufmachen?«

»Negativ, Alpha zwei«, sagte Emmerich schnell. »Sind sie nummeriert?«

»Positiv«, sagte Finch.

»Wir müssen die Ladeliste finden.«

»Moment. An jedem Behälter ist eine Metallscheibe.« Eine Pause entstand. »Hinter der Scheibe ist ein Guckloch, wie bei einem Türspion. In dem Behälter hier sind Knochen. Menschlich. Nein, warten Sie. Das kann nicht sein.«

Ein anderer Forscher meldete sich. »In diesem hier ist ein Säugetier, katzenartig. Spezies unbekannt. Es muss lebendig eingefroren worden sein. Es liegt immer noch in Eis.«

Emmerich hörte die Metallscheiben klicken wie den Verschluss einer Kamera, als sie vor und zurück geschoben wurden.

»Alpha eins, Sie sollten hier runterkommen. Es ist wie bei der Arche Noah.«

Emmerich schritt durch die engen Gänge. »Prometheus, hier Alpha eins. Zeichnen Sie Bild und Ton von Alpha zwei, drei und vier auf?«

Als niemand antwortete, blieb Emmerich abrupt stehen. »Prometheus, hier ist Alpha eins, hören Sie mich?«

Er rief ihn ein zweites und drittes Mal. Dann hörte er ein lautes Wummern, und der Boden wackelte unter seinen Füßen.

»Prometheus?«

TAG 1

320 Infizierte

0 Tote

1

Dr. Elim Kibet saß in seinem weiß gestrichenen Büro und sah zu, wie die Sonne über der felsigen Landschaft des nordöstlichen Kenias aufging. Das Mandera Referral Hospital war ein heruntergekommenes Krankenhaus in einer der ärmsten Gegenden der Welt, und vor Kurzem hatte er die Leitung übernommen. Manche an seiner Stelle hätten das als Bürde betrachtet. Für ihn war es eine Ehre.

Hinter seiner geschlossenen Tür durchdrangen Schreie die Stille. Auf dem Flur waren eilige Schritte zu hören, und eine Schwester rief: »Doktor, kommen Sie schnell!«

Es gab keinen Zweifel, welcher Doktor gemeint war. Elim Kibet war der einzige verbliebene Arzt. Die anderen waren nach den Terroranschlägen abgereist. Viele Schwestern hatten sich ihnen angeschlossen. Die Regierung hatte sich geweigert, bewaffnete Wachmänner zu dem ländlichen Krankenhaus zu schicken. Und sie hatte sich nicht an die Vereinbarung gehalten, das medizinische Personal anständig und pünktlich zu bezahlen. Das hatte dazu geführt, dass eine weitere Welle von Angestellten aus der zerfallenden Einrichtung floh. Das Krankenhaus arbeitete jetzt mit einer Rumpfbesetzung. Die Übriggebliebenen hatten entweder keinen Ort, an den sie gehen konnten, oder waren zu engagiert, um abzureisen. Auf Elim Kibet traf beides zu.

Er legte seinen weißen Kittel an und lief durch den Flur auf die Hilferufe zu.

Mandera war eines der ärmsten Countys in Kenia. Das Pro-Kopf-Einkommen betrug 267 Dollar im Jahr – weniger als 75 Cent am Tag. Die staubige, von unbefestigten Straßen durchzogene Provinzhauptstadt lag nahe dem Dreiländereck von Kenia, Somalia und Äthiopien. Die Menschen in Mandera lebten von dem, was das Land hergab, kamen oft nur mühsam über die Runden und erfreuten sich an dem wenigen, das sie hatten. Es war ein Ort von atemberaubender Schönheit und unfassbarer Brutalität.

Die tödlichsten Krankheiten der Welt waren in der Region verbreitet, aber sie stellten dort bei Weitem nicht die größte Bedrohung dar. Al-Shabaab, eine islamistische Terrorgruppe, die zur al-Qaida gehörte, griff regelmäßig Dörfer und Regierungseinrichtungen an. Ihre Erbarmungslosigkeit war erschütternd. Vor weniger als einem Jahr hatten al-Shabaab-Kämpfer vor Mandera einen Bus angehalten und allen Muslimen befohlen auszusteigen. Sie weigerten sich jedoch und umringten stattdessen die christlichen Passagiere. Daraufhin zerrten die Milizionäre alle aus dem Bus – sowohl Christen als auch Muslime –, stellten sie in einer Reihe auf und erschossen sie. Siebenunddreißig Menschen starben an diesem Tag.

Als Elim den schäbigen Flur entlanglief, war das sein erster Gedanke – wieder ein al-Shabaab-Angriff.

