UND SEIN SOHN ALEXEJ
von
DMITRI MERESCHKOWSKI
Historische Roman-Trilogie
Übersetzt von
Alexander Eliasberg
BAND 2
Dieses Buch ist Teil der BRUNNAKR Edition: Fantasy, Historische Romane, Legenden & Mythen.
BRUNNAKR ist ein Imprint des apebook Verlags.
Nähere Informationen am Ende des Buches oder auf:
www.apebook.de
1. Auflage 2020
V 1.0
ISBN 978-3-96130-344-1
Buchgestaltung/Coverdesign: SKRIPTART
www.skriptart.de
Alle Rechte vorbehalten.
© BRUNNAKR/apebook 2020
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Der
“CHRIST UND ANTICHRIST”-Zyklus
von Dmitri Mereschkowski
JULIANUS APOSTATA (3 Bände)
LEONARDO DA VINCI (3 Bände)
PETER DER GROSSE (3 Bände)
Der erste Band der drei Trilogien ist jeweils kostenlos!
Inhaltsverzeichnis
Peter der Grosse. Band 2
Impressum
Viertes Buch. Die Überschwemmung.
I
II
III
IV
Fünftes Buch. Gräuel der Verwüstung
I
II
III
IV
V
Sechstes Buch. Der Zarewitsch auf der Flucht.
I
II
III
IV
V
VI
VII
Siebentes Buch. Peter der Große.
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
Eine kleine Bitte
"Christ und Antichrist" Gesamtüberblick
BRUNNAKR Edition
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A p e B o o k C l a s s i c s
N e w s l e t t e r
F l a t r a t e
F o l l o w
A p e C l u b
L i n k s
Zu guter Letzt
Bei der Gründung Petersburgs warnte man den Zaren, dass der Ort wegen der sich ständig wiederholenden Überschwemmungen unbewohnbar sei, dass vor zwölf Jahren das ganze Land bis Nienschanz überschwemmt gewesen sei und dass ähnliche Katastrophen fast alle fünf Jahre wiederkehrten; die Urbewohner der Newa-Mündung hätten sich niemals dauerhafte Häuser, sondern nur kleine Hütten gebaut; und wenn sie aus verschiedenen Anzeichen eine Überschwemmung erwarteten, hätten sie ihre Hütten niedergerissen, die Balken und Bretter zu Flößen verbunden, diese an die Bäume befestigt und sich selbst auf den Berg von Puderhof gerettet. Peter hielt aber die neue Stadt eben wegen dieses Überflusses an Wasser für ein »Paradies«. Er selbst liebte das Wasser wie ein Wasservogel und hoffte, auch seine Untertanen hier schneller als anderswo ans Wasser gewöhnen zu können.
Ende Oktober 1715 begann das Eis sich zu stellen, es bildete sich ein Schlittenweg, und man erwartete einen frühen und ordentlichen Winter. Aber plötzlich begann es zu tauen. In einer einzigen Nacht war alles wieder geschmolzen. Der Wind brachte vom Meer einen feuchten, dumpfen, gelben Nebel, von dem die Menschen krank wurden.
»Ich bete zu Gott, dass er mich aus diesem, dem Untergang geweihten Ort herausbringe«, schrieb ein alter Bojare nach Moskau. »Ich fürchte ernstlich, hier zu erkranken. Seitdem es taut, ist die Luft von einem so durchdringenden Geruch und einem so dichten Nebel erfüllt, dass man unmöglich sein Haus verlassen kann; viele Leute sterben in diesem Paradies von der schlechten Luft.«
Der Südwestwind hielt ununterbrochen neun Tage an. Das Wasser der Newa stieg. einige Mal schien eine Überschwemmung zu beginnen.
Peter erließ Ukase, in denen den Bewohnern befohlen wurde, ihre Habe aus den Kellerwohnungen zu schaffen, Boote bereitzuhalten und das Vieh auf höher gelegene Plätze zu treiben. Aber jedes Mal fiel das Wasser wieder. Der Zar merkte, dass seine Ukase das Volk beunruhigten, und da er aus nur ihm allein bekannten Anzeichen schloss, dass keine allzu große Überschwemmung kommen würde, schenkte er dem Steigen des Wassers keine Beachtung mehr.
Am 6. November sollte die erste Assemblee dieses Winters im Haus des Präsidenten des Admiralitätskollegiums, Fjodor Matwejewitsch Apraxin, auf dem Kai, der Admiralität gegenüber, neben dem Winterpalais stattfinden.
Am Tag vorher war das Wasser wieder gestiegen. Erfahrene Leute prophezeiten, dass diesmal ein ernsthaftes Unglück kommen werde. Man teilte auch die Anzeichen mit: die Küchenschaben wären im Schloss aus dem Keller auf den Dachboden gekrochen; die Mäuse hätten die Mehlspeicher verlassen; die Zarin hätte im Traum Petersburg von einer Feuersbrunst ergriffen gesehen: eine Feuersbrunst bedeute aber im Traum immer eine Überschwemmung. Sie hatte sich nach ihrer Entbindung noch nicht vollkommen erholt und konnte daher ihren Gemahl zur Assemblee nicht begleiten; sie flehte ihn aber an, er möchte nicht hinfahren.
Peter las in allen Blicken jene alte Furcht vor dem Wasser, gegen die er sein Leben lang vergeblich gekämpft hatte: »Das Unglück kommt vom Meer, das Ungemach vom Wasser; wo Wasser ist, da ist auch die schwere Not; auch der Zar kann dem Wasser nicht Halt gebieten.«
Man warnte ihn von allen Seiten, man ließ ihm keine Ruhe und setzte ihm so zu, dass er schließlich verbot, auch nur ein Wort von der Überschwemmungsgefahr zu sprechen. Den Oberpolizeimeister Devier hätte er beinahe mit seinem Stock durchgeprügelt. Irgendein Bauer brachte die ganze Stadt in Aufruhr, indem er prophezeite, dass das Wasser die hohe Erle, die am Newaufer bei der Dreifaltigkeitskirche stand, bedecken würde. Peter befahl die Erle zu fällen und den Bauer an derselben Stelle unter Trommelwirbel und »eindringlicher Verwarnung« an das Volk mit der Knute zu bestrafen.
