Der Autor

Friedemann Karig – Foto © ©Paul Ripke

FRIEDEMANN KARIG, geboren 1982, studierte Medienwissenschaften, Politik, Soziologie und VWL und schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, das SZ-Magazin, die Zeit und jetzt. Er moderierte das für den Grimme-Preis nominierte Format Jäger&Sammler von funk, dem jungen Online-Angebot von ARD&ZDF. Dschungel ist sein literarisches Debüt, zuvor erschien 2017 sein Buch Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie. Friedemann Karig lebt in Berlin und München.

Das Buch

Er muss ihn finden. Seinen besten Freund, der schon immer auf der Jagd nach dem Extremen war – nie wird er vergessen, wie berauscht Felix neben ihm vor dem felsigen Abgrund stand, unter ihnen ragten die Klippen hervor wie aufgeklappte Messer. Doch selbst Felix sieht es nicht ähnlich, auf einer Reise in Asien spurlos zu verschwinden. Für den Erzähler steht fest: Nur er kann das rätselhafte Abtauchen aufklären. Dafür setzt er sogar seine große Liebe Lea aufs Spiel. Schließlich verbindet ihn mit Felix eine besondere Freundschaft – und ein Geheimnis, das sie ebenso eint wie trennt. Immer tiefer dringt der Erzähler auf seiner Suche in das wilde Kambodscha vor, in dieses nie genesene Land ohne Gedächtnis, immer verzweifelter durchforstet er seine Erinnerungen nach einem Hinweis, was passiert sein könnte. Bis er begreift, dass er den Freund nur retten kann, wenn er mit ihm verschwindet.

Friedemann Karig

Dschungel

Roman

Ullstein

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ISBN: 978-3-8437-2036-6
© 2019 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
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Widmung

Für meine Freunde


We look at the world once,
in childhood.
The rest is memory.
— Louise Glück —

1

Klippe

Ich erinnere mich genau. Wir stehen einen Schritt vom Tod entfernt, aber wir stehen nebeneinander. Vor uns fallen siebzig Meter senkrechte Felswand durch Licht und Luft herab. Die Küste geht links und rechts endlos weiter: Bucht für Bucht, Hafen für Hafen. Das Wasser reicht bis zum Horizont, diesem Anfang, der sich als Ende tarnt. Dahinter Afrika. Unter uns Klippen, scharf wie aufgeklappte Messer, und Wellen, hart wie Beton. Sonst nichts.

Felix musste auf diesen Felsen. Seit der Sekunde, da uns jemand im Ort davon erzählte. Er ahnt, was uns erwartet. Nickt heftig dazu. Starrt mich an, zieht an meinem Shirt. Biegt seine vollen, geschwungenen Lippen, die ihn mit den schmalen Augen und den ins Gesicht hängenden Locken aussehen lassen wie eine Comicfigur, wie eine Verheißung und ein Scherz zugleich.

»Alter«, sagt er, »wie geil muss das da oben sein?« Er steht auf, zeigt in die Luft, nach oben, immer nach oben, setzt sich, steht wieder auf.

Ich weiß schon, was da oben los ist: Wind, Möwen, Touristen. Das Übliche. Aber er lässt nicht locker.

»Das willst du nicht verpassen«, sagt er.

»Doch«, sage ich. Aber ich folge ihm. Er trägt die weißen hohen Nikes, die er slick nennt, ein Wort, das er neulich erst gelernt hat. Kurze Hosen, ein dunkles Shirt, das um seine Schultern flattert. Ich habe die Gitanes in der Tasche meiner Shorts, darüber ein helles Shirt, die New-York-Yankees-Kappe, falschrum. Wir glühen. Wir können alles. Wir sind fünfzehn.

Raus aus dem Ort, über die Düne, den Berg hinauf, immer höher. Hier wachsen keine Pinien mehr, die unten das Land in Schatten baden. Es ist heiß. Das Gras schneidet in unsere Waden. Mücken stechen uns. Sand in unseren Schuhen. Manchmal riecht es so heftig nach Lavendel wie in einer Parfümerie. Felix ist bester Laune. Treibt mich nach oben. Ich bin sein Freund, zusammen sind wir in Südfrankreich, das erste Mal weg von zu Hause. Ich will nicht da hoch, ich habe Höhenangst, er weiß das. Wir kennen uns schon lange. Wir tun so, als wären wir gleich.

»Es gibt keine Höhenangst, Herr Doktor«, erklärt er mir. Seine Arme flattern wie zwei Flügel durch die Luft. »Es gibt nur Fallsucht. Das ist keine Furcht. Sondern Lust! Der Sog der Tiefe. Der Reiz des letzten Schrittes.«

»Was soll daran reizvoll sein?«

»Der Mut. Wer sich das traut, muss sich nie wieder etwas trauen. Alles maximal vereinfachen. Fallen lassen. Klarheit schaffen. In einer letzten Sekunde aufgehen und verschwinden.«

»Ultimativ frei sein«, sage ich. Hoffentlich ist das richtig.

»Exakt, Herr Doktor«, sagt er. Exakt richtig sogar, denke ich. »Wenn man das weiß, hat man keine Angst mehr, sondern Spaß.«

»Voll«, sage ich.

Wir hören auf zu reden. Der Weg ist steil, Geröll liegt herum, keiner will langsamer gehen als der andere. Schweiß rinnt mir in die Augen, ich sehe sowieso nur seine Beine, von hinten. Die Nikes, die Haare an seinen Waden. Ich denke an zu Hause, die Schule, die Qualen nach den Ferien, ich will das hier auskosten. Es war seine Idee. »Wenn schlechtes Wetter ist, lernen wir«, versicherte er meiner Mutter. Die Sonne scheint jeden Tag.

Ich überlege, was ich noch sagen könnte, was ihn zum Lachen bringt. Mir fällt nichts ein. Im Takt unserer Schritte singe ich innerlich ein Lied, nur einen Fetzen, immer wieder: Ich bin der König im Affenstall, der größte Klettermax. Auf den Rest komme ich nicht.

Endlich stehen wir oben, zehn Meter vor dem felsigen Abgrund. Das Meer, die Klippen, der Himmel breiten sich so üppig, so übertrieben blau und weiß und weit und groß vor uns aus, wie von einem angeberischen Gott für einen Fotowettbewerb erschaffen und dann vergessen. Ich muss lachen, gegen den Wind. Sehe auf die Küste hinunter, auf die Felsen, das spritzende Wasser, die Wellen, die Möwen, die See, das Licht der Sonne wie goldener Zucker auf allem. Meine Beklemmung zerfließt wie warme Schokolade. So weit habe ich mich gezwungen, gegen jeden Instinkt! Wenn ich es hier hinaufgeschafft habe, was ist unmöglich für uns?

»Alter«, sage ich.

»Sag ich doch«, ruft Felix.