Zu seiner Überraschung fand er zwei junge weiße Männer im Untersuchungszimmer vor. Ihr dunkelbraunes Haar war lang und struppig, und aus den dichten Bärten tropfte Schweiß. Der erste Mann stand an der Tür und hielt eine Videokamera in der Hand. Der zweite lag auf dem Untersuchungstisch und wälzte sich mit geschlossenen Augen von einer Seite auf die andere. Ein überwältigender Gestank von Durchfall und Erbrochenem hing in der Luft.

Zwei Schwestern beugten sich über den Mann und führten die Aufnahmeuntersuchung durch. Eine zog ihm das Fieberthermometer aus dem Mund und wandte sich zu Elim. »Vierzig Grad, Doktor.«

Der junge Mann an der Tür ließ die Videokamera fallen und packte Elim am Oberarm.

»Sie müssen ihm helfen!«

Elim riss sich los und schob ihn in die Ecke, weg vom Untersuchungstisch.

»Ja. Halten Sie bitte Abstand.«

Elims erste Diagnose lautete Malaria. Die Krankheit war in tropischen und subtropischen Regionen weit verbreitet, besonders in verarmten Gegenden wie Mandera, das nur vierhundert Kilometer vom Äquator entfernt lag. Weltweit gab es über zweihundert Millionen Infizierte, und jedes Jahr starben fast eine halbe Millionen Menschen an der Krankheit. Neunzig Prozent dieser Todesfälle ereigneten sich in Afrika, wo jede Minute ein Kind an Malaria verstarb. Auch Besucher aus dem Westen fingen sich in Kenia häufig Malaria ein. Aber die Krankheit war behandelbar, und das machte Elim Hoffnung, als er sich blaue Handschuhe überstülpte und mit der Untersuchung begann.

Der Patient war kaum bei Bewusstsein. Sein Kopf rollte von einer Seite zur anderen, während er vor sich hin murmelte. Als Elim das Hemd des Manns hochzog, änderte er seine Diagnose sofort. Ein Ausschlag überzog Bauch und Brust.

Typhus passte besser zu den Symptomen. Die Krankheit war in der Gegend ebenfalls verbreitet. Sie wurde von einem Bakterium hervorgerufen – Salmonella Typhi –, das in offenen Wasserstellen gedieh. Typhus war heilbar. Fluorchinolon –eines der wenigen Antibiotika, die sie vorrätig hatten – würde helfen.

Elims Hoffnung löste sich auf, als der Mann die Lider aufschlug. Gelbe Augen starrten ihn an. Im linken Augenwinkel sammelte sich Blut und rann dem Mann übers Gesicht.

»Treten Sie zurück.« Elim breitete die Arme aus und schob die Schwestern fort.

»Was ist los mit ihm?«, fragte der Freund des Kranken.

»Verlassen Sie den Raum«, sagte Elim.

Die Schwestern zogen sich sofort zurück, aber der junge Mann wich nicht von der Stelle. »Ich lasse ihn nicht allein.«

»Sie müssen.«

»Nein.«

Elim musterte ihn. Irgendwas stimmte hier nicht. Die Kamera, sein Verhalten, die Tatsache, dass die beiden ausgerechnet hier auftauchten.

»Wie heißen Sie?«

»Lucas. Turner.«

»Was machen Sie hier, Mr. Turner?«

»Er ist krank …«

»Nein, was machen Sie in Kenia? Was wollen Sie hier in Mandera?«

»Ein Geschäft aufziehen.«

»Was?«

»CityForge. Dabei geht es um eine Art Crowdfunding für Stadtregierungen«, sagte Lucas wie auswendig gelernt.

Elim schüttelte den Kopf. Wovon redet er?

»Wissen Sie, was er hat?«, fragte Lucas.

»Vielleicht. Sie müssen den Raum verlassen.«

»Auf keinen Fall.«

»Hören Sie mir zu. Ihr Freund hat eine sehr gefährliche Krankheit. Sie ist wahrscheinlich ansteckend. Sie gehen ein hohes Risiko ein.«

»Was ist es denn?«

»Ich weiß nicht …«

»Sie müssen doch eine Idee haben«, beharrte Lucas.

Elim sah sich um und vergewisserte sich, dass die Schwestern gegangen waren. »Marburg«, sagte er leise. Da Lucas nicht reagierte, fügte er hinzu: »Möglicherweise Ebola.«

Aus Lucas’ verschwitztem Gesicht wich die Farbe, wodurch der Kontrast zwischen seinem dunklen Haar und der hellen Haut noch stärker wurde. Er sah zu seinem Freund auf dem Tisch, dann schlurfte er aus dem Zimmer.

Elim ging zum Untersuchungstisch und sagte: »Ich rufe Hilfe. Ich werde alles für Sie tun, was in meiner Macht steht, Sir.«

Nachdem er die Handschuhe abgestreift und in den Mülleimer geworfen hatte, zog er sein Smartphone hervor. Er fotografierte den Ausschlag, bat den Mann, die Augen zu öffnen, schoss ein weiteres Foto und schickte die Bilder an das kenianische Gesundheitsministerium.