Kurz vor der Assemblee kam Apraxin zum Zaren und bat ihn um Erlaubnis, das Fest in seinem großen Haus und nicht, wie es früher üblich war, im kleinen Nebengebäude veranstalten zu dürfen, das sich im Hof befand und mit dem Hauptgebäude durch eine schmale Glasgalerie verbunden war; im Fall eines plötzlichen Steigens des Wassers konnte diese Galerie gefährlich werden, weil die Gäste von der Treppe, die ins obere Geschoss führte, abgeschnitten sein würden. Peter wurde für einen Augenblick nachdenklich, bestand aber doch auf seinem Willen und befahl, die Assemblee wie sonst im Seitenflügel abzuhalten.
»Die Assemblee«, hieß es im Ukas des Zaren, »ist eine ungezwungene Versammlung und dient nicht nur zum Zeitvertreib, sondern auch zur Erledigung ernster Angelegenheiten.
– Der Gastgeber ist weder verpflichtet, die Gäste zu empfangen, noch sie hinauszubegleiten oder zu bewirten.
– Die Besucher einer Assemblee dürfen nach Belieben sitzen, herumgehen oder spielen; es ist bei Strafe des Großen Adlers verboten, irgendwem Zwang anzutun oder etwas zu verbieten, oder durch Aufstehen, Hinausbegleiten oder ähnliche Zeremonien Ehre zu erweisen.«
Die beiden Räume – in dem einen wurde gegessen und getrunken, in dem anderen getanzt – waren sehr geräumig, hatten aber außerordentlich niedrige Decken. Im ersten Zimmer waren die Wände wie in einer holländischen Küche mit blauen Kacheln bekleidet; auf den Wandborten stand Zinngeschirr; der Backsteinfußboden war mit Sand bestreut, und der riesengroße Kachelofen tüchtig eingeheizt. Auf einem der drei langen Tische stand der Imbiss: die von Peter bevorzugten Flensburger Austern, gesalzene Zitronen und Sprotten; auf einem zweiten standen Dame- und Schachbretter; auf dem dritten Tabakspäckchen, Körbe voller Tonpfeifen und Berge von Holzspänen zum Anzünden. Die Talgkerzen brannten trübe in den Rauchwolken. Das niedrige, überfüllte Zimmer erinnerte an einen Schifferkeller irgendwo in Plymouth oder Rotterdam. Die Ähnlichkeit wurde durch die Menge englischer und holländischer Schiffermeister noch vervollständigt. Ihre rotbackigen, dicken, glatten, gleichsam lackierten Frauen saßen mit Wärmflaschen unter den Füßen, strickten Strümpfe, plauderten und fühlten sich offenbar wie zuhause.
Peter rauchte aus einer kurzen Tonpfeife Knaster, trank ein Gemisch aus warmem Bier, Kognak, Kandiszucker und Zitronensaft und spielte Dame mit dem Archimandriten Fedoss.
Ängstlich gekrümmt und wie ein schuldbewusster Hund schleichend, näherte sich dem Zaren der Oberpolizeimeister Anton Manuilowitsch Devier, ein Portugiese oder, wie andere meinten, ein Jude mit weibischem Gesicht und jenem süßlichen und schwächlichen Gesichtsausdruck, den zuweilen die Südländer haben.
»Das Wasser steigt, Majestät.«
»Wie viel?«
»Zwei Fuß neun Zoll.«
»Und der Wind?«
»Westsüdwest.«
»Du lügst! Soeben habe ich selbst nachgesehen: es ist Südwestsüd.«
»Der Wind ist umgeschlagen«, entgegnete Devier mit einem solchen Ausdruck, als ob er für die Windrichtung verantwortlich wäre.
»Macht nichts«, sagte Peter entschlossen, »das Wasser wird bald wieder fallen. Das Barometer deutet auf Abnahme des Luftdruckes. Das Barometer betrügt mich nicht!«
Er glaubte an die Unfehlbarkeit des Barometers ebenso unerschütterlich wie an jede Mechanik.
»Geruhen Majestät nichts zu befehlen?«, flehte Devier. »Ich weiß gar nicht, was ich anfangen soll. Man hat große Angst. Erfahrene Leute meinen ...«
Der Zar sah ihn scharf an.
»Einen von diesen Erfahrenen habe ich bei der Dreifaltigkeitskirche durchprügeln lassen; auch dir steht dasselbe bevor, wenn du mich nicht in Ruhe lässt. Mach, dass du fortkommst, Dummkopf!«
Devier krümmte sich zusammen wie die freundliche Hündin Lisette, wenn man ihr mit einem Stock drohte, und verschwand.
»Was sagst du also, heiliger Vater, zu diesem ungewöhnlichen Glockengeläut?«, wandte sich Peter an Fedoss, indem er das Gespräch wieder aufnahm; die Rede war von dem kürzlich eingelaufenen Bericht, dass in Nowgorod die Kirchenglocken nachts auf eine unerklärliche Weise ganz von selbst dröhnten; der Volksmund behauptete, dass dieses Dröhnen auf ein nahendes Unglück hinweise.
Fedosska strich sich seinen schütteren Bart, spielte mit dem Brustmedaillon, das auf der einen Seite ein Kruzifix und auf der anderen ein Bildnis des Zaren trug, schielte nach dem Zarewitsch Alexej, der in seiner Nähe saß, und kniff gleichsam zielend ein Auge zu; plötzlich nahm sein winziges Gesichtchen, das Gesicht einer Fledermaus, einen ungemein schlauen Ausdruck an.
»Was jenes stumme Dröhnen die Menschen lehren soll, kann ein jeder, der Verstand hat, selbst begreifen: es ist klar, dass es vom Bösen kommt; der Satan weint, dass sein Zauber aus den russischen Völkern, aus den Besessenen, den Raskolniki und den scheinheiligen Greisen, um deren Besserung Eure Majestät so sehr besorgt sind, ausgetrieben wird.«
Fedosska brachte die Rede auf sein Lieblingsthema und begann von der Schädlichkeit des Mönchtums zu sprechen.
»Die Mönche sind Tagediebe. Sie fliehen vor den Steuern, um ihr Brot umsonst zu essen. Welchen Nutzen hat die Gemeinschaft davon? Sie verachten ihren früheren bürgerlichen Stand und schieben ihn der Eitelkeit dieser Welt zu? Sie sagen auch immer: Wer ins Kloster geht, hat vorher dem irdischen Zaren gedient und will nun dem himmlischen Zaren dienen. In ihren Einöden leben sie wie das Vieh. Sie überlegen sich gar nicht, dass ein wirkliches Einsiedlerleben in Russland des kalten Klimas wegen unmöglich ist.«
Alexej merkte, dass Fedoss mit den »Scheinheiligen« auf ihn anspielte.