Er tänzelt auf den Rand zu, dreht sich um zu mir und grinst. Ich grinse zurück und mache ein Victory-Zeichen. »Yeah«, sage ich und wische mir den Schweiß aus dem Gesicht. Ich bin der König im Affenstall. Felix geht rückwärts auf die Kante zu. Immer weiter. Ich setze einen Fuß vor den anderen. Noch fünf Meter. Der Wahnsinn des Falls drückt mir seine Faust in den Magen. Meine Schritte werden weicher, kürzer, langsamer. Wie mein Großvater tapse ich voran. Felix hat sich umgedreht, sieht nicht, wie ich kämpfe. Drei Meter vor der Kante bleibe ich stehen. Gänsehaut an den Beinen, Schwindel im Bauch, ein Schrei in der Lunge. Mein Körper ahmt vor, was mit uns geschieht, wenn ich nicht aufpasse. Aber da ist auch eine Geilheit, ein Rasen im Ohr, ein Halleluja! Ich spüre den Fall. Seinen Fall. Schlimmer als siebzig Meter Leere ist nur, ihn alleine dort stehen zu sehen. Außer Kontrolle. Die ultimative Freiheit.

Also weiter, noch ein Schritt. Der Abgrund ist ein Magnet, eine Mutter und ein Vater. Ich höre ihn zu mir sprechen, undeutliche Worte flüstern wie eine Hellseherin, die uns die Karten legt, nicht glauben kann, was sie sieht, Wundersames und Furchtbares murmelt. Doch der Abgrund ist da. Er will uns bei sich haben. Er braucht uns, und wir brauchen ihn. Wir dürfen ihm nicht zuhören. Ich gehe in die Knie, kann mich nicht mehr aufrecht halten.

»Junge«, sage ich, zwei Meter vom Rand entfernt, »pass auf.« Der Fels ist kahl, kein Grashalm, nichts. Der Wind weht mächtig. Kann eine Böe, stark wie ein Schiff, einen Menschen umwerfen? In welche Richtung würde er fallen? Und wie lange?

»Bequemen Sie sich bitte, Herr Doktor«, sagt er, zum Meer, zu Afrika. »Nur noch ein winziges Stückchen.«

»Vergiss es«, flüstere ich. Aber ich folge ihm, natürlich. Er steht wirklich an der Kante. Seine Zehen ragen beinahe in das Nichts hinein.

»Komm her«, sagt er, »ganz vorn ist der Blick am geilsten.«

Ist er wahnsinnig? Hat er keine Angst? Hat er kein Notprogramm, keine Sicherung? Warum macht er das?

Ich berühre mit den Händen den Boden, krabble mehr, als dass ich gehe. Mache einen letzten Ruck vorwärts, einen halben Schritt, schräg hinter ihn. Plötzlich fällt mir die nächste Zeile des Liedes ein: Ich will so sein wie du. Gehn wie du, stehn wie du! Von meinen Fußspitzen sind es vierzig Zentimeter bis zum Ende. Mein Kopf ist auf Höhe seiner Knie.

»Na los, steh auf.« Er schaut auf mich herab. »Du bist doch kein Hund.«

Ich schließe die Augen. Löse die Hände vom Fels. Drücke die Knie durch, langsam. Ich will so groß sein wie er. Will es schaffen. Gehn wie du, stehn wie du! Will nicht auf ewig daran zurückdenken müssen, wie ich hinter ihm kauerte. Dieser Gedanke streckt meine Beine, richtet mich auf, ich stehe. Ich stehe fast neben ihm!

Wir schauen jetzt beide aufs Meer hinaus. Ein blauer Teppich, nein, eine Decke, über die Welt gebreitet. Eiskalt und warm zugleich. Ich fixiere den Horizont. Atme. Schaue. Ist da ein Schiff? Oder nur ein Schatten? Die Faust wühlt in meinem Bauch. Strom fließt durch meinen Körper, in Wellen, es tut weh, so stark ist der Schwindel. Runterschauen geht nicht. Für ein paar Momente legt sich der Wind. Man hört eine Möwe ihre Freunde rufen. Die Brandung gegen den Felsen schlagen.

Eine Sekunde Stille.

»Traum oder Albtraum?«, sagt Felix.

Ich sehe uns von oben. Zwei Jungen am äußersten Rand einer Steilküste. Der eine, mit den braunen Locken, ganz vorn. Der andere, fast neben ihm, auch er hat Locken, nur dunklere, kürzere. Sie stehen da wie Späher, wie Möwen. Als würden sie gleich abheben und fliegen, über die Kante, in eine andere Welt.

»Traum«, sage ich, will ihm auf die Schulter hauen. Der größte Klettermax. Wenn ich ehrlich bin, will ich ihn sogar umarmen, zur Not von hinten. Aber er würde sofort hinunterstürzen. Ich mit ihm. Wer schlägt zuerst auf? Und wer fällt auf den anderen? Kann der Untere den Oberen retten?

»Hörst du den Abgrund auch?«, fragt er.

Ich denke daran, was in ein paar Jahren aus uns geworden sein wird. Ob wir uns noch kennen, uns oft besuchen. Ob wir vielleicht Nachbarn sind. Wie wir leben, wie unsere Frauen aussehen. Seine blond, meine dunkelhaarig. Oder umgekehrt. Unsere Kinder, die in dem gemeinsamen Garten spielen. Er hat das Haus gefunden.

»Danke«, sage ich, und ich weiß nicht, ob ich den Felix jetzt oder in zehn Jahren meine. Wir stehen einen Schritt vom Tod entfernt, aber wir stehen nebeneinander.


Ich spüre seine Bewegung, bevor ich sie sehe. Meine Instinkte schreien auf. Ich will brüllen, greifen, mich zusammenrollen wie ein verprügelter Boxer, doch bevor ich reagieren kann, macht er einen wiegenden Schritt. Wie ein Tänzer auf das Kommando einer Musik, die nur er hört. Zu schnell für mich.

Aber nicht nach vorn. Nach rechts, dicht vor mich. Wir berühren uns beinah. An meiner Brust, seinen Schulterblättern. Seine Locken wehen mir fast ins Gesicht. Sein dunkelblaues Shirt hat ein sternförmiges Loch auf der rechten Schulter. Ich kann ihn riechen. Er riecht wie Holz. Gescheitetes, trockenes, süßes, totes Holz. Bereit, zu brennen.

»Würdest du mich stoßen, wenn ich darum bitte?«, fragt er in den Wind.

War er das? Oder der Abgrund? Macht die Tiefe mich verrückt? Ich sehe alles schärfer denn je, die Kanten härter gezeichnet, höre den Wind singen, nur für mich. Meine Sinne sind extrem. Ich irre mich nicht.

»Sag jetzt. Würdest du?«, fragt er wieder.