Vor der Tür beauftragte er die Schwester, die auf dem Gang wartete, niemanden außer ihn in den Raum zu lassen. Ein paar Minuten später kehrte er mit einem Schutzkittel, Gesichtsmaske, Schuhüberziehern und Schutzbrille zurück. Außerdem hatte er die einzige Behandlung dabei, die er dem Patienten bieten konnte.

Auf einem schmalen Holztisch in dem schäbigen Zimmer reihte er drei Plastikeimer auf. Jeder Eimer trug einen braunen Klebestreifen, auf dem ein einziges Wort stand: Erbrochenes, Kot, Urin. Elim war nicht optimistisch, dass er bei dem Zustand, in dem der Mann sich befand, die austretenden Körperflüssigkeiten voneinander trennen konnte, aber das war die Standardprozedur bei Ebola und ähnlichen Krankheiten, und er hatte die Absicht, sich daran zu halten. Obwohl er kaum Material und wenig Personal hatte, war der afrikanische Arzt entschlossen, dem Patienten die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen. Das war seine Pflicht.

Er reichte dem Mann einen kleinen Pappbecher mit Tabletten – Antibiotika, um Sekundärinfektionen zu bekämpfen – und eine Flasche mit der Aufschrift ORL: orale Rehydratationslösung.

»Schlucken Sie die, bitte.«

Mit zitternder Hand kippte der Mann sich die Tabletten in den Mund und nahm einen kleinen Schluck aus der Flasche. Der Geschmack entlockte ihm ein Stöhnen.

»Ich weiß. Es schmeckt fürchterlich, aber es muss sein. Sie dürfen nicht dehydrieren.«

Im Durchschnitt starb die Hälfte aller Infizierten an Ebola. Selbst wenn das Immunsystem die Krankheit besiegte, führte der Durchfall in der akuten Phase häufig durch Dehydratation zum Tod.

»Ich komme bald zurück«, sagte Elim.

Draußen zog er vorsichtig seine PSA – die Persönliche Schutzkleidung – aus. Er wusste, dass es nicht genügend PSA im Krankenhaus gab, um das ganze Personal, das für die Betreuung des Manns benötigt wurde, zu schützen. Sie brauchten unbedingt mehr Ausrüstung – und Hilfe. In der Zwischenzeit musste Elim den Kranken isolieren und Lucas in Quarantäne halten, bis sie festgestellt hatten, ob er ebenfalls infiziert war.

Der Arzt mittleren Alters erwog gerade seine nächsten Schritte, als die Schwester erneut nach ihm rief.

Er rannte in den Triage-Raum des Krankenhauses, wo er einen weiteren Ausländer vorfand, einen großen weißen Mann, der am Türrahmen lehnte. Er war älter als die anderen beiden, aber wie der Kranke war er blass und verschwitzt und roch nach Durchfall und Erbrochenem.

»Gehört er zu den anderen?«, fragte Elim.

»Weiß ich nicht«, antwortete die Schwester. »Er wurde vom Flughafen hergeschickt.«

»Sir, bitte ziehen Sie Ihr Hemd hoch.«

Der große Mann hob sein Hemd und entblößte einen großflächigen Ausschlag.

Elim machte ein Foto, um es ans Gesundheitsministerium zu schicken. Zu der Aufnahmeschwester sagte er: »Bringen Sie ihn in Untersuchungsraum zwei. Berühren Sie ihn nicht. Halten Sie Abstand. Verlassen Sie den Raum. Niemand darf zu ihm rein.«

Er wählte die Nummer der Notfallzentrale des kenianischen Gesundheitsministeriums. Als die Verbindung zustande kam, sagte er: »Ich rufe aus dem Mandera Referral Hospital an. Wir haben hier ein Problem.«

2

Er war verprügelt worden. Das war sein erster Gedanke beim Aufwachen. Seine Rippen strahlten Schmerz aus. Die Beine taten weh. Er betastete die empfindliche Beule an der linken Seite seines Kopfs und zog schnell die Hand zurück.

Er lag ausgestreckt auf einem frisch gemachten Doppelbett. Die Morgensonne schien durch die dünnen Vorhänge, blendete ihn und fachte den Schmerz in seinem pochenden Kopf weiter an.

Er schloss die Augen und wandte sich ab.

Nach einigen Sekunden öffnete er sie langsam wieder. Neben der silbernen Lampe auf dem Nachttisch lag ein kleiner Schreibblock. Der Briefkopf lautete: Concord Hotel, Berlin.

Er versuchte sich an das Einchecken zu erinnern, aber es gelang ihm nicht. Schlimmer noch, er wusste nicht einmal, welcher Tag es war. Oder warum er in Berlin war. Oder wie er hieß. Was ist passiert?