Er erhob sich. Peter warf ihm einen Blick zu und sagte:
»Bleib sitzen.«
Der Zarewitsch setzte sich demütig hin und schlug, wie er selbst fühlte, mit einem hippokratischen Gesicht die Augen nieder.
Fedosska war im Schwunge durch die Aufmerksamkeit des Zaren, der sein Notizbuch zur Hand genommen hatte und Notizen für geplante Ukase machte, ermutigt, schlug er immer neue Maßregeln vor, die scheinbar die Besserung, tatsächlich aber, wie es dem Zarewitsch schien, die gänzliche Ausrottung des Mönchtums in Russland bezweckten.
»In den Mönchsklöstern soll man nach dem Reglement Hospitäler für gediente Dragoner errichten, auch Schulen für Rechnen und Geometrie, in den Nonnenklöstern Bewahranstalten für uneheliche Kinder; die Nonnen sollen sich durch Spinnen für die Manufakturen ernähren ...«
Der Zarewitsch gab sich Mühe, nichts zu hören; einzelne Worte klangen ihm aber wie gebieterische Zurufe in den Ohren:
»Der Verkauf von Honig und Öl in den Kirchen ist strengstens zu verbieten. Das Lichtanzünden vor Ikonen, die außerhalb der Kirchen stehen, ist zu untersagen. Die Kapellen sind niederzureißen. Neue Reliquien sind nicht zu kanonisieren. Bettler sind zu verhaften und grausam mit der Knute zu züchtigen ...«
Die Fensterläden erbebten unter dem Anprall des Windes. Ein Lufthauch flog durchs Zimmer und ließ die Flammen der Kerzen erzittern. Es war, als ob eine riesige feindliche Macht das Haus stürmen wollte. Alexej fühlte in Fedosskas Worten die gleiche böse Macht, den gleichen Sturmwind von Westen.
Im zweiten, als Tanzsaal dienenden Zimmer waren die Wände mit gewebten Tapeten überzogen; in den Zwischenräumen zwischen den Fenstern hingen Spiegel; in Messingleuchtern brannten Wachskerzen. Auf einem kleinen Podium saßen die Spielleute mit ihren ohrenbetäubenden Blasinstrumenten. Die mit dem allegorischen Bild »Die Fahrt nach der Insel der Cythere« geschmückte Decke war so niedrig, dass die nackten Amoretten mit den dicken Waden und Schenkeln beinahe die Perücken der Tanzenden berührten.
Die Damen saßen während der Tanzpausen stumm und starr da; wenn sie tanzten, hüpften sie wie aufgezogene Puppen; auf alle Fragen antworteten sie mit einem »Ja« oder »Nein«; wenn man ihnen Komplimente machte, warfen sie wilde Blicke um sich. Die Töchter schienen an die Röcke der Mütter angenäht zu sein; und auf den Gesichtern der Mütter stand geschrieben: »Lieber würden wir unsere Töchter ins Wasser werfen, als sie zu diesen Assembleen bringen!«
William Iwanowitsch Mons sagte zu derselben Nastenjka, die in einen Gardemarin verliebt war und während des Venusfestes im Sommergarten über seinen Brief geweint hatte, Komplimente, die er aus einem deutschen Buch übersetzte:
»Durch den häufigen Anblick Ihrer an einen reizenden Engel gemahnenden Gestalt ist in mir ein so heißes Verlangen, ihre Bekanntschaft zu machen, entbrannt, dass ich dasselbe nicht länger verheimlichen kann und es Ihnen mit der Ihrer würdigen Ehrfurcht enthüllen muss. Ich wünschte von Herzen, dass sie in mir eine gewandte Person finden möchten, die imstande wäre, Ihnen, meine Dame, durch ihre Sitten und angenehme Konversation volle Befriedigung zu verschaffen; da aber meine Natur zu solchem Zeitvertreib wenig geeignet ist, haben Sie die Gnade, sich mit meiner ergebensten Treue und Dienstfertigkeit zu begnügen ...«
Nastenjka hörte gar nicht zu; seine eintönig summenden Worte schläferten sie ein. Später klagte sie ihrer Tante über ihren Kavalier: »Manches von dem, was er sagt, klingt wie Russisch; aber man kann mich ermorden, wenn ich auch nur ein Wort von ihm verstehe.«
Der Sekretär des französischen Gesandten, der Sohn eines Moskauer Kanzleibeamten, Juschka Proskurow, der lange Zeit in Paris gelebt und sich dort in Monsieur Georges und einen vollkommenen Petitmaitre und Galanthomme verwandelt hatte, sang den Damen das neueste Pariser Couplet vom Perückenmacher und der Straßendirne Dodun:
»La Dodun dit à Frison:
Coiffez-moi avec adresse.
Je prétends avec raison
Inspirer de la tendresse.
Tignonnez, tignonnez, bichonnez-moi!«
Er rezitierte auch russische Verse über die Vorzüge des Pariser Lebens:
»Oh, herrliche Stadt am Seinestrande,
Wo Bauernsitten gelten als Schande,
Wo Götter und Göttinnen frei sich bewegen,
Wo feine Sitte herrscht allerwegen –
Niemals, solange ich lebe auf Erden,
Wird die Stadt von mir vergessen werden!«
Die alten Moskauer Bojaren, Feinde der neuen Sitte, saßen in einiger Entfernung, wärmten sich am Ofen und unterhielten sich in halben Andeutungen und Rätseln:
»Wie gefällt dir, mein Herr, das Petersburger Leben?«
»Dass euch und euer Leben der Teufel hole! Die verfluchten deutschen Kunststücke! Von den hiesigen Komplimenten und Knicksen und den ausländischen Speisen ist mir ganz schwarz vor den Augen.«
»Was soll man machen, Bruder? Man kann doch nicht in den Himmel hinaufspringen oder sich in die Erde vergraben.«
»Man plagt sich eben ab, bis man ins Grab kommt.«
»Zerbrich nicht, sondern biege dich.«
»Ach weh, mir schmerzen so die Seiten, ich darf mich aber nicht hinlegen.«
Mons flüsterte Nastenjka ein eben verfasstes Gedichtchen ins Ohr:
»Ohne die Freuden der Liebe
Sind düster und bitter die Tage.
Wir seufzen, dass ewig sie bliebe
Und goldene Flüchte trage.
Wozu soll man leben,
Wenn nicht, um nach Liebe zu streben?«
Plötzlich kam es Nastenjka vor, als ob die Zimmerdecke wie bei einem Erdbeben schwanke und die nackten Amoretten ihr auf den Kopf fielen. Sie schrie laut auf. William Iwanowitsch suchte sie zu beruhigen: es wäre der Wind; die an die Decke angenagelte Leinwand mit dem Bild war vom Wind wie ein Segel aufgeblasen und zitterte. Wieder dröhnten die Fensterläden, diesmal aber so laut, dass sich alle erschrocken umsahen.
