Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Unter Mitarbeit von Walther Lücker
Mit 56 Schwarzweiß- und 85 Farbfotos
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen ungekürzten NG-Taschenbuchausgabe
4. Auflage Juni 2013
ISBN 978-3-492-95974-2
1. Auflage Mai 2009
nach der Piper Taschenbuchausgabe, 6. Auflage, März 2007
© Piper Verlag GmbH, München 1999
Covergestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München
Covermotiv und Fotos im Inhalt: Archiv Hans Kammerlander
Karte: Atelier Funk, München
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Vorwort
Wo ist der Wind, wenn er nicht weht?
(Tibetisches Sprichwort)
Im November 1997 hielt ich im bayerischen Teisendorf einen Diavortrag. Als ich die Leinwand abgebaut und die Projektoren wieder verstaut hatte, saßen wir noch zwei Stunden in einer gemütlichen Runde beisammen. Ich erzählte – ganz ohne Bilder – noch ein paar Geschichten aus den Bergen. Manches stimmte nachdenklich, vieles erregte Heiterkeit. Mir gegenüber saß eine Frau mittleren Alters. Irgendwann beugte sie sich vor und sagte halblaut zu mir: »Ach Hans, schreiben Sie das doch alles mal auf.«
Diesen Satz hatte ich ein halbes Jahr zuvor schon einmal gehört. Damals war es mein Freund Sigi Pircher, der sagte: »Erzähl es nicht immer nur, schreib’ es halt einmal auf.« Nun gibt es in meinem prallen Leben Dinge, die ich ohne Zweifel besser kann, als etwas aufschreiben. Dazu gehört zum Beispiel die Fähigkeit, Tasten einer Schreibmaschine zu verwechseln und die Untiefen einer Computer-Festplatte nie begreifen zu wollen. Erzählen ist eine Sache, all die vielen Erlebnisse jedoch zu Papier zu bringen eine andere. Es ist über zehn Jahre her, seit Abstieg zum Erfolg zum ersten Mal erschienen ist. Mein Erstlingswerk, das ich seinerzeit mit Werner Beikircher zur Druckreife brachte, war lange vergriffen, ist inzwischen aber wieder in einer überarbeiteten Taschenbuchausgabe erhältlich. Schreib’s auf – diese Aufforderung verfolgte mich in Südtirol und begleitete mich in den Himalaya.
Im Februar 1998 wählte ich eine Telefonnummer in Salzburg. Ich lud meinen Freund, den Journalisten Walther Lücker, ein, mich im Tauferer Ahrntal zu besuchen. Viel mehr sagte ich nicht. Als wir dann beim Abendessen saßen und ich wieder einmal zu erzählen begann, kam, was kommen mußte. Walther sagte: »Schreib’s halt auf.« Und ich antwortete: »Schreib’ du es doch auf.« Er schaute mich erstaunt an, dann fragte er: »Wo fangen wir an, bei Adam oder Eva, in den Dolomiten oder am Everest?«
Der Rest bedurfte nur noch vieler Worte und Unmengen an Papier. Walther flog kurzentschlossen im selben Frühjahr mit unserer Expedition zum Kangchendzönga, dem dritthöchsten Berg der Erde. Doch dazu kommen wir gleich. Jedenfalls wurden wir in den folgenden Wochen und Monaten zu einer bemerkenswerten Seilschaft. Wir stiegen zusammen in die randvolle Schublade meiner Erinnerungen, kletterten in die alpine Geschichte und seilten uns ängstlich über schwierige Passagen in meine Gefühlswelt ab. Erzählen und schreiben wurden eines und plötzlich ganz einfach. Ich erinnerte mich an den Schlußsatz eines beeindruckenden Films: »Am Ende fließt alles zusammen und in der Mitte entspringt ein Fluß«.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Mitarbeitern des Verlages bedanken, die das Entstehen dieses Buches mit soviel Aufmerksamkeit begleitet haben. Allen voran bei Dr. Klaus Stadler für seine unschätzbare Unterstützung, bei Markus Dockhorn, der in der Produktionsphase so umsichtig wirkte, und bei Wolfgang Gartmann, der uns ein feinfühliger Redakteur war. Aber auch meiner Frau Brigitte und Walthers Partnerin Andrea Karner gilt mein Dank, denn mit ihrer Nachsicht und ihrer Kritik ermöglichten sie diese große Tour und halfen, Fehltritte zu verhindern.
Ahornach, im Januar 2001
Prolog
Als ich aufwachte, war es dunkel. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich zu orientieren. Wo war ich? Was war das für ein Raum, was für ein Bett, in dem ich da ausgestreckt lag? Als sich der Nebel des Fremden auflöste, begriff ich. Ich lag im Krankenhaus. Neben mir stand auf Rollen ein metallisch blitzender Galgen. An seinem Ende hing an einem halbrund gebogenen Haken eine Flasche. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich konnte erkennen, daß aus der Flasche, etwa in Fünf-Sekunden-Abständen, Tropfen in einen kleinen Behälter fielen und von dort in einen durchsichtigen Schlauch rannen, der in die Vene meines rechten Armes mündete. Das alles ging völlig geräuschlos vor sich, und doch glaubte ich es hören zu können: plop – plop – plop ...
Ich schaute auf meine Uhr, die gleich neben mir auf einem dieser weißen Nachttische lag, wie es sie nur in Krankenhäusern gibt. Komplett aus Metall, mit einer Schublade, die meist klemmt, darunter eine Ablage ohne Rückwand und eine Klapptür, die nur unter Zuhilfenahme beider Hände zu öffnen ist, weil sonst gleich das ganze Gestell davonrollt. Es war kurz vor Mitternacht. Ein paar Minuten noch, dann würde ein neuer Tag beginnen, der 28.Mai 1998. Gegen sechs Uhr käme eine freundliche Schwester mit einer häßlich dicken Nadel, würde mir freundlich lächelnd Blut abzapfen, dann den Puls messen und sich anschließend freundlich lächelnd verabschieden, weil Schichtwechsel wäre und sie, im Gegensatz zu mir, endlich heimgehen könnte.
Ich war gar nicht müde, und das wunderte mich fast. Den ganzen Tag über hatten sie sich gegenseitig die Klinke meiner Zimmertür in die Hand gegeben. Ein Journalist, dann noch einer, ein Fotograf, ein Kamerateam vom Fernsehen, meine Frau Brigitte, ein paar gute Freunde, Bekannte, Ärzte, Schwestern, die Laborantin, noch ein Journalist, noch zwei Fotografen und später erneut Brigitte. Ich mußte, gemessen an diesem Besucherstrom, der Star im Krankenhaus von Bruneck sein. Und während der ganzen Zeit läutete fast ohne Unterlaß das Telefon. Nicht, daß mir die Besuche und Anrufe lästig gewesen wären. Im Gegenteil, ich freute mich über jeden neuen Gast und über sämtliche Telefonate, die mich aus halb Mitteleuropa erreichten. Aber irgendwann war es genug, denn das alles ging nun schon seit vier Tagen so. Gleich nach dem Abendessen mußte ich dann eingeschlafen sein, und nun kroch der Minutenzeiger meiner Uhr im Schneckentempo um das Rund des Zifferblattes. So eine gute Uhr und doch so langsam. Jetzt war es erst kurz nach Mitternacht, und ich war weiterhin kein bißchen müde.