Er stand auf und humpelte zum Bad. Bei jedem Schritt schmerzten seine Rippen. Er zog sich das blaue Hemd aus der beigefarbenen Hose. Ein Bluterguss bedeckte seine linke Seite; in der Mitte dunkelblau bis schwarz, an den Rändern rot.

Er betrachtete sich im Spiegel. Das Gesicht mit den hohen Wangenknochen war schlank und straff. Dichtes blondes Haar fiel ihm bis auf die Augenbrauen und lockte sich an den Spitzen ein wenig. Er war leicht gebräunt, aber seine Haut und die weichen Hände ließen auf einen Bürojob schließen. Er sah sich die Beule an seinem Kopf an. Sie war groß, aber der Schlag hatte die Haut nicht aufgerissen.

Als er in die Hosentaschen griff, fand er nur einen dünnen Zettel von der Größe einer Visitenkarte. Er zog ihn hervor und untersuchte ihn: eine 20-Prozent-Rabattmarke von einer Trockenreinigung.

Auf die Rückseite hatte er – oder jemand anders – drei Zeilen gekritzelt.

Die erste lautete:

ZDUQH VLH

Die zweite:

7379623618

Die dritte Zeile bestand lediglich aus einer Klammer mit drei Diamanten.

(<><><>)

Irgendein Code.

Sein Kopf tat zu weh, um sich mit Codes zu beschäftigen. Er legte den Zettel auf den Waschtisch und ging durch das Schlafzimmer in den Wohnbereich, wo er abrupt stehen blieb. Ein Mann lag auf dem Boden. Sein Gesicht war blass und grau. Er atmete nicht.

Ein einzelnes weißes Blatt lag neben dem Mann vor der Eingangstür. Es war eine Rechnung für die Suite, die offenbar vor einer Woche angemietet worden war. Darin waren mehrere Lieferungen des Zimmerservice, aber nichts aus der Minibar aufgeführt.

Oben auf der Rechnung stand der Name des Gastes. Desmond Hughes. Er erkannte sofort, dass es sein Name war. Aber die Flut von Erinnerungen blieb aus.

Der Mann auf dem Boden war schlank und groß. Sein kurz geschnittenes graues Haar dünnte sich schon aus. Er trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd ohne Krawatte. Um seinen muskulösen Hals verlief ein Ring aus Blutergüssen.

Desmond kniete neben der Leiche nieder und wollte in die Hosentaschen des Manns greifen, doch dann hielt er instinktiv inne. Er zog den kleinen Mülleimer unter dem Schreibtisch hervor, nahm den Plastikbeutel heraus und stülpte ihn sich über die Hand, um keine Fingerabdrücke oder DNS-Spuren zu hinterlassen.

Der Mann hatte ein Portemonnaie und einen Plastikausweis der Firma Rapture Therapeutics in der Tasche. Auf der ID-Karte war keine Berufsbezeichnung angegeben, nur ein Name: Gunter Thorne. Das Foto passte zu dem bleichen Gesicht, das mit der Wange auf dem dünnen Teppich lag. Sein deutscher Personalausweis und die Kreditkarten waren alle auf denselben Namen ausgestellt.

Desmond schob die Gegenstände wieder in die Taschen und schlug vorsichtig das Revers des Anzugs zurück. In einem Schulterholster steckte eine schwarze Pistole.

Als Desmond sich auf den Hintern sinken ließ, verstärkte sich der Schmerz in seinen Beinen. Er stand auf, dehnte sie und sah sich im Zimmer um. Es war makellos sauber. Eindeutig vor Kurzem gereinigt worden. Er durchsuchte es, fand aber keinerlei weitere Hinweise. Es gab kein Gepäck, und im Schrank hingen keine Kleidungsstücke. Der kleine Safe stand offen und war leer. Nicht einmal Toilettenartikel lagen herum.

Er überprüfte noch einmal die Rechnung. Keine Anrufe.

Was hatte das alles zu bedeuten? Es schien, als wäre er nur hergekommen, um zu essen. Oder um sich zu verstecken. Wohnte er in Berlin? Wenn Gunter Thornes Leiche nicht im Wohnzimmer gelegen hätte, hätte Desmond schon den Empfang angerufen und sich ein anständiges Krankenhaus empfehlen lassen. Aber das war jetzt unmöglich, solange er nicht mehr Informationen hatte. Es gab nur einen einzigen Hinweis.

Er ging zurück ins Bad und holte den Coupon mit den Buchstaben und Zahlen auf der Rückseite. Als er ihn ansah, kam ihm ein Gedanke bezüglich der Klammern. In Geschäftsberichten bezeichneten sie eine negative Summe – einen Verlust. Einen Abzug von einer Bilanz.

Woher wusste er das? Arbeitete er im Finanzwesen?