Nun erklang aber die Polonaise, die Paare wirbelten dahin, und die Musik übertönte den Sturm. Nur die fröstelnden alten Herren am Ofen hörten noch den Wind im Schornstein heulen; sie tuschelten, seufzten und schüttelten die Köpfe; in den Tönen des Sturmes, der durch die Tanzmusik hindurch noch unheimlicher klang, hörten sie die Worte: »Das Unglück kommt vom Meer, das Ungemach vom Wasser.«
Peter setzte sein Gespräch mit Fedosska fort und fragte ihn wegen der Ketzerei der Moskauer Bilderstürmer, Fomkas, des Barbiers, und Mitjkas, des Arztes.
Die beiden Ketzer stützten sich bei der Verbreitung ihrer Irrlehren auf die Ukase des Zaren: »Heute ist es bei uns in Moskau einem jeden freigestellt«, sagten sie, »sich zu dem Glauben zu bekennen, den er sich erwählt hat.«
»Aus der Lehre Fomkas und Mitjkas folgt«, sagte Fedoss mit einem so zweideutigen Lächeln, dass man im Zweifel war, ob er die Ketzerei verurteilte oder billigte, »dass der wahre Glaube aus den heiligen Schriften und guten Werken und nicht aus Wundern und menschlichen Überlieferungen erkannt wird. Man kann bei jedem Glauben selig werden, wie auch der Apostel sagt: Der Gerechte in jedem Volk ist Gott gefällig.«
»Sehr richtig«, bemerkte Peter, und das Lächeln des Mönches spiegelte sich im gleichen Lächeln des Zaren wider: sie verstanden einander auch ohne Worte.
»Von den Ikonen sagen sie aber, dass es Werke von Menschenhand und Götzenbilder seien«, fuhr Fedoss fort. »Wie könnten angestrichene Bretter Wunder tun? Wenn man eine solche Ikone ins Feuer werfe, verbrenne sie wie jedes andere Holz. Nicht vor den Ikonen, sondern vor Gott solle man sich bis zur Erde verneigen. Und wer hätte ihnen, den Heiligen Gottes, so lange Ohren gegeben, dass sie vom Himmel herab die Gebete der Erdenbewohner hören könnten? Und wenn man jemandes Sohn mit einem Messer oder Stock ermordet, sagen sie, wie kann dann der Vater des Ermordeten dieses Messer oder diesen Stock lieben? Wie kann auch Gott das Holz, auf dem sein Sohn gekreuzigt wurde, lieben? Auch fragen sie, warum die Gottesmutter so verehrt werde. Sie gleiche einem gewöhnlichen Sack, der mit Edelsteinen und Perlen angefüllt gewesen sei; und wenn diese Edelsteine aus dem Sack herausgeschüttet sind, welche Wertschätzung und Ehre verdient dann noch der Sack? Und vom Sakrament des Heiligen Abendmahls sagen sie: wie kann Christus bei allen Gottesdiensten, die auf der Welt zu jeder Stunde abgehalten werden, zerbröckelt, verteilt und verzehrt werden? Wie kann das Brot durch die Gebete der Popen in den heiligen Leib des Herrn verwandelt werden? Unter den Popen gäbe es doch allerhand Leute: Säufer, Lüstlinge und wahre Bösewichte. Das könne unmöglich stimmen: wenn wir daran riechen, so riecht es nach Brot; und auch das Blut erscheint uns nach dem Zeugnis der uns verliehenen fünf Sinne als gewöhnlicher Rotwein ...«
»Uns Rechtgläubigen ziemt es nicht, solche ketzerische Schmähreden zu hören!«, unterbrach der Zar Fedosska.
Jener verstummte, lächelte aber immer frecher, immer schadenfroher.
Der Zarewitsch hob die Augen und streifte den Vater mit einem verstohlenen Blick. Es schien ihm, als ob Peter etwas verwirrt wäre: er lächelte nicht mehr, seine Miene war ernst, beinahe zornig, zugleich aber hilflos und verlegen. Hatte er denn nicht selbst soeben die Gründe der Irrlehre als vernünftig anerkannt? Wie könnte er aber die Folgerungen nicht anerkennen, wenn er einmal die Begründung anerkannte? Es ist leicht, eine Lehre zu verbieten; sie widerlegen ist etwas anderes. Klug ist der Zar; aber ist der Mönch nicht noch klüger, und führt er nicht den Zaren, wie ein böser Blindenführer den Blinden, zu einem Abgrund?
So glaubte Alexej, und das schlaue Lächeln Fedosskas spiegelte sich im gleichen Lächeln nicht mehr auf dem Gesicht des Vaters, sondern auf dem des Sohnes wieder: nun verstanden auch der Zarewitsch und Fedosska einander ohne Worte.
»Über Fomka oder Mitjka soll man sich nicht wundern«, sagte plötzlich inmitten des peinlichen Schweigens Michailo Petrowitsch Awramow. »Wie man einem vorflötet, so tanzt er auch; wohin sich der Hirte wendet, dorthin gehen auch die Schafe ...«
Er blickte Fedosska scharf an. Dieser verstand die Anspielung und schäumte vor Wut.
In diesem Augenblick erdröhnten die Fensterläden so, als ob Tausende von Händen an ihnen pochten; dann winselte, heulte und weinte es und verstummte irgendwo in der Ferne. Die feindlichen Mächte schienen immer wütender gegen das Haus anzurennen.
Devier lief jede Viertelstunde auf den Hof hinaus, um zu erfahren, wie hoch das Wasser gestiegen sei. Die Meldungen klangen wenig erfreulich. Die Flüsse Mia und Fontanka waren aus den Ufern getreten. Die ganze Stadt war von Entsetzen ergriffen.
Anton Manuilowitsch verlor den Kopf. Er ging einige Mal auf den Zaren zu und blickte ihm in die Augen, um sich ihm bemerkbar zu machen. Peter war aber von der Unterhaltung so sehr hingerissen, dass er ihm gar keine Beachtung schenkte. Devier konnte es schließlich nicht mehr aushalten: er neigte sich ganz tief zum Ohr des Zaren und flüsterte:
»Majestät! Das Wasser! ...«
Peter wandte sich schweigend nach ihm um und schlug ihm mit einer schnellen, wie unwillkürlichen Handbewegung auf die Backe. Devier fühlte nichts außer dem heftigen Schmerz: er war eine solche Behandlung gewöhnt.