»Bist du dumm?«, antworte ich.

Wir stehen exakt symmetrisch zueinander. Von hinten sieht man nur mich. Von vorn nur ihn. Wir sind eins.

»Ernsthaft«, sagt er, ganz ruhig. »Das muss man doch einmal erlebt haben. Den freien Fall! Die ultimative Freiheit! Würdest du mir das schenken?«

Aber wer sollte uns schon sehen? Eine Möwe, von vorn? Und von hinten? Außer uns ist niemand hier. Niemand kann mir helfen.

»Würdest du mir diesen Wunsch abschlagen?«

Was soll ich dazu sagen? Wenn ich ernsthaft antworte, mache ich mich dann wieder zum Idioten? Will er genau das? Was tut ein bester Freund?

»Würdest du jemanden anderen stoßen, wenn ich dich frage?«

Ich kann hören, dass er die Augen geschlossen hat, wie immer, wenn er seinen Worten Gewicht verleihen will. Langsam, wie ein Turmspringer, breitet er die Arme aus. Das Rasen in meinen Ohren wird unerträglich. Ich beiße die Zähne aufeinander, ziehe mich zusammen, werde kleiner, will nicht fallen. Ich darf ihn nicht berühren! Hätte ich mich bloß nicht so weit vorgewagt!

»Jemand Fremden? Oder auch jemanden, den du kennst?«

»Wen denn?«, frage ich gepresst.

Ein paar Sekunden vergehen. Er fängt an, sich leicht nach vorn zu neigen. Dann nach hinten. Nach vorn in den Tod. Nach hinten zu mir.

»Mama«, singt er leise. »I killed a man. Put a gun against his head. Pulled the trigger, now he’s dead.«

Ich will etwas sagen, aber mein Atem könnte ihn hinunterstoßen. Ich halte die Luft an, bin aus Stein, nutzlosem, hartem, kaltem Stein. Wie der Felsen, auf dem wir stehen. Wie die Klippen, auf die wir fallen. Wie das Wasser.

»Es wäre der perfekte Mord. Keine Zeugen. Keine Spur. Niemand würde dir etwas nachweisen können. Sag doch mal: Was würdest du für mich tun?«

Alles, will ich antworten. Aber komm da weg!

Er beugt sich wieder vor, weiter und weiter, steht schräg in der Luft, den Oberkörper über dem Nichts, dann endlich wieder aufrecht, lehnt sich nach hinten, so dass ich es ihm gleichtun muss, um ihm auszuweichen. Ich denke: Wenn wir uns berühren, stecken wir uns an dem Nichts an. Erst er, dann ich. Fallen beide. Egal, wer zuerst aufkommt, beide wären wir tot. Aber ich kann nicht länger nichts tun. Sein Wiegen ist die Bitte, mich zu entscheiden, ob ich ihm den Stoß geben, ihn aufgeben würde. Oder mich.

»Na, Herr Doktor?«

Und ich entscheide mich.


Warum verschwindet ein Mensch? Wann entschließt er sich dazu? Gibt es den einen Moment? Oder ist es eher ein Durchsickern der Erkenntnis ins Bewusstsein? Ein Filtern, ein Ausprobieren, ein Würzen mit verschiedenen Dosen Ernsthaftigkeit, bis das Verschwinden richtig schmeckt und den Angehörigen serviert wird? Wie plant er das alles? Freut er sich darauf? Und wie genau verschwindet er überhaupt?

Er ist ja immer noch da. Er lebt in den Erinnerungen und Gedanken der anderen fort, als ob er nur kurz Milch holen wäre. Oder verreist. Wenn wir, wie manche behaupten, ohnehin nur auf der Bühne eines anderen Bewusstseins existieren – was genau ist dann der Unterschied zwischen Verreisen und Verschwinden? Dass man vom Verschwundenen die Rückkehr nicht einfordert, sondern ihn darum anfleht? Dass statt des großen Lagerfeuers der Erwartung, um das sich alle scharen, die Hoffnung nur brennt wie eine letzte kleine Kerze bei Stromausfall, misstrauisch beäugt von allen Hinterbliebenen, geschützt und angebetet, aber, und das wissen wir alle: endlich wie jeder Tag und jede Nacht.

Seit Felix verschwunden ist, irgendwo in Asien das letzte Mal gesehen wurde, sich wie eine Wolke im Wind auflöste, seit ich ihm hinterhergeflogen bin, ihn suche und das erste von Hunderten Malen sein Foto hochhielt und have you seen this guy? fragte, seit ich jemand anderes geworden bin, dabei so viel verloren habe und immer noch verliere, seit ich mich erinnere und immer weniger weiß, seit ich hoffte und immer wieder hoffe, dass er einfach um die Ecke kommt, mich angrinst, Herr Doktor zu mir sagt und alles gut sein wird – seitdem habe ich tausendmal an diese Minuten über den Klippen gedacht. Wie wir dicht beieinander stehen. Wie er sich wiegt, vor und zurück. Wie ich erstarre.


Als er sich zum dritten Mal nach vorn lehnen will, springt mein Körper endlich an. Wie ein Roboter, der programmiert wurde, Leben zu schützen. Am liebsten würde ich an ihm vorbeilaufen, ihn vom Abgrund wegstoßen, den Schwung nutzen und selbst springen. Alles ist besser als das hier.

Ich mache einen Schritt nach hinten, beuge mich gleichzeitig vor und packe ihn um die Hüfte. Schlinge meine Arme um ihn, mein Gesicht in seinem Rücken. Spanne alle Muskeln an, ziehe mit aller Kraft, ziehe ihn weg vom Abgrund, zu mir. Erst hält er dagegen, hält wirklich dagegen, hin zum Abgrund, als wäre das ein Spiel. Dann klappt er plötzlich zusammen, ohne Widerstand, fällt auf mich, leicht wie immer, rollt zur Seite und lacht. Er wird eine Viertelstunde lachen, das weiß ich. Er lacht gern so lange. Ich robbe weg vom Rand. Der Wind heult.

»Du kranker Spast«, sage ich, nicht laut, ich kann nicht schreien, mir ist zu schlecht. »Du Russenficker. Schwanzlutscher. Missgeburt. Du bist noch viel dümmer, als ich dachte, wenn du so was lustig findest«, sage ich. »Das nächste Mal schicke ich dich mit einem Arschtritt in die Hölle.« Jetzt werde ich doch laut. »Mehr hast du nicht verdient. Einen Arschtritt, und Ende.« Ich hole Luft, nur kurz, soll ich lachen? Einfach mitlachen? Ist es dann alles witzig?

»Fotzenknecht!«, rufe ich.