Er setzte sich aufs Bett und nahm den Block vom Nachttisch. Also minus drei. Ja – die untere Zeile musste der Schlüssel sein, die ersten beiden die Nachricht. Plötzlich tauchte der Name des Codes in seinem Kopf auf: eine einfache monoalphabetische Substitution. Und mehr noch, es war eine Caesar-Verschlüsselung, die Methode, die Julius Caesar für seine geheime Korrespondenz verwendet hatte.

Desmond ging bei jedem Buchstaben drei Stellen im Alphabet zurück und zog von den Zahlen jeweils drei ab. Das ergab:

WARNE SIE

4046390385

Er setzte Striche hinter die dritte und sechste Ziffer.

404-639-0385

Warne sie. Und eine Telefonnummer. Wovor sollte sie gewarnt werden? Durch den Durchgang zwischen Schlafzimmer und Wohnbereich betrachtete er Gunter Thornes Leiche. Vielleicht war Rapture Therapeutics – oder wer auch immer Gunter in das Hotelzimmer geschickt hatte – auch hinter »ihr« her. Oder vielleicht gab es gar keinen Zusammenhang. Oder vielleicht hatte Desmond all das arrangiert, um Gunter in die Falle zu locken. Sie könnte eine Komplizin von ihm sein. So oder so wusste sie vielleicht etwas.

Desmond nahm den Hörer ab und wählte.

Beim dritten Klingeln meldete sich eine Frau mit benommener Stimme. »Shaw.«

»Hallo. Hier ist … Desmond. Hughes.«

»Hallo.« Sie klang jetzt wacher.

»Hi.« Er hatte keine Ahnung, wie er anfangen sollte. »Haben Sie … meinen Anruf erwartet?«

Sie seufzte in den Hörer. Er hörte ein Rascheln, vielleicht setzte sie sich auf.

»Was soll das, Desmond?«

»Kennen wir uns?«

Ihr Tonfall war jetzt traurig. »Das ist nicht lustig, Des.«

»Hören Sie, ich … können Sie mir einfach sagen, wer Sie sind? Wo Sie arbeiten? Bitte.«

Eine Pause entstand.

»Peyton Shaw.«

Als er nichts sagte, fügte sie hinzu: »Ich arbeite jetzt beim CDC. Ich bin Epidemiologin.«

Aus dem Wohnzimmer ertönte ein Pochen – jemand klopfte dreimal fest an der Tür.

Desmond dachte nach. Die Uhr auf dem Tisch zeigte 7:34. Zu früh für die Zimmerreinigung.

»Hallo?«, sagte Peyton.

Wieder klopfte es dreimal, dieses Mal lauter, dann sagte eine tiefe Männerstimme auf Deutsch: »Polizei.«

»Hören Sie, Peyton. Ich glaube, Sie sind in Gefahr.«

»Was? Wovon redest du?«

Weiteres beharrliches Klopfen an der Tür, so laut, dass es die Gäste in den Nebenzimmern wecken musste. »Polizei! Herr Hughes, bitte öffnen Sie die Tür.«

»Ich rufe Sie später wieder an.«

Er legte auf und rannte zur Tür, ohne auf den Schmerz in seinem Bein zu achten. Durch den Spion sah er zwei uniformierte Polizeibeamte neben einem Mann in dunklem Anzug – wahrscheinlich vom Sicherheitsdienst des Hotels.

Der Hotelangestellte hielt eine Schlüsselkarte vor das Schloss.

3

In Atlanta setzte sich Dr. Peyton Shaw mit dem schnurlosen Telefon am Ohr im Bett auf. »Desmond?«

Die Verbindung war unterbrochen.

Sie legte auf und wartete, dass Desmond erneut anrief.

Es war 1:34 Uhr am Samstagmorgen, sie war allein zu Hause und hatte seit über drei Stunden geschlafen. Aber jetzt war sie hellwach. Und beunruhigt.

Sie verspürte den Drang, sich in der Zwei-Zimmer-Eigentumswohnung umzusehen, um sich zu vergewissern, dass wirklich niemand sonst da war. Seit sie mit Mitte zwanzig nach Atlanta gezogen war, hatte sie die ganze Zeit allein gewohnt, und bis auf wenige Ausnahmen hatte sie sich immer sicher gefühlt.

Sie nahm das Handy, stand von dem niedrigen Bett auf und trat wachsam aus ihrem Schlafzimmer. Alle paar Sekunden quietschten die kalten Holzdielen unter ihren nackten Füßen. Die Wohnungstür war geschlossen und der Riegel vorgelegt. Die Tür zum zweiten Zimmer, das sie als Büro benutzte, war ebenfalls zu, sodass man von dem offenen Wohn-Ess-Bereich aus nicht hineinsehen konnte. Sie hatte festgestellt, dass Fotos von Pandemien überall auf der Welt sowohl für ihre Freundinnen als auch für Herrenbesuch ein echter Stimmungskiller waren, deshalb ließ sie die Bürotür immer geschlossen.