Mein Blick wanderte langsam durch das Zimmer und blieb schließlich am unteren Ende der Bettdecke hängen. Vorsichtig schob ich meine Beine heraus. Der linke Fuß steckte in einem für meine Begriffe viel zu dicken weißen Verband, am rechten waren sie etwas gnädiger gewesen. Über mir tropfte es aus der Flasche. Sie war nicht einmal halb leer. Am Morgen würde sie ausgetauscht und eine neue an den Galgen gehängt werden. Auch diesen Vorgang kannte ich mittlerweile, denn das ging ebenfalls bereits seit vier Tagen so.
Am 23.Mai hatten mich Brigitte und Werner Beikircher auf dem Franz-Josef-Strauß-Flughafen in München abgeholt und waren mit mir in das Innsbrucker Landeskrankenhaus gefahren. Dr. Werner Beikircher, spezialisiert als Anästhesist, ist ein befreundeter Arzt, der seine Patienten im Krankenhaus von Bruneck in den Tiefschlaf befördert. In Innsbruck hatte er hören wollen, ob die dort ansässigen Fachärzte jene Diagnose bestätigten, die bereits in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu gestellt worden war. Sie hatten sie – leider – bestätigt und einen entsprechenden Behandlungsplan vorgeschlagen. Mit dieser Therapieanweisung in der Tasche waren wir gleich weiter nach Bruneck gefahren, und ich hatte mich ohne Umwege in dieses Bett gelegt. Seither klopfte es ständig an die Tür, tropfte die Flasche und läutete das Telefon.
Die Zehen unter dem dicken Verband an meinem linken Fuß waren schwarz. So schwarz, daß einem beim Anblick fast schlecht werden konnte. Sie waren so dick geschwollen wie eine Bratwurst auf dem Grill – kurz vorm Platzen. Es sah scheußlich aus, und irgendwie war ich nun doch froh, daß sie den Verband so dick gemacht hatten. Die Zehen rechts sahen nicht ganz so schlimm aus, sie waren nur blau gefärbt. Blau ist besser als schwarz, das wußte ich aus der einschlägigen Literatur. So, wie sich die Sache darstellte, hatte ich mir schwere Erfrierungen zugezogen, und seit ich hier lag, versuchten die Ärzte meine Zehen zu retten und den schlimmsten Fall zu verhindern. Dieser schlimmste Fall würde mir eine Narkose von meinem Freund Dr. Beikircher einbringen und mich, was noch ärger war, meine Zehen kosten. Aber die Mediziner taten alles, um mich zumindest davor zu bewahren.
Durch den Schlauch des Tropfes rannen zunächst Heparin und später Prostavasin. Infusionen, die sonst Herzkranken verabreicht werden, weil sie gefäßöffnend und blutverdünnend wirken. Doch genau das brauchte auch ich. Sagten wenigstens sämtliche Spezialisten, die mit mir hofften, daß ich damit um eine Operation herumkam. Der große Zeh links war bis hinter das erste Glied erfroren, die vier kleinen bis hinter das Nagelbett. Damit war nicht zu spaßen, obwohl ich inzwischen einen Teil meines Humors wiedergefunden hatte. Ich hoffte ganz einfach mit den Ärzten und legte noch eine Schaufel Zuversicht zusätzlich oben drauf.
Mir tat überhaupt nichts weh, einmal abgesehen von den Armen, die inzwischen von den vielen Einstichen schon ganz blau waren und einen dumpfen Schmerz aussandten. Die betroffenen Zehen spürte ich nicht, da hätte einer mit dem Hammer draufschlagen können. Sie waren taub und bamstig, und wenn ich sie anfaßte, glaubte ich einen Fremdkörper zwischen den Fingern zu haben. In diesem Zustand waren sie, seit ich vom Berg heruntergekommen war. Wie ein Stück Holz. Wenigstens zehn Tage und Nächte lang sollte ich am Tropf bleiben, und irgendwann würden, wenn alles gutginge, meine Zehen zu bitzeln und zu kribbeln beginnen. Darauf wartete ich, während sich der Minutenzeiger wieder ein paar Mal um die eigene Achse gedreht hatte. Ich wartete darauf, daß endlich etwas weh tun würde und ich das als Glücksgefühl empfinden könnte. Doch vorerst regte sich unter dem Verband noch gar nichts, und ich hatte reichlich Zeit zum Nachdenken.
Am Kangchendzönga, einem gewaltigen Gletscherberg im Himalaya-Gebirge und mit 8586 Metern Höhe der dritthöchste der Erde, war mir ein Mißgeschick unterlaufen, das dazu geeignet war, mir meinen weiteren Weg erheblich zu verbauen. Wenn ich um eine Operation nicht herumkam, wenn ich einen Teil meiner Zehen verlor und sei es auch nur einen kleinen Teil, würde ich nicht mehr in der Lage sein, ganz schwierige Routen zu klettern. Doch gut und sicher klettern zu können ist in meinem Beruf eine Grundvoraussetzung, denn ich bin Bergführer. Während ich im Brunecker Krankenhaus auf meine Füße starrte, wurde mir zum ersten Mal richtig bewußt, was es bedeutet, ein gesunder Mensch zu sein. Wenn sich daran etwas änderte, würde sich auch mein Leben ändern. Ich dachte auch intensiv darüber nach, wer so alles in den anderen Zimmern dieses Hospitals lag. Menschen mit schweren Verletzungen nach Verkehrs- oder Arbeitsunfällen, deren Leben sich noch viel radikaler ändern würde, unheilbar Kranke ohne einen Funken Hoffnung und natürlich Menschen, denen, wie vielleicht auch mir, nur eine Kleinigkeit fehlte, wenn sie wieder nach Hause durften. So gesehen, war ich noch gut dran, und ich wollte mich auch nicht beschweren.
Als ich vor vielen Jahren das Bergsteigen zu meinem Beruf gemacht habe, ging ich mit mir selbst eine Vereinbarung ein. Ich erklärte mich damals mit meinem Schicksal einverstanden. Ich war bereit zu akzeptieren, was auch immer käme. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte ich schon lange nicht mehr aufbrechen dürfen, um in lotrechten Wänden zu klettern oder in eisiger Kälte auf Achttausender zu steigen. Das Leben als Bergführer und als Extrembergsteiger ist lebensgefährlich, die Statistiken belegen es deutlich. Aber ist nicht das Leben überhaupt lebensgefährlich? Weit über zwei Jahrzehnte war mir nie etwas Gravierendes passiert, obwohl ich das Schicksal herausgefordert und das Glück reichlich strapaziert hatte.
