Lust auf mehr?

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Erstes Kapitel

Mitten in der Nacht wacht Pauline auf. Irgendetwas stimmt nicht, fühlt sich falsch an. Ihre Kniekehle? Die juckt, aber das tut sie oft. Hat Pauline Durst? Nein, das auch nicht. Es ist das Bett. Pauline liegt im falschen Bett! Mit einem Ruck setzt sie sich auf. Ihr Nachtlicht – ein lächelnder Mond – blinzelt ihr freundlich zu, aber Pauline ist wütend. Sie will nicht in ihrem Bett schlafen, sie will in Mamas Bett schlafen, wie immer. Dass sie dort eingeschlafen ist, daran erinnert sie sich. Also muss Mama sie in ihr eigenes Bett getragen haben. Dabei sagt sie doch immer, Pauline sei ihr viel zu schwer.

Pauline nimmt ihr Kissen, beißt in den Zipfel, der schon ganz durchgekaut ist, und macht sich auf den Weg in Mamas Bett.

Die Tür zum Wohnzimmer steht einen Spalt auf und durch diesen Spalt fällt Licht. Mama ist also noch wach. Sie sieht fern, Pauline kann Stimmen hören.

»Gleich ist der Bart ab!«

»Halt doch mal still!«

»Hihi, das kitzelt!«

Scheint ein lustiger Film zu sein. Auf Zehenspitzen geht Pauline zur Tür und schielt vorsichtig durch den Spalt. Mama kann es nämlich überhaupt nicht leiden, wenn Pauline immer wieder aufsteht.

Aber der Fernseher ist gar nicht an. Trotzdem hört Pauline eine fremde Stimme, eine Stimme, die eindeutig nicht ins Wohnzimmer gehört.

»Und was bekomme ich jetzt zur Belohnung?«, sagt die Stimme. »Einen Kuss?«

Pauline macht die Tür ein Stück weiter auf. Mama steht mitten im Zimmer und küsst einen Mann mit weißem Bart, roter Zipfelmütze, roter Jacke, roter Hose und schwarzen Stiefeln.

Pauline öffnet schon den Mund zu einem Schrei. Mama soll niemanden küssen! Jedes Mal, wenn Mama bisher einen fremden Mann geküsst hat, hat Pauline geschrien. So lange geschrien, bis der fremde Mann nie mehr wiedergekommen war.

Aber dieser Mann, dem Mama jetzt den Bart krault, ist kein fremder Mann. Es ist der Weihnachtsmann!

Und wenn der Weihnachtsmann da ist, muss man ein Gedicht aufsagen. Pauline zupft ihren Pyjama glatt, holt tief Luft und beginnt: »Von drauß’ vom Walde komm ich her …«

Mama und der Weihnachtsmann fahren auseinander. An Mamas Mund kleben ein paar weiße Bartfusseln, und der Weihnachtsmann hat Lippenstift im Gesicht.

»Pauline … ich dachte … ich …«, stottert Mama. Dann setzt sie ihr strenges Gesicht auf, was ihr wegen der Fusseln am Mund nicht ganz gelingt. »Warum schläfst du nicht?«

»Warum küsst du den Weihnachtsmann?«, fragt Pauline zurück.

Mama sieht den Weihnachtsmann an, der sieht Pauline an, lächelt und sagt: »Ich bin nicht der Weihnachtsmann, ich bin …«

Weiter kommt er nicht, denn Mama tritt ihm auf den Fuß. Pauline hat es genau gesehen. Mama muss ganz schön mutig sein, dem Weihnachtsmann einfach so auf den Fuß zu treten. »Komm mal her, Paulchen«, sagt Mama jetzt und zieht Pauline zu sich aufs Sofa. »Das ist nämlich so …«

»Ist er nun der Weihnachtsmann, ja oder nein?«, kürzt Pauline die langweilige Erklärung ab, die Mama gerade los werden will.

»Nein!«, sagt der Weihnachtsmann.