Aus dem deckenhohen Fenster im Wohnzimmer sah sie auf die Peachtree Street, die zu dieser Stunde fast verlassen war. Sie fröstelte vor der Scheibe; es war kälter als Ende November üblich.

Sie wartete und hoffte noch immer, dass das Festnetztelefon klingeln würde. Schon oft hatte sie überlegt, den Anschluss zu kündigen, aber ein paar Leute hatten immer noch die Nummer, und aus unerfindlichen Gründen waren Kabelfernsehen und Internet billiger, wenn man einen Festnetzanschluss besaß.

Sie strich sich durch das schulterlange braune Haar. Ihre Mutter war halb Chinesin, halb Deutsche, und Peyton hatte die gleiche porzellanartige Haut. Sie wusste nicht genau, was sie von ihrem englischen Vater geerbt hatte, der gestorben war, als sie sechs war.

Sie ließ sich auf das graue Stoffsofa fallen und zog die kalten Füße unter den Po. Mit ihrem Handy tat sie etwas, das sie schon lang nicht mehr gemacht hatte – und mit dem aufzuhören sie sich geschworen hatte: Sie öffnete Google und suchte nach Desmond Hughes. Desmonds Stimme zu hören hatte sie erschüttert. Seine Warnung – Sie sind in Gefahr – ging ihr nicht aus dem Kopf.

Der erste Treffer war die Website von Icarus Capital, einer Risikokapitalgesellschaft. Desmond war auf der Seite Unser Team als Gründer und geschäftsführender Teilhaber an erster Stelle aufgeführt. Sein Lächeln wirkte selbstsicher, fast arrogant.

Sie klickte auf die Seite Investments und las die Einführung:

Es heißt, die Gegenwart sei das Maß aller Dinge. Wir bei Icarus Capital sind anderer Meinung. Wir glauben, die Zukunft ist das Entscheidende. Das ist es, worin wir investieren: die Zukunft. Genauer gesagt investieren wir in Menschen, die die Zukunft erfinden. Hier ist eine Auswahl dieser Menschen und ihrer Firmen. Wenn Sie die Zukunft erfinden, kontaktieren Sie uns. Wir wollen Ihnen helfen.

Peyton überflog die Liste der Firmen: Rapture Therapeutics, Phaethon Genetics, Rendition Games, Cedar Creek Entertainment, Rook Quantum Sciences, Extinction Parks, Labyrinth Reality, CityForge und Charter Antarctica.

Sie kannte keine davon.

Sie klickte in den Suchergebnissen auf den nächsten Link, der zu einem Video von Desmond bei einer Konferenz führte. Ein Moderator stellte aus dem Off eine Frage: »Icarus hat in einen sehr breit gefächerten Mix von Start-ups investiert, Pharma, Biotechnik, Virtual Reality, Grid-Computing und sogar Extremtourismus an Orten wie der Antarktis. Was ist die Verbindung zwischen all diesen Feldern? Können Sie den Unternehmern im Publikum sagen, was Sie an einem Start-up interessiert?«

Desmond hob in seinem Sessel das Mikrofon und antwortete ruhig, aber mit ansteckender Begeisterung. Seine Mundwinkel waren zu einem leichten Lächeln hochgezogen. Er sah konzentriert und ohne zu blinzeln in die Kamera.

»Nun, wie Sie schon sagen, es ist schwierig, genau zu definieren, nach welcher Art von Firma Icarus sucht. Ich kann Ihnen aber verraten, dass jede Einzelne unserer Investitionen Teil eines größeren, koordinierten Experiments ist.«

Der Moderator zog die Brauen hoch. »Interessant. Was für ein Experiment?«

»Es ist ein wissenschaftliches Experiment – eines, das eine sehr wichtige Frage beantworten soll.«

»Und zwar?«

»Warum existieren wir?«

Der Moderator tat überrascht und wandte sich an die Zuschauer. »Sonst nichts?«

Das Publikum lachte, und Desmond schloss sich an.