Und nun lag ich im Krankenhaus, mit ein paar erfrorenen Zehen, und fürchtete mich. Es war wohl nicht weit her mit jener Vereinbarung, die der Hans mit dem Hans getroffen hatte. Meine Freizeit war längst geprägt von Expeditionen zu den höchsten Bergen der Welt, an denen es allerdings zumeist genügte, wenn ich einfach nur gehen konnte. Dennoch war ich immer ein begeisterter Felskletterer geblieben. Es reizte mich immer noch ungemein, in die schweren Wände der Dolomiten oder der Westalpen zu klettern. Würde ich einen Teil meiner Zehen verlieren, könnte ich noch immer auf Expeditionen gehen, denn in Plastikstiefeln war das sicher kein großes Problem. Doch den Tanz in der Vertikalen, mit den leichten, hauchdünnen Kletterschuhen an den Füßen, könnte ich vergessen, denn dort war ich auf meine Zehen angewiesen, weil sie mir auf zentimeterschmalen Leistchen, in winzig kleinen Löchern und an mauerglatten Wänden Halt gaben.
In meinem Kopf nistete sich die Erkenntnis ein, daß ich ins Mittelmaß der Bergsteigerei abkippen würde. Davor hatte ich ganz gewiß keine Angst, aber es war ein ungutes Gefühl, das sich in mir unangenehm breitmachte. Ich war zweiundvierzig Jahre alt und wußte, daß ich irgendwann in den nächsten Jahren ohnehin zurückstecken müßte, weil ich mich nicht noch zehn Jahre am Limit bewegen konnte. Aber doch nicht so, nicht aufgrund einer Dummheit, nicht, weil ich meine Füße in einen etwas zu engen Bergstiefel gezwängt und mir dann die Zehen erfroren hatte. Ich kündigte meinen Teil der Vereinbarung zwischen Hans und Hans auf und beschloß trotzig, daß ich keine Zehen verlieren würde.
Neben mir tropfte es aus der Flasche, meine Zehen waren gut verpackt und immer noch ohne Gefühl. Ich ließ die Gedanken gleiten und tauchte ab in Erinnerungen. Schließlich knipste ich das Licht über meinem Bett an, nahm einen Schreibblock und begann mir Notizen zu machen. Ich arbeitete weiter an meinem Buch, das ich während meiner letzten Expedition zu schreiben begonnen hatte.
29.April 1998. Basislager am Fuß des Kangchendzönga, auf 5100 Metern Meereshöhe. Meine »Trilogie« konnte beginnen. Ich wollte hintereinander drei Achttausender besteigen. Zuerst den Kangchendzönga, dann den Manaslu (8163 m) und schließlich den K 2 (8611 m), den zweithöchsten Berg der Erde. Wir waren mit einer Mini-Expedition unterwegs: Konrad Auer (34) aus Percha bei Bruneck, Bergführer in meiner Alpinschule Südtirol, würde mich am »Kantsch«, wie der dritthöchste Berg der Erde meist kurz genannt wird, und am Manaslu auf die Gipfel begleiten; Werner Tinkhauser (38) aus Niederdorf im Pustertal und ebenfalls Bergführer in der Alpinschule, würde Hartmann Seeber (34) aus Sand in Taufers, von Beruf Hüttenwirt auf der Kassler Hütte in der Rieserfernergruppe und obendrein ein versierter Kameramann, bei den geplanten Filmaufnahmen unterstützen; und mit dem Alpinjournalisten Walther Lücker (41), einem gebürtigen Frankfurter, der seinen Wohnsitz vor ein paar Jahren in die Nähe von Salzburg verlegt hatte, um den Bergen näher zu sein, wollte ich dieses Buch schreiben.
Tags zuvor waren wir nach einem siebzehntägigen Trekking im Basislager angekommen. Schneefälle und Trägerstreiks hatten den Anmarsch erheblich verzögert. Meine Frau Brigitte und Hanna, die Frau von Werner Tinkhauser, die uns bis hierher begleitet hatten, traten nun den Rückweg nach Kathmandu an, und wir begannen uns im Basislager einzurichten, so gut es eben ging. Eine Gletschermoräne bietet keinen allzugroßen Komfort. Konrad und Werner ebneten auf dem steinigen Untergrund Zeltplätze ein, Hartmann versuchte die Akkus seiner Kamera über unsere Solarplatten aufzuladen, und ich sortierte gerade einen Teil unserer Ausrüstung, als Walther ausgiebig zu fluchen begann.
Wir hatten einen dieser kleinen Computer dabei. Er würde meine Gedanken und Erinnerungen an große und kleine Bergtouren auf seiner Festplatte speichern. Denn das Buchmanuskript sollte während der Expedition entstehen, auf 5100 Metern Meereshöhe, so hoch, wie wahrscheinlich noch nie ein Manuskript zuvor. Verschiedene Elektronikspezialisten hatten vor unserer Abreise ihrer »Hoffnung Ausdruck verliehen«, daß dieses Gerät – sie sagten: wahrscheinlich – auch in Höhen um 5000 Meter noch einwandfrei funktionieren dürfte. Wir sorgten uns vor allem um die Leistungsfähigkeit des Akkus, doch der hatte in den Tagen zuvor immer zuverlässig seinen Dienst getan. Walthers Aufschrei mußte also eine andere Ursache haben. Wir eilten alle in das geräumige Eßzelt und versammelten uns um das kleine Notebook. Hinter der Scheibe des Displays hatten sich Eiskristalle gebildet, gut doppelt so groß wie ein Daumennagel und ganz feingliedrig gezackt, wirklich schöne Exemplare, nur völlig deplaziert. Sie ließen sich selbst in der starken Sonne nicht auftauen. Sie waren wie eingebrannt, und ihre Anordnung sollte die Arbeit am Computer in den nächsten Wochen zum Geduldsspiel werden lassen.
Aber das Ding funktionierte noch, und so setzten wir uns am späten Nachmittag des 29.April bei Temperaturen um den Gefrierpunkt und heftigem Schneetreiben auf wacklige Klappstühle, starrten die Schneekristalle auf dem kleinen Bildschirm an und begannen mit der Arbeit. Wir sprachen über meine Kindheit, und Walther schrieb:
Als ich acht Jahre alt war, bestieg ich meinen ersten Berg ...
Kapitel I
Nichtschwimmer – Heimlich auf den Moosstock
Als ich acht Jahre alt war, bestieg ich meinen ersten Berg.
Als ich zehn Jahre alt war, starb meine Mutter.
Diese beiden Ereignisse standen ganz gewiß nicht in einem ursächlichen Zusammenhang. Und doch veränderten sie mein Leben nachhaltig.
Ein Leben, das in den ersten Jahren geprägt war von Muff und Enge, vom begrenzten Raum eines Bergbauernhofes und einem stark eingeschränkten Blickfeld. Doch all dies, das spürte ich damals unbewußt schon genau, mußte ich ändern. In meinem jungen Geist und vor allem in meinem Körper regte sich ein Drang nach Bewegung, der mich unruhig machte. Eine Erklärung dafür hatte ich nicht. Ich spürte nur, irgend etwas rumorte da in mir. Etwas, das nach mehr drängte, das mich am Tage und immer öfter auch in der Nacht nicht in Ruhe ließ.