Peters Paladine pflegten zu sagen: Es ist eine Ehre, von einem solchen Herrscher geschlagen zu werden, der im gleichen Augenblick schlägt und seine Gnade erweist.
Peter wandte sich aber mit so ruhigem Gesichtsausdruck, als ob nichts vorgefallen wäre, zu Awramow und fragte ihn, warum das Werk des Astronomen Huygens, »Weltbetrachtung oder Betrachtung über die himmlisch-irdischen Globen«, noch immer nicht gedruckt sei.
Michailo Petrowitsch wurde verlegen, gewann aber gleich seine Fassung wieder und sagte, dem Zaren fest in die Augen blickend:
»Dieses gotteslästerliche und mit höllischer Kohle statt mit Tinte geschriebene Buch verdient nur auf einem Scheiterhaufen verbrannt zu werden ...«
»Was ist an dem Buch gotteslästerlich?«
»Es wird darin die Drehung der Erde um die Sonne und eine Vielheit der Welten angenommen; auch dass alle diese Welten ebenso wie unsere Erde mit Menschen, Wiesen, Feldern, Wäldern und allen übrigen Dingen, die es auf unserer Erde gibt, versehen seien. Und nachdem er dieses recht geschickt vorgegaukelt hat, sucht er die Natur, das ist das ursprüngliche Leben, zu verherrlichen und als die Grundlage allen Seins hinzustellen. Und die Existenz des Schöpfers und Herrn leugnet er ...«
Nun entwickelte sich ein Streit. Der Zar suchte zu beweisen, dass »der kopernikanische Entwurf des Weltalls alle Bewegungen der Planeten leicht und bequem erkläre«.
Unter dem Schutz des Zaren und des Kopernikus wurden nun noch kühnere Gedanken ausgesprochen.
»Die ganze Philosophie ist heute Mechanik geworden«, erklärte plötzlich der Admiralitätsrat Alexander Wassiljewitsch Klein. »Es wird angenommen, dass die Welt in ihrer ganzen Größe ebenso eingerichtet ist wie eine Uhr im Kleinen und dass alles, was in ihr geschieht, auf einer gewissen gesetzmäßigen Bewegung beruht, die von einer geordneten Einrichtung der Atome abhängt. Überall herrscht die gleiche Mechanik ...«
»Wahnsinnige atheistische Irrlehre! Eine faule und morsche Begründung der Vernunft!«, entsetzte sich Awramow; aber niemand hörte auf ihn.
Alle suchten sich durch Freigeistigkeit zu übertrumpfen.
»Ein sehr alter Philosoph, Dicaearchos, lehrte, dass das Wesen des Menschen der Körper sei, die Seele aber etwas Nebensächliches, ein leerer Begriff, der nichts besagt«, teilte der Vizekanzler Schafirow mit.
»Durch das Mikroskopium entdeckte man im männlichen Samen Tierchen in der Art von Fröschen oder Kaulquappen«, grinste Juschka Proskurow so schadenfroh, dass die Schlussfolgerung ganz klar war: es gibt keine Seele. Wie alle Pariser Gecken, hatte er seine eigene kleine Philosophie, »une petite philosophie«, die er mit dem gleichen galanten Leichtsinn dozierte, mit dem er das Perückenmacherliedchen: »Tignonnez, tignonnez, bichonnez-moi!« gesungen hatte.
»Nach Leibnizens Ansicht sind wir nur denkende hydraulische Maschinen. Die Auster ist dümmer als wir ...«
»Du lügst, sie ist nicht dümmer als du!«, bemerkte jemand, aber Juschka fuhr unentwegt fort:
»Die Auster ist dümmer als wir, weil ihre Seele an die Muschel angewachsen ist und sie deshalb die fünf Sinne nicht braucht. Vielleicht gibt es aber in anderen Welten Geschöpfe mit zehn und mehr Sinnen, die so viel vollkommener sind als wir, dass sie sich über Newton und Leibniz ebenso wenig wundern, wie wir über die Handlungen eines Affen oder einer Spinne ...«
Der Zarewitsch hörte zu und hatte den Eindruck, dass bei diesem Gespräch mit den Gedanken dasselbe geschähe wie mit dem Schnee beim Petersburger Tauwetter: alles fällt auseinander, schmilzt, fault und verwandelt sich unter dem Einfluss des feuchten Westwindes in Schmutz und Pfützen. Der Zweifel an allem, die Verneinung aller Dinge wuchs unaufhaltsam und ungehemmt – wie das vom Wind zurückgetriebene und mit einer Überschwemmung drohende Wasser der Newa.
»Nun, genug geschwatzt!«, schloss Peter das Gespräch, indem er sich erhob, »wer nicht an Gott glaubt, ist entweder verrückt oder ein geborener Dummkopf. Jeder Sehende muss den Schöpfer an seiner Schöpfung erkennen. Die Gottlosen sind für den Staat eine Schande und dürfen nicht gelitten werden, da sie die Grundlage aller Gesetze, auf denen jeder Schwur und Treueid ruht, untergraben ...«
»Die Ursache liegt wohl mehr im hippokratischen Eifer, als in der Gottlosigkeit: denn die Atheisten lehren ja selbst, dass man dem Volk Gott predigen müsse; sonst würde das Volk die Obrigkeiten missachten ...«
Nun bebte schon das ganze Haus ununterbrochen unter dem Anprall des Sturmes. Man hatte sich aber an diese Töne schon so gewöhnt, dass niemand mehr auf sie achtete. Das Gesicht des Zaren blieb ruhig, was wiederum auch auf die anderen beruhigend wirkte.
Irgend jemand brachte das Gerücht auf, dass die Richtung des Windes sich wieder verändert hätte und man auf baldiges Sinken des Wassers hoffen dürfe.
»Seht ihr es?«, sagte Peter, von neuer Freude ergriffen. »Es war kein Grund, sich zu fürchten. Das Barometer betrügt niemals!«
Er ging in den anderen Saal hinüber und nahm an den Tänzen teil.
Wenn der Zar guter Laune war, so riss er alle andern mit und steckte sie mit seiner Fröhlichkeit an. Beim Tanzen hopste er, stampfte mit den Absätzen und machte Kapriolen mit solcher Begeisterung, dass auch die Trägsten Lust zum Tanzen verspürten.