»Ja!«, sagt Mama und sieht aus, als hätte sie dem Weihnachtsmann am liebsten noch einmal auf den Fuß getreten, aber der hat sich außer Mamas Reichweite in einen Sessel gesetzt. »Natürlich ist er der Weihnachtsmann, sieht man das nicht?«, fragt Mama.

Pauline nickt.

»Aber er will natürlich nicht, dass alle mitbekommen, dass er bei uns zu Besuch ist, verstehst du?«

»Nein«, sagt Pauline.

»Was glaubst du wohl, was los ist, wenn du morgen in der Schule erzählst, dass heute, vier Wochen vor Heiligabend, der Weihnachtsmann bei dir war?«

»Die werden ganz schön neidisch sein«, sagt Pauline. Vor allem ihre Freundin Hanna, die würde einen schmalen Mund machen, sich umdrehen und sagen: »Du bist nicht mehr meine Freundin.« Peng!

»Na, siehst du, mein Paulchen, und bei mir im Büro wären sie auch neidisch, und nebenan die Frau Kahlwinkel erst, es ist nämlich etwas ganz, ganz Besonderes, wenn der Weihnachtsmann vor Weihnachten zu einem kommt«, sagt Mama.

»Und warum tut er das?«, fragt Pauline. »Hat er Geschenke dabei?« Sie sieht nämlich keine, nur eine Aktentasche, und die scheint leer zu sein.

»Der Weihnachtsmann ist zu uns gekommen, weil …« Mama guckt den Weihnachtsmann fragend an.

»… weil ich Hilfe brauche«, sagt der. »Als Weihnachtsmann hat man es heutzutage ziemlich schwer, es gibt jedes Jahr so viel neues Spielzeug, allein die vielen tausend Sorten Puppen oder Kuscheltiere. Wenn da ein Kind auf seinen Wunschzettel schreibt: Die Sowieso-Puppe oder den XY-Bagger, dann stehe ich im Kaufhaus vor den Regalen und weiß nicht weiter. Und mir ist zu Ohren gekommen, dass du dich mit Spielsachen richtig gut auskennst.«

Pauline nickt eifrig.

»Und vielleicht hast du Lust, mich morgen nachmittag zu begleiten, ich habe ein paar Wunschzettel da drin …«, der Weihnachtsmann zeigt auf seine Aktentasche, »… die ich ehrlich gesagt nicht verstehe. Hilfst du mir?«

Dumme Frage, natürlich wird Pauline dem Weihnachtsmann helfen, und es ist wirklich sehr vernünftig von ihm, sie um Hilfe zu bitten und nicht irgendein anderes Kind. Wenn sie nur an Vanessa denkt, die kann die Rapunzel-Barbie nicht von der Dornröschen-Barbie unterscheiden, so blöd ist die. Die einzige außer Pauline, die alles über Spielsachen weiß, ist Hanna, weil die nämlich alle Spielsachen der Welt hat, aber das verrät Pauline dem Weihnachtsmann natürlich nicht.

»Hast du denn Zeit?«, fragt Mama den Weihnachtsmann.

»Morgen ist doch mein freier Nachmittag«, erwidert der.

Pauline findet es nicht richtig, dass Mama den Weihnachtsmann einfach duzt und überhaupt: »Warum hast du den Weihnachtsmann geküsst, Mama?«

Mama hustet, dann sagt sie: »Ach, das war nur, weil … ich habe mich einfach so gefreut für dich, das ist doch eine große Ehre, wenn der Weihnachtsmann einen persönlich um Hilfe bittet, oder nicht?«

Pauline zuckt mit den Schultern. »Schon, aber ich gehe nur mit ihm mit, wenn du versprichst, den Weihnachtsmann nie wieder zu küssen! Weihnachtsmänner küsst man nicht.«

Jetzt hustet der Weihnachtsmann. Und Mama sagt schnell: »Versprochen, aber nun wird geschlafen.«

»Nur, wenn ich in dein Bett darf«, sagt Pauline und beißt wieder in ihr Kissen.