Wir hatten ein karges Abendmahl eingenommen. Schmalhans war meist bei uns Küchenmeister. Fleisch war ein Luxus. Gemüse, Kartoffeln, Salat aus dem eigenen Garten, goldgelbe Polenta, eine Art Maisbrei, der heute zu den köstlichen Spezialitäten der Südtiroler Küche gehört, füllten unsere Teller. Mißmutig schob ich den Löffel in den Mund, und was drauf war, kaute ich anschließend lange zwischen den Zähnen. Ich war müde, und nichts hätte mich aufheitern können. Gelacht wurde ohnehin nur wenig. Drei meiner Geschwister waren bereits aus dem Haus. Mit meiner Schwester Sabine und meinem Bruder Seppl lebte ich auf dem Bergbauernhof meiner Eltern. Als Nesthäkchen, als Nachzügler von sechs Kindern. Meine Mutter war schon Mitte vierzig, als sie mich zur Welt brachte.
Ich verkroch mich an diesem Abend schnell in mein Bett. Es bedurfte nicht einmal einer Ausrede. Früh unter die Decke zu schlüpfen war völlig normal. Die Tage waren angefüllt mit Arbeiten, die hart waren und von denen ich viele nicht mochte. Auf einmal erhellte der Mond die düstere Nacht in meinem Zimmer. Er schob sich leise hinter den Wolken hervor. Er färbte meine kleine Welt silbern und tauchte sie in ein wunderbares, geheimnisvolles Licht. Ich bekam Herzklopfen. Wieder einmal schien diese unsichtbare Hand nach meinem Hals zu greifen. Eine Schlinge schien sich zuzuziehen, die mir den Atem nahm.
Also stand ich auf, ging zum Fenster, stützte mich mit den Ellbogen auf das derbe Brett und starrte hinaus. Was sich mir dort draußen bot, ließ mein Herz höher schlagen. Der Mond rang mit den Wolken. Wie Fetzen schnellten sie an ihm vorbei. Die Konturen der umliegenden Berge und Hügel begannen sich immer deutlicher abzuzeichnen. Sterne blinkten. Hunderte, Tausende, Abertausende. Die Gipfel verloren in dieser Beleuchtung ein wenig ihr Düsteres, nicht aber das Geheimnisvolle.
Ich wußte damals nicht, was ein Fernseher ist. Und ich kannte auch kein Kino. Aber in dieser Nacht hatte ich Kino und Fernsehen am Fenster meines Zimmers. Ich war überrascht, was meine kleine Welt, dieser Mikrokosmos am nördlichen Rand von Südtirol, alles zu bieten hatte. Selbst so eine Nacht, eine Zeit, die den allermeisten Kindern nichts als Furcht und Angst einflößt, war voller Leben. Und, mehr noch, voller Überraschungen und Abenteuer. Ich bekam Fernweh. Ich wollte wissen, was hinter den Bergen liegt.
Bergdorf: Ahornach im Tauferer Ahrntal, gegen den Großen Moosstock (links) und die Rieserfernergruppe
Um wenigstens Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen, mußte natürlich auch ich zur Schule gehen. Doch dort gefiel es mir kein bißchen. Wieder ein enger Kasten, in den wir eingezwängt wurden und uns Stunden um Stunden – zu allem Übel auch noch die schönsten des Tages – Dinge anhören mußten, die wir eigentlich nicht hören wollten, die wir nur schwer begreifen konnten und die noch schwerer zu behalten waren.
Nein, diese Schule hatte absolut nichts Spannendes. Keinen Hauch von Abenteuern. Die aber suchte ich. Mehr jedenfalls, als ABC und kleines Einmaleins. Die Schule jedoch, so trichterte man uns ein, mußte sein, »damit einmal etwas aus dir wird«. Was aber sollte aus mir schon werden? Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, was es bedeutete, »etwas zu werden«.
Woher auch. Ich war acht Jahre alt und lebte in einer Welt, die Erwachsene mir vorgaben, in der ich nichts zu sagen hatte und in der ich auch gar nichts sagen wollte. Es war alles geregelt. Meine Mutter sagte, was ich zu tun und, mehr noch, was ich zu unterlassen hatte. Kam sie mit ihrem Willen nicht durch, genügte ein Ruf nach meinem Vater, und die Dinge waren schnell, bisweilen auch handfest geregelt.
Die Schule also langweilte mich endlos. Oft starrte ich aus dem Fenster. Dort stand ein Baum, in dem im Frühling Vögel ihr Nest bauten. Manchmal schnellte gewandt, von ihren scharfen Krallen getragen, eine Katze hinauf. Meist hatte ein Hund sie dorthin gejagt. Wenn der dann unten mit gesträubtem Nackenfell vor lauter Zorn an den Baum pinkelte, mußte ich lachen. Es bedurfte nicht selten eines scharfen Zurufs, um mich in die bittere Wirklichkeit zurückzuholen. Die Stunden schleppten sich dahin, zäh wie ein überstrapazierter Kaugummi.
Meine kleinen Abenteuer und die meiner Freunde lagen am Rand des Weges. Sie waren ganz einfach zu finden. Dazu brauchte man keine Schule. Ein Stück Seil, ein paar Steine, einen Bach, ein Stück Holz, eine alte Scheune, eine kleine Höhle – perfekt. Wir hatten, wie die Kinder überall auf der Welt, kein Problem, uns eine eigene Welt zu schaffen. Eine Welt, die kein Erwachsener verstehen kann. Eine Welt, die verbunden war mit Schmutz und zerrissenen Hosen, manchmal auch mit Tränen und Wut. Aber eine Welt, die uns selbstlos einließ, in die wir eintauchen konnten und in der die Zeit wie im Flug verging.
Birkenbiegen war unser größter Spaß. Nicht ganz ungefährlich, aber unvergleichlich spannend. Wir wetteiferten darin, wer am höchsten hinaufsteigen konnte. Zunächst mit den Händen und nach innen gebogenen nackten Füßen am glatten, weißen Stamm hinauf. Oft genug wurde da schon die Spreu vom Weizen getrennt, wenn die Konkurrenz reihenweise abrutschte und auf den Hosenboden plumpste. Nur die Guten kamen durch. Über die starken Äste den weiteren Weg nach oben zu finden war nicht schwer. Doch oben, im Wipfel, wo die Triebe der Birken immer dünner wurden, wo Mut gefragt war, da begann die Spannung erst richtig. Es galt nun, in der Krone des Baumes das Gewicht so zu verlagern, daß der Stamm sich zu biegen begann. Die wahren Könner haben es geschafft, auf den Boden zurückzukehren, ohne abspringen zu müssen. Das, das und nichts anderes, waren Abenteuer der ganz großen Art. Daß es der Birke eigen ist, selbst unter extremer Belastung zumeist nicht zu brechen, bewahrte uns glücklicherweise vor dem Zorn der erwachsenen Birkeneigentümer.