Im englischen Kontertanz musste die Dame eines jeden ersten Paares eine neue Figur erfinden. Die junge Fürstin Tscherkasskaja küsste ihren Kavalier Peter Andrejewitsch Tolstoi und zog ihm die Perücke auf die Nase herunter, was alle folgenden Paare nachmachen mussten, wobei die Kavaliere unbeweglich wie Säulen dastanden. Nun kamen allerlei lustige Streiche und ausgelassene Späße. Man lachte und vergnügte sich wie die Schulkinder. Und lustiger als alle war Peter.
Nur die alten Herren saßen wie früher in ihrer Ecke, lauschten dem Heulen des Windes, tuschelten miteinander, seufzten und schüttelten die Köpfe.
»Das ausgelassene Tanzen der Frauen«, zitierte einer von ihnen eine das Tanzen verurteilende Stelle aus den Werken der Kirchenväter, »trennt die Menschen von Gott und zieht sie in den Abgrund der Hölle hinein. Die Lachenden werden ewig weinen müssen, die Tanzenden an den Nabeln aufgehängt werden ...«
Der Zar ging auf die alten Herren zu und forderte sie auf, am Tanze teilzunehmen. Vergebens weigerten sie sich und entschuldigten sich mit Unfähigkeit und allerlei Krankheiten – Gliederreißen, Kurzatmigkeit und Podagra –, der Zar wollte seinen Willen durchsetzen und hörte auf keine Ausreden.
Die Musik stimmte einen grotesk-feierlichen Großvatertanz an. Die alten Herren, denen man absichtlich die ausgelassensten jungen Damen angehängt hatte, konnten sich anfangs kaum bewegen; sie stolperten, brachten die Figuren durcheinander und verwirrten auch die anderen; als aber der Zar ihnen mit einem Glas des fürchterlichen Pfefferschnapses drohte, begannen sie so flink wie die Jungen zu hüpfen. Nach Beendigung des Tanzes fielen sie, halbtot vor Müdigkeit, stöhnend, seufzend und ächzend in ihre Sessel.
Man hatte noch nicht Zeit gehabt, ordentlich auszuruhen, als der Zar einen neuen, komplizierten Tanz, den »Kettentanz«, begann. Dreißig mit Taschentüchern aneinander gebundene Paare folgten einem kleinen, buckligen Musikanten, der mit der Geige in der Hand an der Spitze des Zuges hüpfte.
Zuerst tanzte man durch beide Säle des Nebengebäudes. Dann ging man durch die Glasgalerie in das Hauptgebäude hinüber und tanzte schreiend, pfeifend und lachend durch das ganze Haus, von Zimmer zu Zimmer, von Treppe zu Treppe, von Stockwerk zu Stockwerk. Der Bucklige spielte auf der Geige, sprang wie wahnsinnig und schnitt solche Gesichter, als ob er vom Teufel besessen wäre. Ihm folgte im ersten Paare der Zar und nach ihm alle anderen Gäste, sodass man den Eindruck hatte, als ob er sie wie gefesselte Gefangene nach sich zöge, und als ob den riesenhaften Zaren selbst ein kleiner Teufel herumführte.
Als man in das Nebengebäude zurückkehren wollte, begegnete man in der Galerie mehreren laufenden Menschen. Sie winkten mit den Händen und schrien entsetzt:
»Das Wasser! Das Wasser! Das Wasser!«
Die vorderen Paare blieben stehen, die folgenden rannten sie im Anlauf um. Alles geriet durcheinander. Man stieß zusammen, fiel zu Boden und zerrte und riss an den Tüchern, mit denen man zusammengebunden war. Die Männer fluchten, die Damen winselten. Die Kette riss entzwei. Der größere Teil des Zuges mit dem Zaren stürzte durch die Galerie ins Hauptgebäude zurück. Der andere, kleinere Teil, der sich vorne am entgegengesetzten Ende der Galerie befand, wollte anfangs gleichfalls ins Hauptgebäude zurückkehren; ehe man aber die Mitte der Galerie erreicht hatte, begann einer der Fensterläden zu krachen und zu wanken; er stürzte zu Boden, die Fensterscheibe zersprang in tausend Scherben, und das Wasser stürzte als brausender Strom zum Fenster herein. Im gleichen Augenblick begann die unten im Keller zusammengepresste Luft unter Dröhnen und Krachen, das wie Kanonenschüsse klang, den Fußboden zu heben, zu brechen und emporzureißen.
Peter rief vom anderen Ende der Galerie den Zurückgebliebenen zu:
»Zurück, zurück in das Nebengebäude! Fürchtet Euch nicht, ich schicke Boote!«
Man hörte seine Worte nicht, verstand aber die Zeichen und blieb stehen.
Nur zwei Menschen liefen noch über den überschwemmten Fußboden. Der eine von ihnen war Fedosska. Er hatte schon beinahe den Ausgang, wo Peter wartete, erreicht, als sich unter ihm ein Dielenbrett senkte: Fedosska fiel hinein und begann zu ertrinken. Ein dickes Weib, die Frau eines holländischen Steuermanns, sprang mit hochgerafftem Rock über den Kopf des Mönches; und über der schwarzen Mönchskappe erschienen für einen Augenblick ihre dicken Waden in roten Strümpfen. Der Zar eilte dem Archimandriten zur Hilfe; er packte ihn an den Schultern, zog ihn heraus und trug ihn wie ein kleines Kind fort. Der zitternde Mönch mit den wehenden schwarzen Flügeln der Kutte, von der das Wasser herabtriefte, erinnerte an eine große nasse Fledermaus.
Der bucklige Musiker mit der Geige hatte die Mitte der Galerie erreicht und brach gleichfalls ein. Er verschwand im Wasser, tauchte wieder auf und begann zu schwimmen. In diesem Augenblick stürzte aber der mittlere Teil der Decke ein und begrub ihn unter den Trümmern.
Als das Häuflein der Zurückgebliebenen – es waren etwa zehn Personen – merkte, dass es durch das Wasser endgültig vom Hauptgebäude abgeschnitten war, stürzte es in das Nebengebäude als letzten Zufluchtsort zurück.
Aber auch hier erreichte sie das Wasser. Man hörte die Wellen dicht unter den Fenstern brausen. Die Fensterläden knarrten und krachten und drohten jeden Augenblick aus den Angeln gerissen zu werden. Das Wasser drang durch die zerbrochenen Fensterscheiben und alle Ritzen herein, es sickerte überall durch, schäumte, rieselte, lief an den Wänden hinab, bildete Pfützen und überschwemmte die Dielen.