»Herr Doktor, jetzt regen Sie sich doch bittschön nicht so auf«, lacht er. »Denken Sie an Ihren Blutdruck!«

»Mutterficker!«

Er springt auf, holt zum Tritt aus, genau in mein Gesicht. Er würde mich voll treffen, ich reiße die Arme hoch, zu langsam. Im letzten Moment stoppt sein Fuß in der Luft. Zentimeter vor meiner Nase. Ich sehe die Sohle seiner Nikes. Slick. Ich sehe seine Schnürsenkel. Sie sind geknotet. Wie immer. Er bindet keine Schleifen.

»Halt’s Maul«, sagt er. Kein Lachen mehr. Ich will noch etwas sagen. Aber er läuft schon los. Nach unten. Ich stehe auf. Ich will nicht hinterherlaufen. Ich will springen. Anlauf nehmen, wie im Schwimmbad, acht Schritte, losrennen und abdrücken und schauen, wie weit ich fliegen kann. Alles maximal vereinfachen.

»Fick dich«, rufe ich. Die Sonne geht hinter der Düne unter. Es wird dunkel. Ich kann ihn einholen, wenn ich jetzt loslaufe. Ich will ihn nicht einholen. Gehn wie du, stehn wie du, uh-hu!

Ich laufe los.


Was wollte er damals von mir? Was will er heute? Warum das alles?

Ich finde keine Antworten.

Also frage ich ihn. In meinem Kopf sitzt er mir gegenüber. Um uns herum ist alles schwarz, wie in einem verlassenen Fernsehstudio. Ein Scheinwerfer steht in der Ecke, blendet mich. Sonst nichts. Ich erzähle ihm jedes Detail meiner Suche. Erzähle ihm von dem Hostel, in dem er das letzte Mal gesehen wurde. Von den Menschen, die mir geholfen haben, und den Menschen, die mich dafür hassten, dass ich ihr Paradies mit meinen Fragen störte. Von dem Piraten, der mich beinahe umgebracht hätte. Von dem Schmuggel und wie ich in jener Nacht zu einem schlechteren Menschen wurde. Was ich verbrochen habe für ihn. Erzähle von dem Boot, dem falschen Italiener, der Insel, von Emma und Ambel, von der Utopie und dem Dschungel, immer wieder vom Dschungel. Von Lea und Lilith und Luca und dem Hippie und Belmondo und Jérôme dem Schweiger und Mama Dita, dem Neuseeländer und all den anderen. Lasse alle, die er kannte oder auch nicht, auftreten wie in einem Puppentheater. Ich erzähle ihm von meiner Suche, als wäre sie sonst nie passiert. So wie ich sie hier erzähle. Fehlerhaft und mangelhaft und eigensinnig, mit verzerrtem Blick, wie durch eine kaputte Linse gefilmt. Aber besser kann ich es nicht. Besser will ich es auch nicht. Es ist das Einzige, was ich mir jetzt erlaube: zu erzählen, was ich erzählen kann. Noch.

Felix, in meinem Kopf, hört zu. Und sagt nichts.

Wo bist du?

Warum?

Keine Antwort.

Aber er beobachtet mich. Bei allem.

Er ist immer da.

Mikronesien

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass mich jemand am Flughafen abholte. Es war das zweite Mal, dass ich flog. Fünfzig Prozent, dachte ich. Gute Quote.

Als die Rollen des Flugzeugs den Boden berührten, lächelte ich, so breit und ungewohnt, dass ich die Muskeln in meinem Gesicht spürte. Die zerbrechliche Erwartung, dass nach der Gangway, den Drehtüren, Treppen, Rolltreppen, dem Zoll, dem Zickzack eines abgesperrten Ganges durch eine leere Halle, den unendlich vielen Tafeln mit der Aufschrift Ausgang / Gepäck und dem bunten Labyrinth von Duty-Free-Schrott, durch das ich mit den anderen Reisenden irrte, jemand meinetwegen hergekommen war, dass sie in ihrem kleinen Auto raus aus der Stadt gefahren war und nun auf mich wartete, breitete sich warm in meinem Bauch aus wie ein großer Schluck Whiskey.

Ich hatte nicht zu dieser Schulung gewollt. Christoph hätte mich auch nicht gezwungen. So ein Chef war er nicht. Aber nein sagen? Nur weil ich fliegen hasste, Hotels mich einsam machten, mir unterwegs immer kalt war?

Lea hatte nur gesagt: »Wenn du fährst, hole ich dich Freitag am Flughafen ab. Dann gehen wir ins Bett. Und stehen erst Sonntagabend wieder auf.«

Also flog ich, überlebte, kam wieder. Also schwor ich mir, es ihr zu sagen, wenn wir zu Hause wären.

Sie stand am Ausgang, zwischen den Fahrern und ihren Schildern, den Familien. Ich sah sie sofort. Wir umarmten uns. Ihre Haare an meiner Wange.

»Du bist klein geworden«, sie küsste mich auf die Stirn.

»Es kommt mir vor, als wäre ich zwei Wochen weg gewesen«, sagte ich, »und nicht zwei Tage.«

»Das kommt davon, weil du so klein bist. Aus deiner Perspektive wirkt alles viel größer und länger.«

»Meinst du?«

»Weißt du eigentlich, wie klein genau du bist?«, fragte sie, hielt ihre Hand dicht vor mein Gesicht, ließ dabei einen Spalt Luft zwischen Daumen und Zeigefinger. »Du bist so klein, du kommst aus Mikronesien und bist hier ganz verloren unter uns Giganten. Aber ich pack dich zu Hause in die Kiste zu den Eiern, da bist du sicher. Dann kannst du auf ihnen runterrutschen.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Na ja, dafür bist du so klein, dass man dich mit bloßen Auge fast gar nicht erkennt.« Wir steuerten Arm in Arm den Ausgang an. »Ich musste dich eben mit der Lupe suchen. Falls ich aus Versehen auf dich drauftrete, Entschuldigung schon mal.«

Sie ließ mich los, ging einen halben Schritt vor mir. Wir liefen wie zwei fröhliche Kinder durch die hellen Hallen zum Parkhaus, wo ihr Wagen wartete. Von sehr weit oben, von einer Raumstation aus betrachtet, waren wir nicht zu unterscheiden. Die Zukunft fühlte sich nicht an wie eine Plastiktüte voller Schrauben und Nägel, das tat sie sonst oft. Sondern wie eine Folge von gemeinsamen Schritten.

»Du bist so klein,« rief sie, »man muss dich unter ein Mikroskop legen und auf tausendfache Vergrößerung stellen. Und selbst dann erkennt man höchstens einen ganz minimal kleinen schwarzen Punkt. Außer, du ziehst mal was anderes an als schwarze Klamotten, damit man dich ein bisschen besser sieht.«

Ich holte sie ein, lief neben ihr durch die Glastüren in die kalte Luft. Um ins Parkhaus zu kommen, mussten wir ein Stück die Straße entlanggehen. Erst im allerletzten Moment würden wir auf die gegenüberliegende Seite wechseln. Wir kannten das Spiel. Gewonnen hatte, wer eine möglichst rechtwinklige Abbiegung nach links über die Straße fand, trotz parkender Autos und Taxis und Busse und anderer Fußgänger. Wer zu früh abbog oder zu lange pokerte und einen Umweg nehmen musste, hatte verloren.