Irgendwann in dieser Nacht des vollen Mondes über Ahornach wurden meine Füße dann empfindlich kalt. Ich kroch unter die Decke und schlief augenblicklich ein. Ich hatte eine traumlose Nacht. Nicht ahnend, daß am nächsten Tag ein wirkliches Abenteuer auf mich warten sollte, lag ich zusammengerollt unter der Decke und mußte am Morgen zweimal geweckt werden.
Ich besuchte die örtliche Grundschule. Mehr war nicht drin. Ich wurde einerseits auf dem Hof gebraucht, andererseits war es mir nur recht, diese lästige Lernerei möglichst bald abzuschließen. Ich hatte also nur ein paar Minuten bis zur Schule und brauchte doch an manchen Tagen Stunden, bis ich wieder daheim war. Die Birken. Sie standen so dicht am Weg, daß ich einfach nicht daran vorbeikam.
Nachdem meine Mutter mich zweimal zum Aufstehen gemahnt hatte, begann der Tag wie alle anderen auch. Ich war nie, eigentlich bis heute nicht, für ein großes Frühstück zu begeistern. Eine Schale Milch, mehr brauche ich nicht. So war es auch damals. Fast nüchtern verließ ich an diesem strahlend schönen Tag Ende September, nach einer noch schöneren Mondnacht, unseren Bergbauernhof. Die Luft war von einer betörenden Klarheit. Der Mond hatte offenbar erfolgreich die Wolken bekämpft.
Die Sonne des jungen Tages hauchte den Wiesen Atem ein – überall stieg dampfend die Feuchtigkeit auf. Auf den Weiden taten die wenigen Milchkühe, die den Sommer über nicht auf den Almen waren, laut muhend ihren Lebenshunger kund. Durch den kleinen Durchschlupf in der Bretterwand unserer Scheune drängte eine Katze. Die Beute trug sie mit stolz erhobenem Kopf quer im Maul. Ein schöner Morgen. Den alten Lederranzen auf dem Rücken, überlegte ich, wie der Schultag möglichst schnell über die Bühne gehen und neue Abenteuer die vielen Stunden danach ausfüllen könnten.
Inmitten dieser sehr wichtigen Denkarbeit wurde ich von zwei Leuten angesprochen. »Sind wir hier auf dem richtigen Weg zum Moosstock?« Mein Herz pochte so laut, daß ich Angst hatte, die beiden könnten es hören. Mich hatten zwei Fremde angesprochen, offenkundig zwei Bergsteiger. Richtige Bergsteiger. Zwei von der Sorte, die uns Ahornacher Kindern mächtig Respekt abnötigten. Kein Zweifel, diese beiden Menschen, eine eher kleine Frau und ein großer kräftiger Mann, mußten Bergsteiger sein. Sie trugen Kniebundhosen und rote Strümpfe, karierte Hemden und riesige Rucksäcke.
»He, Kleiner, ich habe dich etwas gefragt, hast du mich nicht verstanden«, sagte der Mann in einem Dialekt, der mir sehr fremd vorkam. Wahrscheinlich kamen die beiden aus Deutschland und machten bei uns Urlaub. »Schon, schon«, stammelte ich. Diese abgewandelte Form für »Jawohl« hatte ich bei den Alten gehört. Eine gute Gelegenheit, gesammeltes Wissen anzuwenden.
»Schon, schon«, preßte ich noch einmal hervor und begann mit einer gleichermaßen umfangreichen wie komplizierten Erklärung, um die nächsten 150 Meter des Weges zu beschreiben. Mit jedem meiner Worte wuchs auch meine Begeisterung, etwas zur Besteigung des Moosstocks und für die gesunde Rückkehr der beiden Fremden beitragen zu können. Dabei hatten sie unweit unseres Hauses nicht einmal ein Achtel des Hinwegs hinter sich.
»Danke, mein Junge«, unterbrach der große Fremde höflich, aber bestimmt meinen ungehemmten Redefluß. Der Mann und die Frau kehrten mir die Rücken zu, und fasziniert starrte ich auf die beeindruckend ausgebildeten Wadenmuskeln dieses Riesen. Die beiden waren sicherlich schon fast 200 Meter entfernt, als ich ihnen immer noch hinterherschaute. Die gehen falsch, schoß es mir durch den Kopf, das ist nicht richtig, das ist der falsche Weg.
Meine Erklärung mußte derart dumm, umständlich und vielleicht in einem so harten Dialekt erfolgt sein, daß sie nur falsch gehen konnten. Ich war nicht einmal in der Lage, hundertfünfzig Meter Weg richtig zu erklären. Du Dummkopf, dachte ich. Wie peinlich für einen, der glaubt, die Welt längst begriffen zu haben. Vielleicht bestand sie ja doch aus mehr als ein paar umgebogenen Birken, aus aufgestauten Bächen und dem Versteckspiel auf dem Scheuerboden. Vielleicht war diese Schule ja doch zu irgend etwas nutze.
Aber die Schule, kaum hundertfünfzig Meter in die andere Richtung gelegen, war mir in diesem Moment so einerlei wie die mahnenden Worte der Mutter, die drohende Tracht Prügel des Vaters und alles, was aus dem Entschluß, den ich augenblicklich faßte, sonst noch erwachsen konnte. Ich sauste hinter den beiden her, erklärte den Weg diesmal richtig und wurde für meine Aufmerksamkeit abermals gelobt. Doch dann nahm etwas seinen Lauf, was ich heute, so viele Jahre danach, nur als einen Wink des Schicksals bezeichnen kann. Es geschah in den folgenden Stunden etwas, das mich mit einem Mal von den Fesseln befreite, das diesen Würgegriff um meinen Hals löste. An diesem Tag veränderte sich mein Leben.
Mit zwei schnellen Schritten sprang ich hinter den nächsten Zaun. Die beiden Bergsteiger konnten mich nun nicht mehr sehen. Gebückt schlich ich an dem Zaun entlang. Die Neugier trieb mich voran. Weiter, immer weiter. Ich vergaß alles um mich herum. Meine Schultasche hatte ich hinter einen Busch geworfen. Was war schon der Inhalt eines alten Ranzens gegen die Verfolgung von zwei echten Bergsteigern? Ich lief hinter den beiden her, Meter um Meter, Schritt für Schritt. Manchmal mußte ich mich hinter einem Baum, einem Strauch, einer Hecke, einem Weidezaun oder einem Felsbrocken verstecken. Sie durften mich auf keinen Fall entdecken, dann wären der Spaß und das Abenteuer vorbei. Den Weg bis hinauf zur Baumgrenze und über die Almen kannte ich. Als Hüterbuben mußten wir im Sommer dort oben auf das Vieh achtgeben. Wir nutzten dann zwar jede sich bietende Gelegenheit, in neue Höhen vorzustoßen, aber die Berge rundum flößten uns im Grunde mehr Angst, Respekt und Ehrfurcht als wirkliche Freude ein.
An den steilen Hängen der Berge rangen die Bauern mühselig dem Boden einen kargen Lohn ab. Die Berge waren für die Menschen, die hier lebten, eher ein notwendiges Übel. Und alle, die auch noch auf diese Berge hinaufstiegen, wurden mehr belächelt als ernstgenommen.