Fast alle verloren die Fassung. Nur Peter Andrejewitsch Tolstoi und William Iwanowitsch Mons hatten ihre Geistesgegenwart bewahrt. Sie fanden eine kleine verborgene Tapetentüre, hinter der sich eine schmale Stiege, die auf den Dachboden hinaufführte, befand. Sie stürzten dorthin, selbst die galantesten Herren kümmerten sich jetzt, wo sie den Tod vor Augen sahen, nicht mehr um die Damen; sie schimpften auf sie und stießen sie zur Seite; ein jeder dachte nur an sich selbst.
Auf dem Dachboden war es finster. Man tastete sich durch Haufen von Balken, Brettern, leeren Fässern und Kisten durch und verkroch sich in den entferntesten Winkel, der durch den Vorsprung des Schornsteins etwas vom Wind geschützt war; man drückte sich an den noch warmen Schornstein und saß einige Zeit wie niedergeschmettert und verblödet vor Angst im Finstern. Die Damen in ihren leichten Balltoiletten klapperten vor Kälte mit den Zähnen. Endlich entschloss sich Mons, hinunterzugehen und nachzuschauen, ob nicht Hilfe zu finden wäre.
Unten führten Stallknechte, denen das Wasser schon bis an die Knie reichte, die Pferde des Hausherrn, die in ihren Stallungen beinahe ertrunken wären, in den Saal. Der Assembleesaal verwandelte sich in einen Pferdestall. In den Spiegeln spiegelten sich Pferdemäuler. Von der Decke hingen flatternd die Fetzen der losgerissenen Leinwand mit der »Fahrt nach der Insel der Cythere« herab. Die nackten Amoretten warfen sich wie in Todesangst hin und her. Mons gab den Stallknechten Geld. Sie verschafften ihm eine Laterne, eine Flasche ganz gemeinen Schnaps und mehrere Schafspelze. Sie sagten ihm, dass man das Nebengebäude nicht mehr verlassen könne: die Galerie sei zerstört und der Hof überschwemmt; die Stallknechte selbst wollten sich ebenfalls auf den Dachboden retten. Sie erwarteten die Boote, aber es war sehr zweifelhaft, ob welche kommen würden. Nachträglich stellte es sich heraus, dass die vom Zaren geschickten Boote an das Nebengebäude nicht hatten herankommen können: der Hof war von einem hohen Zaun umgeben, und das einzige Tor war unter den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes begraben.
Mons kehrte zu den auf dem Boden Sitzenden zurück. Das Licht der Laterne machte ihnen einigen Mut. Die Männer tranken von dem Schnaps, die Damen hüllten sich in die Schafspelze.
Die Nacht schien ewig zu währen. Das ganze Haus unter ihnen zitterte, von den Wellen umbrandet wie ein leckes Schiff vor dem Untergang. Über ihnen riss der Orkan die Ziegel vom Dach und brauste bald mit wildem Heulen und Stampfen wie eine Tierherde, bald mit gellendem Pfeifen und Rauschen wie ein Zug riesenhafter Vögel. Zuweilen schien es, als ob er sofort das ganze Dach herunterreißen und alles mit sich forttragen würde. Man glaubte, im Heulen des Sturmes Schreie von Ertrinkenden zu hören. Von Augenblick zu Augenblick erwartete man den Untergang der ganzen Stadt.
Eine der Damen, die Gattin des dänischen Residenten, die guter Hoffnung war, bekam vor Angst so entsetzliche Schmerzen im Leib, dass sie wie unter dem Schlachtmesser schrie und man eine Fehlgeburt befürchtete.
Juschka Proskurow betete: »Väterchen, heiliger Wundertäter Nikola, heiliger Sergius, erbarmt euch unser!« Man konnte kaum glauben, dass es derselbe Freigeist sei, der soeben hatte beweisen wollen, dass es keine Seele gäbe.
Michailo Petrowitsch Awramow war ebenso wie die andern erschrocken, zeigte aber dabei Schadenfreude.
»Gegen Gott kann man nicht kämpfen! Sein Zorn ist gerecht. Diese Stadt wird vom Angesicht der Erde verschwinden wie Sodom und Gomorrha. Da sah Gott auf Erden, und siehe, sie war verderbet; denn alles Fleisch hatte seinen Weg verderbet auf Erden. Da sprach Gott: Alles Fleisches Ende ist vor mich gekommen, denn die Erde ist voll Frevels von ihnen. Ich will eine Sündflut mit Wasser kommen lassen auf Erden, zu verderben alles Fleisch ...«
Und alle, die diese Prophezeiung hörten, empfanden ein ihnen noch unbekanntes Grauen, als ob das Ende der Welt und das Jüngste Gericht angebrochen wären.
Durch die Dachluke sah man am schwarzen Himmel einen Feuerschein. Im Brausen des Orkans hörte man Glockengeläut. Es war die Sturmglocke. Die Stallknechte, die von unten heraufgekommen waren, erzählten, dass die Arbeiterhütten und Tauniederlagen in der nahen Admiralitätsvorstadt in Feuer ständen. Trotz der Nähe des Wassers war die Feuersbrunst bei dem starken Wind besonders gefährlich: brennende Scheite flogen über die ganze Stadt, und sie konnte jeden Augenblick an allen Enden Feuer fangen. Sie schien zwischen zwei Elementen zugrunde zu gehen: sie brannte und ertrank zu gleicher Zeit. Die Prophezeiung: »Die Stätte, wo Petersburg steht, wird wüst und leer sein«, ging in Erfüllung.
Beim Morgengrauen hatte sich der Sturm gelegt. Im durchsichtigen Dämmergrau des trüben Tages kamen die Kavaliere in ihren mit Staub und Spinnengeweben bedeckten Perücken und die Damen in ihren Reifröcken und steifen Miedern »nach Versailler Manier« unter den Schafspelzen, mit vor Kälte blau angelaufenen Gesichtern, einander wie Gespenster vor.
Mons blickte zur Bodenluke hinaus und sah an der Stelle, wo die Stadt gestanden hatte, einen uferlosen See. Er schien nicht nur auf der Oberfläche zu branden, sondern auch bis auf den Grund zu kochen, zu schäumen und zu wallen wie das Wasser in einem Kessel über starkem Feuer. Dieser See war die Newa – bunt wie der Bauch einer Schlange, gelb, braun, schwarz, mit weißen Kämmen, ermattet, aber immer noch wütend und furchtbar unter dem furchtbaren, wie die Erde grauen, niedrigen Himmel.
In den Wellen trieben zerschmetterte Barken, gekenterte Boote, Balken, Bretter, Dächer, ganze Gerüste von Häusern, entwurzelte Bäume und Tierkadaver umher.