Pauline geht erst wieder ins Bett, als der Weihnachtsmann seine Aktentasche genommen und aus der Tür gegangen ist. Nicht, dass er noch einmal auf die Idee mit dem Küssen verfällt. Dann zupft sie Mama die Weihnachtsmannbarthaare vom Kinn und gibt ihr einen Kuss. Einen langen, schmatzenden, einen, der nicht fusselt.

Zweites Kapitel

»Mama! Mama!« Pauline rüttelt Mama an der Schulter. »Du musst aufwachen, der Wecker hat geklingelt!«

Mama grunzt.

»Mama!«, ruft Pauline verzweifelt. »Ich komm zu spät zur Schule!«

»Dann zieh dich doch schon mal an«, brummelt Mama unter der Decke.

»Aber was soll ich denn anziehen?«

Mama hebt den verstrubbelten Kopf. »Ach, Paulchen, du bist doch groß genug, um dir deine Sachen rauszusuchen.«

Doch dann steht sie auf, tappt in Paulines Zimmer und kommt mit Unterhose und Unterhemd, Strümpfen, Pullover und Hose zurück.

»Nicht den Pulli!«, sagt Pauline. »Der kratzt.«

»Seit wann das denn? Ich denke, das ist dein Lieblingspulli.«

Es war Paulines Lieblingspulli, bis gestern. Da hatte sich Hanna über sie lustig gemacht: »Mit diesem Teddypulli siehst du aus wie ein Baby, fehlt nur noch der Schnuller.«

»Ich will den grünen anziehen!«, sagt Pauline.

»Den hab ich gestern erst gewaschen, der ist noch feucht«, sagt Mama. »Du ziehst jetzt den an, basta!«

»Nein! Nein! Und nochmals nein!« Pauline brüllt. »Den grünen oder keinen.«

»Warum gebe ich dir bloß immer nach«, seufzt Mama, als sie mit dem Föhn Kragen und Ärmelbündchen des grünen Pullis trocken pustet.

»Weil du mich lieb hast«, sagt Pauline und beißt in ihr Honigbrot.

»Ach ja, die Liebe«, sagt Mama und schaut auf die Uhr. »Denk dran, nicht ich hole dich heute nach der Schule ab, sondern …«

»… der Weihnachtsmann«, sagt Pauline, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.

 

Als Pauline die Klasse betritt, thront Hanna auf ihrem Tisch und macht sich mal wieder furchtbar wichtig. »Mein Papa zeigt mir heute, wie man rückwärts Schlittschuh läuft.«

Pauline kocht vor Wut. Ständig gibt Hanna damit an, was ihr toller Vater ihr alles beibringt: Wie man vom Dreimeterbrett springt, im Kopf rechnet, Parkuhren austrickst… »Und mich holt heute der Weihnachtsmann ab, nur mich!«, ruft Pauline.

»Erzähl keinen Müll«, sagt Hanna.

»Es stimmt aber!«, beharrt Pauline. »Ich soll ihm helfen. Er versteht die Wunschzettel nicht. Er ist ja auch schon ziemlich alt.«

»Ich lach mich schlapp«, sagt Hanna. »Du glaubst wirklich noch an den Weihnachtsmann?«

»Ich auch«, ruft Nathalie. »Ich hab ihn sogar schon mal gesehen.«

»Also der Weihnachtsmann, der letztes Jahr bei uns war, der war bestimmt nur gemietet«, erzählt Vanessa. »Der hatte nämlich Hundekacke am Schuh und ich hab genau gehört, wie meine Mutter hinterher gesagt hat, dass sie ihm die Teppichreinigung von seinem Geld abzieht.«

»Der echte Weihnachtsmann kommt eben nur zu netten Kindern«, sagt Kevin und streckt Vanessa die Zunge raus.

»Und selbst wenn er nur die Braven beschenkt«, sagt Hanna. »Wie bitte soll ein einziger Mensch das in einer Nacht schaffen?«

»Der Weihnachtsmann ist kein Mensch!«, ruft Pauline verzweifelt. »Er ist … er ist …« Ja, was ist er bloß, so was wie ein Engel? Oder ein Heiliger? Aber die haben so einen goldenen Reifen auf dem Kopf und den hat der Weihnachtsmann nicht.