»Du bist so klein«, konterte ich, »man braucht ein Elektrophotonenmikroskop von der NASA und einen Riesen, der durchschaut, um überhaupt mal das zweite Mikro-Mikroskop zu sehen, mit dem man dich dann möglicherweise ausfindig machen könnte.«

Sie lachte und bog ab, vor mir. Ich hielt kurz inne – sie hatte die perfekten neunzig Grad erwischt – jagte ihr hinterher, griff nach ihrem Mantel, doch sie sprang auf den Bürgersteig, war schneller, mir und meinem Koffer einen Schritt voraus. Sie huschte durch die gelbe Tür ins Parkhaus, hielt sie gerade lange genug auf, damit ich auch durchkam. »Eine Treppe runter«, sagte sie, »schaffst du das noch?«

Sie nahm zwei Stufen auf einmal, entwischte mir ins Parkdeck, Ebene 1. Ich entdeckte ihr Auto, wir waren drei Reihen von ihm entfernt. Ich griff noch einmal nach ihr, fasste ihre Hand, zog sie zu mir, sie ließ es geschehen, ich sagte irgendetwas, sie sagte irgendetwas. Zusammen taumelten wir weiter. Vielleicht hätten wir uns geküsst. Vielleicht hätte ich es ihr gesagt, hier zwischen den Autos oder im Auto, im Hausflur, vor unserer Wohnungstüre, in der Küche, im Bett, neben ihr, unter ihr. Alles schien möglich. Gestern, in diesem furchtbar grauen Hotel mit diesen furchtbar grauen Menschen, tödlich bedroht von einer Langweile, so groß wie ein Schiff, hatte ich mir immer wieder vorgestellt, wie ich es ihr sagte, wenn ich endlich zu Hause wäre. Ich hasse Kalendersprüche. Man bereut die Dinge, die man nicht getan, nicht gesagt hat, viel mehr als jene, die man gesagt hat. Der stimmt leider.


Plötzlich stand sie vor uns. Sie hatte kein Gesicht. Nur einen Schatten. Lea zuckte an meiner Hand zusammen, als die schwarze Gestalt zwischen zwei Autos auftauchte und uns in den Weg trat. Mein Herz setzte für eine Sekunde aus.

Erst als sie den Kopf hob, erkannte ich sie. Ihre Haut schien fahl unter den Leuchtröhren. Einzelne silberne Strähnen ­glitzerten in ihrem schwarzen Haar wie nasser Asphalt, dunkel und groß starrten ihre Augen mich an, zwei flache Pfützen der Angst. Unter ihrer spiegelnden Oberfläche lag harter Grund.

»Meine Güte«, sagte Lea erschrocken.

»Dorothée«, sagte ich und atmete aus.

»Entschuldigung. Aber Felix …« Sie schluchzte.

»Entschuldigung, dass ich euch so erschrecke«, setzte sie neu an. Ihre Stimme war plötzlich weicher, eine Oktave höher, als hätte sie die Kassette gewechselt. Ihr Blick hatte etwas Sanftes, sie neigte den Kopf zur Seite, fast kokett. Sie wollte offenbar Frieden. Trotzdem fühlte ich mich, als hätte ich einen Fehler gemacht.

Auch wenn ich später hundertmal darüber nachgedacht habe – im Hostel, auf der Insel, im Dschungel sogar bei jedem Schritt – weiß ich bis heute nicht, ob sie es mit Absicht tat. Sie musste uns beobachtet haben. Musste gesehen haben, dass wir sie nicht bemerkten. Musste diesen bestimmten Moment gewählt haben, um aus dem Schatten zu treten. Sie rief uns nicht, als wir näher kamen, machte sich durch nichts bemerkbar, wartete nicht an Leas Auto. Woher wusste sie überhaupt, dass wir hier waren?

Sie war immer schon unerwartet aufgetaucht. Materialisierte sich wie ein Geist aus ein paar Molekülen Luft. Wurde zwischen zwei Atemzügen zu einem Menschen aus Fleisch und Blut, mit blitzenden Augen und Zorn auf der Stirn, wenn sie Felix zischte, das Kkksssss seines Namens spitz wie eine Nadel. Mit einem Laut schoss sie Gift in die Adern unseres Spiels, das sie störte, wenn wir zu laut waren in Felix’ Zimmer, welches direkt neben ihrem Schlafzimmer lag.

»Ich dachte, ich warte am besten hier unten.« Ihr Blick wanderte an der Reihe der Autos entlang, als wollte sie sichergehen, dass niemand sonst hier war. Dann wandte sie sich wieder mir zu. »Hast du etwas von Felix gehört? In den letzten Wochen?«

Ich dachte nach.

»Nichts?«

Ich spürte, wie Lea mich anschaute.

»Nein, wieso?« fragte ich.

Meine Antwort schien sie nicht zu überraschen.

»Er ist verschwunden«, sagte sie, atemlos, als blieben uns nur zehn Sekunden für diese Unterhaltung. »Seit vier Wochen. Irgendwo in Kambodscha.«

»Wo genau dieses Mal?«, fragte Lea.

Sie sah Lea nicht an.

»An der Küste. Ein kleiner Ort, ein Hostel. Seitdem keine Spur.«

Ich blieb stumm. Ein Auto fuhr langsam an uns vorbei, ein an- und abschwellendes Rauschen. Zwei Lichter. Zwei Menschen. Die Reifen quietschten müde in der Auffahrt. Sie fahren nach Hause, dachte ich.

»Vor einem Monat und zwei Tagen. Eine kurze Nachricht. Ein Foto von ihm. Danach habe ich nichts mehr gehört.«

»Na, so was«, sagte Lea.

Ein Blick ließ sie verstummen. Seine Mutter trat ein Stück näher, schloss unser Dreieck.

»Er hat sich in Luft aufgelöst«, sagte sie, verfiel in ihren üblichen Tonfall. Sie war gewohnt, zu bestimmen. »Kein Lebenszeichen. Die Botschaft weiß nichts. Kein Krankenhaus, keine Polizei, keine Behörde. Es gab kein Flugticket auf seinen Namen. Das haben sie überprüft. Aber er kann mit dem Schiff überall hin sein. Nach Thailand, Vietnam, Malaysia. Auf die Inseln ohne Namen. Und auf dem Weg kann ihm alles Mögliche passiert sein.«

Ihre Worte trafen mich nicht sofort. Der Schreck verfestigte sich erst allmählich. Gerann zu etwas Klebrigem, irgendwo zwischen meiner Brust und meinem Bauch, wurde mit jedem Wort härter und dunkler.