Er beugte sich in seinem Sessel vor, warf dem Moderator einen Blick zu, dann sah er wieder in die Kamera. »Okay, ich nehme an, dass viele von Ihnen – im Publikum und zu Hause – sagen würden, die Antwort auf diese Frage ist einfach: Wir existieren, weil die physikalischen Eigenschaften dieses Planeten die Entstehung von Leben begünstigen. Die Umweltbedingungen auf der Erde haben uns sozusagen zwangsläufig hervorgebracht. Das stimmt, aber die eigentliche Frage ist warum? Warum begünstigt das Universum die Entstehung von Leben? Zu welchem Zweck? Was ist die Bestimmung der Menschheit? Ich glaube, darauf gibt es eine Antwort.«

»Wow. Sie klingen fast wie ein gläubiger Mensch.«

»Das bin ich auch. Ich glaube fest daran, dass um uns herum ein gewaltiger Prozess abläuft, dass es ein größeres Bild gibt, von dem wir bisher nur einen winzigen Ausschnitt gesehen haben.«

»Und Sie glauben, die Technologie, die Icarus finanziert, wird diese ultimative Wahrheit hervorbringen?«

»Ich würde mein Leben darauf verwetten.«

Peyton war gerade wieder eingeschlafen, als ein Geräusch vom Nachttisch sie weckte. Sie lauschte starr, aber es endete plötzlich.

Dann setzte es von Neuem ein: Etwas rüttelte am Tisch.

Eine Vibration.

Hinter der Lampe tauchte ein Licht auf, das zur Decke strahlte.

Peyton atmete aus, nahm das summende Handy und sah auf die Uhrzeit – 3:55. Sie erkannte zwar die Nummer nicht, aber die Vorwahl. 41. Die Schweiz.

Sofort meldete sie sich.

»Peyton, Entschuldigung, dass ich dich wecke«, sagte Dr. Jonas Becker.

Der deutsche Epidemiologe leitete ein Notfallteam zur Seuchenbekämpfung für die WHO. Peyton ging bei der amerikanischen Seuchenschutzbehörde einer ähnlichen Tätigkeit nach. Die beiden hatten oft in den Krisengebieten der Welt zusammengearbeitet, und im Laufe der Zeit hatte sich eine besondere Beziehung zwischen ihnen entwickelt.

»Schon gut«, sagte sie. »Was ist passiert?«

»Ich habe dir gerade eine Mail geschickt.«

»Warte kurz.«

Peytons nackte Füße tapsten über den Holzboden, als sie ins Arbeitszimmer lief. Sie setzte sich an den billigen Ikea-Schreibtisch, weckte ihren Laptop auf und startete die VPN-Software, die eine sichere Verbindung zu ihrem Server beim CDC herstellte.

Sie betrachtete die Fotos in der E-Mail und ließ sich kein Detail entgehen.

»Ich sehe es«, sagte sie.

»Das kenianische Gesundheitsministerium hat uns das vor ein paar Stunden geschickt. Ein Arzt in einem Krankenhaus in Mandera hat die Fotos gemacht.«

Peyton hatte noch nie von Mandera gehört. Sie öffnete Google Maps und sah, dass es im äußersten Nordosten Kenias lag, gleich an der Grenze zu Somalia und Äthiopien. Es war der schlimmstmögliche Ort für einen Ausbruch.

»Es ist offensichtlich ein hämorrhagisches Fieber«, sagte Jonas. »Riftalfieber ist in der Gegend verbreitet. Und Ebola und Marburg. Nach dem Ebola-Ausbruch in Westafrika nehmen das hier alle sehr ernst. Ich wurde schon vom Büro des Generaldirektors angerufen.«

»Sind das die einzigen bekannten Fälle?«

»Im Moment ja.«

»Was wissen wir über sie?«, fragte Peyton.

»Nicht viel. Alle drei Männer sagen, sie wären Ausländer, die nur zu Besuch im Land sind.«

Das weckte Peytons Interesse.

»Die beiden jüngeren Männer sind Amerikaner. Sie haben vor Kurzem ihren Abschluss an der UNC-Chapel Hill gemacht. Sie sind als Mitarbeiter eines Start-ups nach Kenia gekommen. Der andere Mann stammt aus London. Er arbeitet für eine englische Firma, die Radarsysteme installiert.«

»Was für Radarsysteme?«

»Zur Luftüberwachung. Er hat am Flughafen von Mandera gearbeitet, als er krank wurde.«

»Da gibt es einen Flughafen?«

»Nichts Besonderes. Bis vor ein paar Monaten war es nur eine Landepiste aus Lehm. Die Regierung hat die Landebahn asphaltieren und neues Equipment anschaffen lassen. Er wurde letzte Woche neu eröffnet.«

Peyton massierte sich die Schläfen. Ein funktionierender Flughafen in einem Seuchengebiet kam einem Albtraum gleich.