Die beiden Fremden vor mir gingen langsam. Sehr langsam sogar. Zumindest für meine Verhältnisse. Mein Leben bestand aus Laufen, Rennen und Springen. Wir Bergbauernbuben waren flink, denn wir hatten einen ausgeprägten Bewegungsdrang. Die Spannung in mir war unbeschreiblich groß. Oberhalb der letzten Bäume wurde es immer geheimnisvoller. In mir knisterte es förmlich.
Schritt für Schritt brachten mich meine dünnen Beine nach oben. Die Flügel der Begeisterung trugen mich weiter und weiter. Nie zuvor hatte ich eine solche Aufregung gespürt. Ich schwitzte und fror zugleich. Ich war angespannt bis in die letzten Fasern meiner sehnigen Muskeln. Keine Freunde in der Nähe, mit denen ich meine Angst, meine Befürchtungen und meine Freude hätte teilen können. Ich war allein. Und vielleicht war das auch gut so. Die beiden Wanderer entdeckten mich nicht. Sie sahen mich nicht in Ahornach und nicht auf den Almen, nicht im Wald und nicht oberhalb der Bewuchsgrenze. Sie entdeckten mich zum ersten Mal auf dem Gipfel. Es war mir tatsächlich gelungen, den beiden zu folgen, ohne bemerkt zu werden.
Wäre ich von den beiden fremden Bergsteigern gesehen worden, sie hätten mich ganz sicher sofort zurückgeschickt, heim nach Ahornach, direkt in die Schule. Doch es kam eben anders. Vielleicht sollte es so sein. Denn dieser Tag, diese heimliche Besteigung des Moosstocks, des »Hausbergs« von Ahornach, dessen Gipfel 3059 Meter über dem Meer liegt, war der Anfang.
Nach diesem Tag war nichts mehr wie vorher. Nicht, daß mir die Birken einerlei gewesen wären, nicht, daß wir keine waghalsigen Abfahrten mit dem Heuschlitten mehr riskiert hätten, nicht, daß ich dem Vater nun den Gruß verweigerte, nicht, daß ich die Faszination von Mondnächten künftig mißachtet hätte. Nein, die Dinge bekamen nur auf einmal eine andere Bedeutung. Ich hatte die Berge und die Natur für mich entdeckt.
Natürlich begriff ich all das nicht schon an jenem Sonnentag unter dem Gipfelkreuz des Moosstocks, als mir die kleine Frau mit den roten Strümpfen und dem verschwitzten karierten Hemd einen rotbackigen Apfel hinhielt. Es sollte Jahre dauern, bis ich wirklich verstand, was an diesem Tag mit mir geschehen war und was mich seither so magisch anzieht.
Fürs erste stand ich einmal, eine Hand in der Tasche meiner verdreckten Hose, unter dem Gipfelkreuz und biß herzhaft in den roten, saftigen Apfel. Eigentlich mochte ich Äpfel gar nicht so gern. Doch nach einer Bergtour schmecken viele Sachen anders, oft viel besser als unten im Tal. Ich war weit nach oben gelangt in diesen vergangenen drei Stunden. Nun stand ich da, zwischen zwei richtigen Bergsteigern. Und ich fühlte mich selbst wie einer, denn immerhin hatte ich die gleiche Leistung vollbracht wie sie.
Ich hatte mich nicht besonders anstrengen müssen. Auf meine zaundürren, aber muskulösen Beine konnte ich mich verlassen. Sie hatten mich sicher das Steiglein hinauf und später über unschwieriges Blockwerk getragen. Ich hätte schneller sein können als die Fremden, aber ich mußte gezwungenermaßen hinter ihnen bleiben. Doch hintenzubleiben, das war meine Sache nicht, künftig wollte ich vornweg gehen.
Vor meinen Augen breitete sich an diesen Tag eine neue Welt aus: die Rieserfernergruppe, die Gletscher der Zillertaler Alpen, im Süden die bleichen Felstürme der Dolomiten. Gleißend lagen ganz weit draußen die Eisgipfel der Ötztaler Alpen. Der Moosstock, der später zu meinem Trainingsberg wurde, steht fast völlig frei, und an schönen Tagen reicht der Blick vom Gipfel rund 200 Kilometer weit.
Ich war überrascht. Bisher hatte ich immer geglaubt, die Welt sei hinter den Rieserfernern, hinter Sand in Taufers wohl bald zu Ende. Spätestens jedoch hinter der wuchtigen Gestalt des Peitlerkofels. Bis Bruneck aber reichte sie wohl ganz sicher. Das wußte ich genau, denn dorthin kamen wir einmal, manchmal sogar zweimal im Jahr. Auf dem »Stegener Markt« durften wir dann das wenige Geld ausgeben, das wir uns im Sommer mit dem Sammeln von Beeren, Pilzen und Kräutern verdient hatten. Auf diesem Vieh- und Krämermarkt, dem einstmals größten in Südtirol, gab es alles, was Kinderherzen höher schlagen läßt: Zuckerwatte, Karussells, Schießbuden, Spielzeug. Mit großen Augen standen wir vor all diesen wunderbaren Dingen, und doch war ich froh, wenn ich den Trubel wieder verlassen und heimgehen konnte nach Ahornach.
Auf dem Gipfel des Moosstocks war alles anders. Da war es so still, da regte sich in dieser Stunde nicht einmal ein Lüftchen. Drüben, schon leicht im Dunst des Nachmittags, das mußten die Drei Zinnen sein, diese steil aufragenden Felstürme, die ich bislang nur auf Postkarten gesehen hatte. Und dort die Marmolada, die von den Südtirolern ehrfürchtig die »Königin der Dolomiten« genannt wird. Ich erkannte den wuchtigen Gebirgsstock der Sella, die von den Einheimischen als die »Gralsburg der Ladiner« angesehen wird, und natürlich auch den Peitlerkofel. Gipfel reihte sich an Gipfel. Von den meisten kannte ich damals nicht einmal die Namen. Tief drunten lag Ahornach. Und unser Haus. Ganz klein war alles geworden. Bislang hatten mir die Berge den Blick verstellt, doch nun begriff ich: Man muß nur ein Stück hinaufsteigen, und schon sieht man mehr. War es das, was die fremden Menschen mit den roten Strümpfen und den karierten Hemden hier hinauftrieb?
Ich stieg damals mit einem sehr unguten Gefühl wieder hinunter in unser Dorf, denn ich bekam auf einmal ein schlechtes Gewissen. Ich hatte bis dahin noch nie die Schule geschwänzt. Und ich wollte nicht, daß jemand von diesem für mich so besonderen Tag erfährt. Ich wollte dieses fremde, neue Gefühl für mich behalten. Also schlich ich zurück, so wie ich gekommen war, in aller Heimlichkeit und sehr vorsichtig. Ich holte meine Schultasche aus dem Busch und ging heim. Niemand merkte etwas. Für meine geplagte Mutter war es längst normal, daß ich oft Stunden brauchte, um den Weg zu unserem Hof zu finden. Und es war auch normal, daß wir meist aussahen wie die Dreckspatzen. Kein Mensch konnte ahnen, daß der Schmutz an meinen Schuhen und meinen Hosen diesmal nicht vom Birkenklettern, sondern vom Gipfel des Moosstocks stammte.