»Ich muss dich um etwas bitten«, sagte sie.


Felix hatte fast dasselbe gesagt. Ein halbes Jahr zuvor, als er sich von mir verabschiedete, einen Tag vor seiner Abreise. Wir hatten uns auf eine Bank in die Sonne gesetzt. Es war kein echter Park. Knappe zwanzig mal zwanzig Meter Grünfläche. Vier Bäume, ein paar Bänke, drum herum zweispurige Straßen. Aber nah bei mir.

»Bitte nimm es mir nicht übel«, sagte er. »Ich muss das alleine machen.«

Schweigend hörte ich ihm zu.

»Sechs Monate, mindestens«, fuhr er fort. »Bleib du hier bei Lea und allem. Und falls mir was passiert, kommst du mich eben holen.«

»Klar«, sagte ich.

»Wenn ich aber einfach keine Lust habe, wiederzukommen«, rief er, »lass mich bloß dort!« Dann lachte er und schnappte nach Luft. Wie immer: Lachen, schnappen, lachen. Als würde er halb ersticken vor Freude. Dazu die braunen Locken. Kurz. Wie kleine Nudeln am Kopf. Es sollte in den Süden gehen. Endlich. Was hatte er nicht schon alles verpasst? Warum hatte er so lange damit gewartet? Er konnte kaum auf der Bank sitzen bleiben. Sprang über den Rasen wie ein Flummi. Hatte den Kopf schief gelegt, als wollte er die Welt absichtlich ein bisschen verkehrt sehen und uns alle damit austricksen. Ein bisschen Verstecken spielen. Ein bisschen zaubern.

Ich saß noch lange auf dieser Bank, um mich herum zwanzig Mal zwanzig Meter Grün, und fragte mich, was ich fühlen sollte. Erleichterung? Enttäuschung? Ich konnte mich nicht entscheiden. Ich wollte, dass er zurückkam und mir sagte, was los war. Mir erklärte, warum er alleine fuhr. Und vor allem, was ich dazu sagen sollte. Aber er kam nicht. Und ich konnte nie wieder aufstehen. Eigentlich saß ich immer noch auf dieser Bank und dachte an ihn. Wie er da unten herumsprang, lachte, schnappte, lachte. Ich saß dort, als er schrieb, wo er war, wen er traf, was er alles erlebte. Ich saß dort, als sie mich anriefen wegen des Jobs. Ich saß dort, als Felix schrieb, ich müsse das unbedingt machen. Ich saß dort, als Lea mir ein Buch schenkte, mit Widmung, in der stand, dass ich immer da sein soll. Ich saß dort, als Felix nicht mehr schrieb, eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen. Ich saß dort und antwortete nicht, weil ich wenigstens einmal der Stärkere sein wollte. Ich saß dort und verfluchte ihn, weil es nicht funktionierte. Ich saß dort, bis seine Mutter vor mir stand und weinte.

»Ich habe keine Ahnung, wo er ist«, sagte sie.

»Er wird schon irgendwo sein«, entgegnete Lea, »sonst hätte er sich doch abgemeldet.«

»Keine einzige Nachricht«, sagte seine Mutter. »An niemanden.«

Nicht mal an mich, dachte ich.

Seit vier Wochen kein Foto. Kein Traumstrand. Kein Flughafen. Kein Zitat irgendeines Schriftstellers, von sonnengebleichtem Papier abfotografiert. Keine neuen Freundschaften mit Ava aus Malmö, Fernando aus Mexico City, Yuval aus Tel Aviv. Keine Locations mit exotischen Namen. Kein Post, kein Beitrag.

Kein Lebenszeichen. Ich hatte das Gleiche gedacht. Und es dann wieder vergessen. Oder besser: wegsortiert wie eine längst beglichene Rechnung. Ich brauchte keine Statusmeldung von ihm. Er wusste, wo er mich finden konnte: auf der Bank, wo er mich zurückgelassen hatte.

»Und das heutzutage, wo man überall Netz hat«, sagte sie. »Wenn ihm etwas passiert ist …« Ihre Stimme versagte.

Passiert? Was denn? Was sollte mit ihm sein? Vom Motorrad gefallen, überfahren, Genickbruch, Stromschlag, ertrunken? Von einem Laster angefahren, gegen eine Hauswand geschleudert, reglos liegen geblieben im Dreck? Ermordet, mit einem Messer, fünf Mal in den Hals, bis das Blut spritzte? Eine Steilküste hinuntergestürzt?

»Dorothée«, begann ich, Leas Blick auf mir, hundert Kilo schwerer als noch eine Minute zuvor.

»Ganz ehrlich«, unterbrach mich Lea. »Vielleicht hat er sein Handy verloren. Oder es absichtlich ausgeschaltet. Ihr kennt ihn doch auch, besser als ich, er ist stur, er macht, was er will …«

Dorothée musterte sie wie einen seltenen Vogel.

»Es kann alles Mögliche sein«, warf ich ein, ohne nachzudenken. »Was Lea meinte …«

Seine Mutter packte mich am Handgelenk. An ihrem Arm klimperten die Armreifen. Sie war so nah, dass ich sie riechen konnte. Sie roch wie früher. Wie ein Bonbon, hatte ich als Kind gedacht, wie ein Geschenk. Mit ihren glänzenden Haaren und den grünen Augen, dem Lippenstift, der Wimperntusche. Mit ihrer Stimme, die nach Geheimnissen klang. Sie trug immer noch ihre honigfarbene Bernsteinkette. Jeans und Trenchcoat. Unter den Tränen sah sie gut aus.

Sie kennt mich mein Leben lang, dachte ich. Manchmal, ganz selten, hatte sie Felix geschlagen. Nicht fest, nur ein Klaps auf den Mund. Wenn er Schimpfwörter benutzte, die wir von der Straße hatten. Dann schlackerte ihre Kette, das Bonbon wurde giftig, das Geschenk eine Strafe. Sie kaufte uns später ein Spielzeug, damit wir niemanden etwas erzählten.

»Hör auf mit den Sprüchen«, fuhr sie mich an. »Es sind jetzt vier Wochen und zwei Tage. Er würde mir das nicht antun. Wo ist er?«

Ich schaute zu Lea. Sie schaute zu mir. Ich schaute zu Doro­thée. Sie ließ mich nicht los.

»Dafür gibt es Profis, die Polizei, was weiß ich«, sagte Lea. »Die finden ihn nachher irgendwo am Strand, er hat jemanden kennengelernt, einfach vergessen, was zu sagen, wetten?«

Ich blieb stumm.

»Ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt«, sagte seine Mutter. »Aber sie können nichts machen. Sie kennen ihn nicht. Für sie ist er nur ein Gesicht auf einem Ausdruck. Irgendein Weißer, der irgendein Problem hat. Der ihnen ein Problem macht. Sie haben keine Ahnung.« Sie ließ meinen Arm los. »Aber du. Du kennst ihn. Du kannst ihn finden.«

Ihre Augen fixierten erst mein linkes Auge, dann mein rechtes. Links, rechts. Ihr Blick wechselte immer schneller hin und her.

»Oder?«

Woher wusste sie eigentlich, dass ich hier sein würde? Warum hatte sie nicht angerufen? Hatte sie Angst, dass ich nicht rangehen würde? Mich vor ihr verstecken würde?

Sie wusste genau, dass Felix sich nicht bei dir gemeldet hat. Und sie hat so lange gewartet, zu dir zu kommen, wie sie nur konnte. Sie ist am Ende.

Während ich nach einer Antwort suchte, nahm sie meine Hand, dieses Mal ganz behutsam. Ich hätte ausweichen können. Ich tat es nicht. Sie war warm und weich. Sie schloss ihre Finger um meine. Felix hatte die gleichen Hände.

»Was, wenn er tot ist?«

Konnte jemand wie Felix einfach sterben? Die Augen schließen und aufhören zu atmen? Auf einem Operationstisch, der letzte Herzschlag ein durchdringender Ton der Maschine, die Ärzte verschwitzt, hilflos, zu viel Blut verloren, zu spät gefunden, Ende? Irgendwo, wo ihn keiner kannte, Tausende Kilometer weg von zu Hause? Wo keiner wusste, wer er war? Wo keiner wusste, was die Narbe unter seinem Kinn bedeutete, wo keiner gesehen hatte, wie wir zusammen auf dem Dreimeterbrett federten, den anderen an den Schultern gepackt, die Gesichter kaum eine Kinderarmlänge voneinander entfernt. »Schneller, komm schon!«, hatte er geschrien, wir sangen ein Kinderlied, an das ich mich nicht mehr erinnere, irgendwas mit einem Mädchen und einem Sprungbrett, immer lauter schrien wir, und ich rutschte ab, riss ihn mit. Sein Kopf schlug auf dem Brett auf, er muss den Himmel vor Augen gehabt haben, als wir fast gleichzeitig ins Becken stürzten, Blut im Wasser, überall, sein regloser Körper auf dem heißen Stein, fünf Stiche.

Und der sollte einfach tot sein? Ohne dass ich davon wusste?

Völlig unwahrscheinlich, hätte Felix selbst dazu gesagt, mir in die weiche Stelle zwischen Nacken und Schulterknochen gegriffen, die keinen Namen hat. Völlig unwahrscheinlich, Herr Doktor. Es muss eine plausiblere Alternative geben. Es gibt immer eine.

Seine Stimme in meinem Kopf. Sie klang näher als sonst. Und gleichzeitig nicht echt, nicht wie meine Erinnerung. Sondern wie eine billige Computersimulation.

Nein, dachte ich. Dem großen Felix ist nichts passiert. Völlig unwahrscheinlich.

Die viel plausiblere Variante: Er lebt. Es geht ihm gut. Er beobachtet uns. Nicht von oben, wie es die Toten tun. Sondern von der anderen Seite der Welt. Er sieht eine Frau und einen jungen Mann und eine junge Frau. Eine Mutter und einen Freund und dessen Freundin. In einem Parkhaus in Deutschland. Sie sprechen leise miteinander, damit niemand sie hört. Die Mutter kommt dem Freund nahe. Er kann sich nicht entziehen. Kann das Geschenk nicht ablehnen. Schaut nach links, rechts, auf den Boden.

Das würde Felix gefallen. Eine Szene nach seinem Geschmack. Als hätte er das alles geplant. Wie ein Regisseur Licht und Kamera eingestellt, die Figuren angeordnet, ihnen Text gegeben. Anweisungen erteilt, wann wer wen berührte, packte, zu weinen begann.

»Ich muss wissen, was mit ihm ist«, sagte seine Mutter, ließ er sie sagen, und das Wasser in ihren Augen stieg. Tränen liefen los, über ihr Gesicht, Richtung Bernsteinkette, nach Süden. »Wenn ihn einer finden kann, dann du.«

Sie hatte recht. Er hatte recht. Jemand musste beweisen, dass die zweite Variante plausibler war als die erste. Dass Felix nicht einfach so verschwand. Jemand musste ihn suchen. Und finden. Jemand, der wusste, woher die Narbe an seinem Kinn stammte. Ich war die perfekte Besetzung.

Sie drückte meine Hand. Ich drückte ihre Hand. Das war meine Antwort. Das war meine Rolle, war sie immer gewesen.

Lea sagte nichts.

»Ich habe dir einen Flug gebucht, eben am Schalter … Für morgen früh. Sie brauchen noch deinen Ausweis. Am besten, wir gehen sofort zurück.«

Lea starrte mich wortlos an.

»Ich kann dich nach Hause bringen«, schob Dorothée hinterher.

Ich holte Luft. Dann sagte ich: »Fahr schon mal vor, Lea.«

Milchzähne

Unsere Geschichte beginnt mit meiner Faust. Sie landete genau auf seinem Kinn. Ich hatte nicht bewusst gezielt. Es war ein Reflex gewesen, ein uralter Bewegungsablauf, ein Algorithmus des Angriffs, der schon Millionen Fäuste auf Millionen Kinne geführt hatte. In allen von uns, unter den Autobahnen des Bewusstseins, hinter der Vernunft und der Moral, existiert eine Abkürzung: Sie führt vom Schmerz, der einen verbrennt, direkt zur Rache, mit der man ihn kühlt. Sie muss nur eine kaum merkbare Kurve nehmen, welche die Frage berührt, ob man zu Recht verletzt wurde. Hat man sie passiert, ohne sich allzu schuldig zu fühlen, gibt es keinen Halt mehr. Jahrmillionen der Evolution übernehmen. Nicht ich schlug zu, sondern die Spezies Mensch an sich. Wir waren einsam, wir waren hart, wir waren sieben.

Mein Arm und meine Faust spannten sich, fuhren zurück wie der Bolzen eines Gewehrs, um dann mit aller Kraft nach vorn zu schnellen. Sobald meine Haut seine Haut berührte, übertrug sich die kinetische Energie meiner Knöchel auf seinen Kieferknochen, sein Kopf fiel in den Nacken, ich vornüber, fing mich jedoch und sah, was ich getan hatte. Adrenalin schoss durch meinen Körper, berauschte mich für einige kostbare Sekunden, klang ab. Der Reflex war vorüber.

So versuchte ich es der Lehrerin zu erklären, die gerannt kam und das Blut sah.