»Wir holen Erkundigungen über den Flughafen ein – über den Verkehr, wer bei der Eröffnungsfeier war und welche Ausländer noch an dem Projekt gearbeitet haben. Wir haben auch schon die Gesundheitsbehörden in England kontaktiert, und sie bearbeiten den Fall. Da ist es jetzt acht Uhr vierzig, also werden sie sich bald mit der Familie und den Arbeitskollegen des Manns in Verbindung setzen. Wenn wir wissen, wie lang er schon in Kenia ist, entscheiden wir, ob sie in Quarantäne müssen.«

Peyton überflog die E-Mail und fand die Namen der beiden jüngeren Männer. »Wir fangen an, die Kontakte der Amerikaner zu überprüfen, und stellen einen Plan auf, wann die beiden wo gewesen sind. Was können wir sonst noch tun?«

»Das wär’s erst mal. Die Kenianer haben noch nicht darum gebeten, aber wenn es so läuft wie in Westafrika, kann man davon ausgehen, dass sie eine Menge Hilfe brauchen.«

Hilfe bedeutete Geld und Ausrüstung. Während des Ebola-Ausbruchs in Westafrika hatte das CDC Hunderte von Leuten entsandt und Equipment zur Verfügung gestellt, unter anderem PSA, Tausende von Leichensäcken und zahllose Testsets.

»Ich rede mit Elliott«, sagte Peyton. »Wir informieren das Außen- und das Entwicklungshilfeministerium.«

»Eine Sache noch. Wir hatten hier gerade unser Sicherheitsbriefing. Mandera County ist ein sehr gefährlicher Ort. In der Gegend operiert eine Terrororganisation namens al-Shabaab. Sie ist genauso brutal wie der IS und kein Freund der Amerikaner. Wenn ihr in der Gegend seid, könnte es noch gefährlicher werden. Wir kommen heute Nacht in Nairobi an, aber ich dachte mir, wir warten auf euer Team. Wir können eine kenianische Militäreskorte nehmen und zusammen nach Norden reisen.«

»Vor Sonntag können wir wahrscheinlich nicht da sein.«

»In Ordnung, wir warten. Es gibt in Nairobi eine Menge für uns zu tun.«

»Gut. Danke, Jonas.«

»Gute Reise.«

Peyton legte das Handy auf den Schreibtisch, stand auf und betrachtete die Weltkarte an der Wand. Bunte Stecknadeln sprenkelten die Kontinente. Jede Nadel markierte einen Ausbruch, bis auf eine. Im Osten Ugandas, an der Grenze zu Kenia, steckte mitten im Mount-Elgon-Nationalpark eine silberne Reversnadel. Sie stellte einen von einer Schlange umwundenen Stab dar – das traditionelle Symbol der Medizin, den Äskulapstab, den man auch im Star of Life auf Krankenwagen sah. Die Nadel hatte Peytons Bruder Andrew gehört. Andrew war derjenige, der sie inspiriert hatte, Epidemiologin zu werden, und sie trug die Nadel auf allen Auslandseinsätzen bei sich. Sie war alles, was ihr von ihm geblieben war.

Sie zog das silberne Andenken aus der Karte, steckte es in die Tasche und markierte das Dreiländereck von Kenia, Äthiopien und Somalia mit einer roten Nadel als Ausbruchsort eines viralen hämorrhagischen Fiebers.

Sie hatte immer zwei gepackte Reisetaschen bereitstehen: eine für die Erste und eine für die Dritte Welt. Sie nahm die Dritte-Welt-Tasche und packte die nötigen Stromadapter für Kenia dazu.

Sobald die Lage sich etwas beruhigte, würde sie ihre Mutter und ihre Schwester anrufen müssen, um ihnen mitzuteilen, dass sie einen Einsatz hatte. In vier Tagen war Thanksgiving, und Peyton hatte das Gefühl, sie würde es verpassen.

Auch wenn sie es nur ungern zugab, war Peyton auf gewisse Weise erleichtert. Außer Madison hatte sie nun keine Geschwister mehr. Durch den Tod ihres Bruders waren sie sich nähergekommen, aber in letzter Zeit hatte jede Unterhaltung mit ihrer Schwester damit geendet, dass Madison sie fragte, warum sie sich nicht mit Männern traf, und darauf herumritt, dass ihre Chancen, eine Familie zu gründen, rapide sanken. Da sie schon achtunddreißig war, musste sie ihr in diesem Punkt recht geben, aber sie war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt eine Familie wollte. In Wahrheit wusste sie nicht einmal genau, was sie von ihrem Leben neben dem Beruf überhaupt erwartete. Die Arbeit war zu ihrem Leben geworden, und sie glaubte, etwas Wichtiges zu tun. Es gefiel ihr, mitten in der Nacht angerufen zu werden. Sie mochte das Rätsel, das jeder Ausbruch mit sich brachte, und das Wissen, dass sie mit ihrer harten Arbeit Menschenleben rettete, dass jede Sekunde zählte.

Und jetzt tickte wieder die Uhr.

Unten auf der Straße saß ein Mann im Auto und beobachtete, wie Peyton aus der Tiefgarage fuhr.

Während er den Lenker einschlug, sprach er über die offene Leitung. »Zielperson verlässt das Haus. Keine Besuche. Keine SMS. Nur ein Anruf – von ihrem Kontakt bei der WHO.«