Meine Mutter empfing mich, als sei nichts geschehen. Sie war eine mittelgroße, schlanke, fast zierliche Frau, streng und immer ein wenig kränklich. Sie hatte es gewiß nicht leicht in dieser Familie, denn wir waren keine einfachen Kinder. Oft waren die Kleider zerrissen, oder sie standen vor Dreck. Unsere Mutter saß abends da, flickte und nähte, stopfte und strickte. Drei meiner Geschwister waren schon aus dem Haus. Meinen ältesten Bruder Alois hatte es Richtung Bozen gezogen, er suchte sein Glück bei einem Obstbauern. Meine Schwestern Ida und Berta arbeiteten unten im Tal im Gastgewerbe. Das erleichterte meiner Mutter zwar die Arbeit ein wenig, verringerte jedoch nicht ihre Sorge um uns alle.
Wir lebten überwiegend von dem, was unser kleiner Hof abwarf, und von dem wenigen Geld, das mein Vater mit heimbrachte. Er war Schuster. Ein überaus geschickter Mann, der sein Handwerk verstand. Er ging »auf die Stern«. Das heißt, er schnürte sein Bündel und wanderte von Hof zu Hof. Oft war er wochenlang nicht daheim. Er reparierte in den Häusern fremder Leute deren Schuhe oder machte ihnen ein Paar neue. Viel verdiente er damit nicht. Und der Hof warf auch nicht viel ab. Fleisch kam bei uns fast nie auf den Tisch. Aber im Stall standen drei, manchmal auch vier oder fünf Kühe. Die Milch verkauften wir literweise an unsere Nachbarn, oder wir machten selbst Käse und Butter.
Elternhaus: ein kleiner Bergbauernhof auf knapp 1500 m in Ahornach
Heimarbeit: Bis heute wird das Brot auf dem heimatlichen Hof gebacken.
Bald nach meinem zehnten Geburtstag starb meine Mutter. Ich habe nur eine sehr schwache Erinnerung an diesen Tag. Ich weiß noch, daß sie mit einem schwarzen Wagen zurück in unser Dorf gebracht worden ist. Die letzten Tage hatte sie im Krankenhaus gelegen. Und nun kam sie mit einem Auto die Straße herauf. Eine Straße, die gerade fertig geworden war. Mutter hatte den Abzug der Bauarbeiter nicht mehr erlebt. Diese neue Straße, die sich von Sand in Taufers heraufschlängelte, überwand nun jene 700 Höhenmeter nach Ahornach, die wir früher immer zu Fuß gehen mußten. Sie reichte jetzt genau bis zur Kirche. Und dort schoben sie einen dunklen Sarg aus dem großen schwarzen Wagen.
Meine Mutter war eine ängstliche Frau. Ständig lebte sie in Sorge um uns Kinder. Ich habe ihr nie von meiner Besteigung des Moosstocks erzählt. Sie hätte sich nur unnötig aufgeregt. Sie hätte mir auch niemals erlaubt, auf einen Berg zu steigen, denn sie ängstigte sich schon, wenn wir Kinder nur auf die Ofenbank kletterten. Kopfschüttelnd wandte sie sich dann ab. Sie konnte einfach nicht zusehen. Der Vater hingegen beobachtete uns seelenruhig. Er hatte keine Angst. Mutters ständige Mahnungen aber klingen mir noch heute manchmal im Ohr.
Ratlos stand ich vor dem Sarg meiner Mutter. Um ihren Tod wirklich zu begreifen, war ich zu jung. Was fängt ein Zehnjähriger mit der Endgültigkeit dieses Wortes an? Sie war nicht mehr da, verschwunden aus meinem Leben. Eines aber spürte ich ganz deutlich. Und das war, so kurios es klingen mag, durchaus angenehm. Am Tag nach der Beerdigung nämlich übernahm meine Schwester Sabine den Haushalt. Und das brachte mir einige Vorteile. Zwar kümmerten sich nun alle sehr intensiv um mich. Aber die mütterliche Strenge war nicht mehr da. Die Zügel wurden lockergelassen, ich hing nicht mehr so im Geschirr.
Jetzt konnte ich öfter auf Birken und – inzwischen viel wichtiger noch – auf Berge und Gipfel steigen. Die drei Monate im Sommer, während der Ferien, waren noch immer die schönsten. Da waren wir frei wie die Vögel. Wir haben das frisch gemähte Heu ausgebreitet, wir durften es zusammenfahren und später selbst mähen lernen. Wir haben die Kraxen beladen und uns abgemüht, die Sense zu dengeln. Das ist eine schwierige Aufgabe. Ich glaube, kaum jemand konnte das besser als mein Vater, und ich habe bei ihm reichlich Lehrgeld gezahlt. Wenn die Sense nicht gut gedengelt war, dann schnitt sie nicht, und die Arbeit an den Hängen wurde zur Quälerei. Noch anstrengender allerdings empfand ich das tägliche Melken unserer Kühe. Doch damals hatte ich sicher die stärksten Muskeln meines Lebens. Niemals später, auch nicht nach unzähligen schweren Klettertouren, hatte ich je wieder so viel Kraft in den Armen.
Nein, uns wurde zu keiner Jahreszeit langweilig. Im Winter holten wir das Heu und auch das eingeschlagene Holz, das wir im Sommer auf den Almen eingelagert hatten, mit großen Schlitten herunter. Das war eine aufregende, spannende, aber auch sehr gefährliche Sache. Der Schlitten war rund drei Meter lang und wog leer etwa 30 Kilogramm. Doch wenn er beladen war, kamen leicht 200 Kilo auf die Kufen.
Schwerarbeit: In der Landwirtschaft und am Heuschlitten kam die Grundkondition.
Mit diesem Gewicht fuhren wir dann durch den Wald und über die Almen. Oft waren die Wege und unsere Spuren vom Vortag vereist. Dann war der Schlitten fast nicht mehr zu bremsen und nur noch schwer zu lenken. Wenn die Not am größten wurde, warfen wir im allerletzten Moment schwere Stahlketten unter die Kufen. Meist half aber auch das nichts mehr. Dann schleuderten wir unkontrolliert aus den Ziehwegen heraus, flogen im hohen Bogen ins Unterholz oder landeten im meterhohen Schnee. Es war Schwerstarbeit, den Schlitten wieder in die Spur zu hieven. Damals holte ich mir eine Grundkondition, die mir später, bei den vielen großen Bergtouren, immer wieder zugute gekommen ist.
Ich war der jüngste und der schwächste in der Familie. Deshalb war für mich die Anstrengung bei all den Arbeiten auf dem Hof besonders groß. Und doch war sie offenbar nicht groß genug. Denn an den Wochenenden, wenn wir weniger arbeiten mußten, bestieg ich nacheinander sämtliche erreichbaren Berge. Entweder war ich mit Freunden aus meiner Schulklasse oder ganz einfach allein unterwegs. Die Furcht hatte ich längst verloren.