»Reflex?«, schrie sie. »Was für ein Reflex?«

Der Anführer stand gebückt, eine Hand vorm Gesicht. Die andere hielt einen Helfer auf Abstand. Zwischen seinen Fingern lief Blut. Mit einem Mal kehrten meine Sinne von ihrem Blitzkrieg zurück. Ich war nicht mehr meine Wut, sondern nur noch ich. Ein Mensch. Mit Blut an der Hand.

Die Zähne wie helle Kiesel auf dem Boden. Drei, zählte ich.

Drei auf einen Schlag.

Alles hatte damit angefangen, dass er und seine Leute wieder einmal etwas wollten, was dem Tobi, meinem Nachbarn, gehörte. Der Anführer kam gern zu fünft, zu sechst, und verlangte etwas von uns. Tobi und ich, wir waren nur zu zweit. Wir versuchten, die glitzernden Sachen zu verstecken. Am Morgen war Tobi mit einer dieser Pistolen in die Schule gekommen, eine Spielzeugwaffe mit ringförmiger Munition, sechs Schuss, die ordentlich knallten. Die Dinger waren verboten in der Schule. Der Tobi hatte sie trotzdem dabei. Es würde Ärger geben, so oder so.

Der Anführer, einen Kopf kleiner, baute sich vor ihm auf und sagte: »Ihr wollt Krieg spielen? Findest du Krieg gut?«

Die Luft wurde dicker, süßer, wärmer. Wie immer, wenn Menschen, und seien sie nur sieben Jahre alt, Gewalt riechen. Wenn alle Wahrnehmung sich plötzlich auf zwei Optionen verengt: Angriff. Oder Flucht.

»Findest du es gut, wenn Menschen getötet werden? Bist du ein Mörder?«

»Lass mich in Ruhe, ist doch nur Spielzeug«, sagte der große Tobi und drehte sich weg. Ein Fehler. Er zeigte Schwäche, er war ein Opfer. Der Anführer erkannte so etwas sofort. Seine Leute rückten näher.

»Das ist kein Spielzeug. Das ist Krieg«, sagte er.

»Sind nur Platzpatronen«, rief der Große verzweifelt und schaute sich um, ob ihn jemand retten würde. Ich starrte auf den Anführer. Was wollte er? Die Pistole? Oder ging es um etwas anderes, Dunkleres?

»Willst du sagen, dass ich lüge?«, rief er.

»Nein, aber …«

»Also willst du Krieg?«

»Nein.«

»Du nennst mich einen Lügner?«

Tobi blieb stumm.

»Gib mir die Waffe!«

»Das ist keine Waffe!«

»Du sagst schon wieder, dass ich lüge, du Mörderschwein!«

»Ich bin kein …«

»Halt’s Maul, Mörder!« Er versuchte, die Pistole an sich zu reißen, doch der große Tobi umklammerte sie. Der Anführer drehte ihm die Hand um, die Finger quetschten sich im Abzug, der Tobi bettelte, »lass los«, der andere ließ nicht los, drehte weiter, bis etwas knackte und Schüsse über den Schulhof knallten: BAMMBAMMBAMMBAMM!

Der große Tobi stieß ihn endlich weg, zur Seite, genau auf mich. Die Schuhsohle des Anführers brannte über mein Schienbein, ich fiel hintenüber, der Schmerz war heiß, machte mich blind. Und als er so vor mir stand, mich überrascht anschaute, als wäre ich eben noch nicht da gewesen, als müsse einer wie er einen wie mich gar nicht beachten, als hätte ich auszuweichen, wenn er auf mich fiel, in diesem Moment nahm meine Faust die Abkürzung und schlug zu. Er hatte angefangen. Er hatte es verdient.

Wieso waren Pistolen auf einmal schlecht? Wieso konnte er das entscheiden? Für wen hielt er sich, wer war er?

Meine Fragen schlugen auf ihn ein, und gleich die erste landete genau unter seinem Kinn. Er wehrte sich nicht, nahm den Schlag, als hätte er ihn bezahlt. Sein Mund explodierte in einer Fontäne Blut, ich ließ von ihm ab. Wir standen voreinander, als drehte sich die Welt nur um uns.

»Ein Reflex?«, schrie die Lehrerin noch mal. »Wir werden ja sehen, ob die Mutter von Felix auch findet, dass es ein Reflex war!«

Mein Herz pumpte.

Jugendstrafe, dachte ich. Lebenslang.

Und: Felix. So hieß also der Junge, der mich in den Knast bringen würde.

Ich war sieben Jahre alt und hatte keine Ahnung, was sich hinter dem Wort Jugendstrafe tatsächlich verbarg. Es geisterte in unseren Klassenzimmern herum, raunte über Pulte und Stühle wie ein kalter Wind. Jugendstrafe, das war das Ende, oder fast, denn man musste sie ja noch absitzen. Ich sah mich, kahlrasiert und ausgemergelt. Wie die Gefangenen in einer Dokumentation, die wir heimlich gesehen hatten, als ich beim großen Tobi übernachtete. Er hatte einen eigenen Fernseher im Zimmer. Unser Tor zur Welt. Die Insassen schlurften auf die Kamera zu, kamen mir immer näher. Einer von ihnen hatte mein Gesicht. Er sah aus wie mein unterernährter, geschundener Zwillingsbruder.

»Er kann nichts dafür. Es war ein Reflex«, sagte Felix. »Sie brauchen meine Mutter nicht anzurufen.« Es klang, als würde ihn das wütender machen als der Schlag. »Sie weiß sowieso alles. Sie hat ein Fernglas, mit dem sie mich immer sehen kann.«

Er hatte sich aufgerichtet. In seinem Blick entdeckte ich ein entferntes Leuchten. Eine lodernde Gestalt spiegelte sich in seinen Augen. Das war ich! Ich sah mich, auf dem Schulhof, mit Blut an der Hand. Blanker Kopf. So gut wie tot.

»Die haben angefangen«, sagte ich, wähnte mich im Recht. Aber meine Stimme quäkte schwach. So klang ein Geständnis.

Felix blinzelte. Er sah aus, als träfe er eine Entscheidung. Ich suchte mich noch einmal in seinem Blick. In seinen Augen stand ich aufrecht. Ich hatte Partei ergriffen, die richtige. Gegen ihn.

Ich konnte mich sehen, wie er mich sah.

Ich sah besser aus, als ich mich je selbst gesehen hatte.

Ich war kein Häftling. Ich war ein Held.

»Das waren sowieso nur Milchzähne«, sagte er zu der Lehrerin, klar und deutlich, als wäre nichts geschehen. Eine Blutspur zog sich über seinen Pulli. »Also, regen Sie sich ab.«

Er streckte eine Hand zu mir aus. Seine Geste war das Gegenstück zu meiner Faust. Nicht er reichte mir die Hand, sondern die Spezies Mensch. Es war das größte Angebot.

»Komm, wir machen Frieden«, sagte Felix.