Mit den Nachbarbuben Robert und Ernst ging ich eines Tages im Spätherbst wieder einmal auf den Moosstock. Auf etwa 2900 Meter Höhe liegt still und klar ein sehr schöner Bergsee. Es war ein kalter, aber sonniger Vormittag. Der See liegt in einer Senke und sieht aus wie eine gewaltige Suppenschüssel aus Stein, sicher 50 Meter im Durchmesser. Am Rand dieses Sees balancierten wir über große Felsplatten, die teilweise von Wasser überronnen und etwas wacklig waren. Auf einmal hatte ich Eis unter meinen Schuhen. Fast nicht erkennbar und nur hauchdünn war das Wasser auf den Platten gefroren. Ich rutschte natürlich sofort weg und stürzte in den See – mitsamt dem alten Rucksack, in dem meine erste billige Kamera verstaut war.
Leichtsinn: mit mangelhafter Ausrüstung und bei jedem Wetter
Der Rucksack und auch der Fotoapparat waren mir ziemlich egal. Viel schlimmer war, daß ich nicht schwimmen konnte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich über Wasser halten sollte. Niemand hatte mir das je beigebracht. Wie wild schlug ich um mich. Ich planschte und ruderte um mein Leben. Ich schluckte Wasser, das mir in den offenen Mund lief, und mußte husten, was meine verzweifelte Lage noch verschlimmerte.
Es war reiner Zufall, daß ich nach ein paar Metern einen Felsen im Wasser erreichte und mich dort hinaufziehen konnte. Da saß ich nun, kreidebleich, prustend und Wasser spuckend. Mir war hundeelend, aber ich war vorerst gerettet, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich zurück ans Ufer gelangen sollte. Die beiden Freunde, froh darüber, daß ich nicht untergegangen und ertrunken war, zogen ihre Jacken, Hemden und Hosen aus.
Mit festen Knoten banden sie die Kleidungsstücke aneinander und standen nun in Unterhosen da. Dann versuchten sie mir diese dicke Wurst von handgeknüpftem Seil zuzuwerfen. Es dauerte, bis ich endlich den Zipfel von Roberts Jacke zu fassen bekam. Mit Todesverachtung und aller Überwindung, zu der ich fähig war, sprang ich schließlich zurück ins Wasser, und die beiden Freunde zogen mich zu sich hinüber.
Ich sah aus wie eine nasse Ratte, aber ich war gerettet und froh über den Ausgang. Wir trockneten unsere Sachen in der Sonne und blödelten bald schon wieder herum. Aber an diesem Tag wurde mir die Bedeutung eines Seiles bewußt. Ich hatte fast schon die Hoffnung aufgegeben gehabt, noch heil aus dem See herauszukommen. In der kleinen Ewigkeit, bis mir die Freunde den rettenden »Notstrick« zuwarfen, lähmte mich die Ausweglosigkeit meiner Situation. Meine Arme waren zu kurz, um das rettende Ufer oder wenigstens die Hand eines Freundes zu erreichen. Schwimmen konnte ich nicht, und Angst hatte ich obendrein. Ich war auf »technische« Hilfe und eine Sicherung angewiesen.
Von den Normalwegen, den leichtesten Anstiegen auf einen Berg, kam ich sehr bald ab. Das langweilige Dahinstapfen auf ausgetrampelten Pfaden war mir zu wenig, vor allem zu wenig gefährlich und zu wenig abenteuerlich. Ich wollte mehr. Mir sollte es nur recht sein, wenn die Berge höher und die Wände steiler würden. Mit meinem Jugendfreund Sepp Volgger steckte ich die Ziele ein wenig weiter. Wir legten uns sogar ein richtiges Seil zu. Echte Bergsteiger besitzen ein Seil, sagten wir uns, und stopften einen langen Strick in den Rucksack. Am endlos langen Granitgrat der Rieserfernergruppe gelang uns schließlich eine Gesamtüberschreitung. Es wurde eine Erstbegehung daraus. Meine erste.
Wenn ich diese Tour heute wiederhole, wird mir angst und bange, wenn ich daran denke, wie leichtsinnig wir damals unterwegs waren. Unser Schuhwerk war nicht gerade für dieses Gelände geeignet, wir besaßen keinen richtigen Wetterschutz und hatten eigentlich von nichts Ahnung. Der langgestreckte Kamm zeichnet sich über weite Strecken durch brüchiges Gestein aus und weist an vielen Stellen den fünften Grad in der alpinen Kletterskala auf. Anspruchsvolles Gelände also. Unser neues Seil trugen wir voll Stolz mit uns herum – allerdings im Rucksack. Keiner, weder Sepp noch ich, wollte sich eine Blöße geben. Um nichts in der Welt hätte einer gesagt: »Seilen wir uns besser an.«
Wahrscheinlich war dieser falsche Ehrgeiz aber auch unser Glück. Denn wir konnten ohnehin nicht mit dem Seil umgehen. Von Seil- und Sicherungstechnik hatte ich nämlich noch weniger Ahnung als vom Schwimmen. Nicht auszuschließen, daß wir uns gegenseitig aufgehängt hätten, wenn dieser Strick in einer kritischen Situation zum Einsatz gekommen wäre. Er lag schon recht gut dort, tief unten im Rucksack.
Kapitel II
Tausend steile Meter – In den Nordwänden von Langkofel und Peitlerkofel
Je älter ich wurde, um so schneller verflogen die Tage, Monate und Jahre daheim in Ahornach. In den Sechzigern, noch bevor ich erstmals auf den Moosstock wanderte, hatte der Alpinismus zu neuen Höhepunkten gefunden. Es war die Zeit der »Direttissima« und der »Superdirettissima«.
Die allermeisten Wände der Alpen waren durchstiegen. Die junge Generation der Kletterer aber war auf der Suche nach neuen, spektakulären Herausforderungen wieder fündig geworden. Sie wählten jetzt die Linien des fallenden Tropfens, den direkten, kerzengeraden Weg vom Fuß der Wand zum Gipfel. Diese Entwicklung machte natürlich auch vor den Dolomiten nicht halt. Und als Sommerdirettissime nicht mehr für das große Aufsehen sorgten, ging man sie im Winter, möglichst bei klirrender Kälte.
Im Januar 1963, ich war gerade sieben Jahre alt geworden, und es sollte nur noch gut eineinhalb Jahre dauern, bis ich hinter den beiden Fremden her auf die Spitze des Moosstocks steigen würde, bahnte sich an der Großen Zinne eine Sensation an. Peter Siegert, Reiner Kauschke und Gerd Uhner, drei furchtlose Sachsen, die die hohe Kunst des Kletterns im Elbsandsteingebirge gelernt hatten, waren in die schreckenerregende, 550 Meter hohe Nordwand eingestiegen. Ihr Ziel – eine Superdirettissima, geradliniger als alles bisher Dagewesene.