So elend erschienen mitten im siegreichen Element die Spuren des menschlichen Lebens, die hier und da aus dem Wasser ragenden Türme, Spitzen, Kuppeln und Dächer der überschwemmten Häuser.
Mons sah in der Ferne auf der Newa, der Peter-Pauls-Festung gegenüber, einige Rudergaleeren und Einmaster. Er hob vom Boden eine lange Stange auf, wie sie zum Taubenscheuchen gebraucht wird, band an sie das rote seidene Halstuch Nastenjkas an, steckte die Stange zum Fenster hinaus, schwenkte sie hin und her und machte Zeichen, um Hilfe herbeizurufen. Eines der Boote trennte sich von den übrigen und näherte sich, die Newa durchkreuzend, dem Assembleehäuschen.
Die Boote begleiteten den Einmaster des Zaren.
Peter hatte die ganze Nacht durchgearbeitet, die Menschen vor dem Wasser und dem Feuer rettend und wie ein einfacher Feuerwehrmann auf die brennenden Gebäude kletternd. Das Feuer hatte ihm das Haar versengt; ein herabgestürzter Balken hätte ihn beinahe erschlagen. Während er die armselige Habe der Ärmsten aus den Kellerwohnungen herauszuholen half, hatte er bis an die Brust im Wasser gestanden und war bis auf die Knochen vom Frost durchschüttelt. Er machte alles mit und ermutigte alle. Überall, wo der Zar erschien, arbeitete man mit doppeltem Eifer, sodass Wasser und Feuer der Arbeit weichen mussten.
Der Zarewitsch befand sich im Boot seines Vaters; aber jedes Mal, wenn er ihm irgendwie behilflich sein wollte, wies Peter die Hilfe, wie angeekelt, zurück.
Als das Feuer gelöscht war und das Wasser abzunehmen begann, erinnerte sich der Zar, dass es Zeit sei, nach Hause zurückzukehren, wo ihn seine Frau während der ganzen Nacht in tödlicher Angst erwartet hatte.
Auf dem Heimweg machte er einen Abstecher zum Sommergarten, um nachzusehen, was da das Wasser verwüstet hatte.
Die Galerie über der Newa war halb zerstört, die Venus war aber unversehrt. Der Sockel befand sich unter Wasser, sodass die Göttin auf der Oberfläche des Wassers zu stehen schien. Die Schaumgeborene trat aus den Wellen, doch nicht aus den blauen und kosenden Wellen wie einst, sondern aus den drohenden, dunklen, schweren, eisernen Wellen des Styx.
Unten, zu Füßen der Göttin hob sich ein schwarzer Fleck vom weißen Marmor ab. Peter blickte durch sein Fernrohr hin und sah, dass es ein Mensch war. Auf Befehl des Zaren musste die wertvolle Statue Tag und Nacht von einem Soldaten bewacht werden. Der vom Wasser überraschte Mann wagte nicht, seinen Posten zu verlassen; er war auf den Sockel der Venus hinaufgeklettert, hatte sich an ihre Füße geschmiegt, sie umarmt und wahrscheinlich die ganze Nacht, vor Kälte erstarrt und vor Müdigkeit halbtot, dagesessen.
Der Zar eilte ihm zur Hilfe. Am Steuer stehend, durchschnitt er mit seinem Einmaster die Wellen und den Wind. Eine mächtige Woge schlug plötzlich heran, flutete über den Bord, überschüttete das Schiff mit Wasser und neigte es so stark auf eine Seite, dass es zu kentern drohte. Peter war aber ein erfahrener Steuermann. Sich mit den Füßen gegen das Heck stemmend und mit der ganzen Schwere seines Körpers aufs Steuer legend, besiegte er die Wut der Wellen und lenkte das Schiff mit sicherer Hand ans Ziel.
Der Zarewitsch blickte seinen Vater an und erinnerte sich plötzlich der Worte, die er einmal bei einem Trinkgelage von seinem Lehrer Wjasemskij gehört hatte:
»Fedoss singt manchmal mit den Chorsängern vor deinem Vater: ›Wo Gott will, wird die Ordnung der Natur besiegt‹, und ähnliche Verse; sie singen es, um deinem Vater zu schmeicheln: es ist ihm angenehm, wenn man ihn mit Gott vergleicht; sie überlegen sich aber dabei gar nicht, dass die Ordnung der Natur nicht nur von Gott, sondern auch von den Teufeln besiegt werden kann; es gibt auch teuflische Wunder!«
In einer einfachen Steuermannsjacke, in ledernen Schaftstiefeln, mit wehenden Haaren – der Wind hatte ihm soeben den Hut vom Kopf gerissen – blickte der riesenhafte Steuermann auf die überschwemmte Stadt; sein ruhiges, festes, gleichsam aus Stein gehauenes Gesicht drückte weder Verlegenheit, noch Angst, noch Mitleid aus – als ob in diesem Menschen wirklich etwas Übermenschliches, über die Menschen herrschendes und wie das Schicksal Starkes wäre. Die Menschen werden sich beruhigen, die Winde sich legen, die Wellen zurückfluten – die Stadt aber wird an dem Orte stehen, den er für die Stadt bestimmt hat: denn die Ordnung der Natur wird besiegt, wenn es der ...
»Wenn wer es will?«, fragte sich der Zarewitsch, wagte aber nicht, den Satz zu Ende zu sprechen: »Gott oder der Teufel?«
*
Einige Tage später, als Petersburg sein gewöhnliches Gesicht wieder angenommen und die Spuren der Überschwemmung fast gänzlich verdeckt hatte, schrieb Peter in einer scherzhaften Epistel an einen seiner Paladine:
»In der vorigen Woche hatte der Westsüdwestwind eine solche Menge Wasser hergetrieben, wie noch niemals dagewesen sein soll. In meiner Wohnung stand das Wasser 21 Zoll über dem Fußboden; aber im Garten und auf der Straße an der anderen Seite des Hauses konnte man frei im Boot fahren. Es war recht belustigend, zu sehen, wie die Menschen auf den Dächern und Bäumen wie in der Zeit der Sündflut saßen; und zwar nicht nur Männer, sondern auch Weiber. Das Wasser stand zwar sehr hoch, richtete aber nur wenig Schaden an.«
Die Epistel war datiert: »Aus dem Paradiese«.
Peter wurde krank. Er hatte sich während der Überschwemmung, als er, bis zum Gürtel im Wasser stehend, die Habe der Armen aus den Kellern rettete, erkältet. Anfangs schenkte er der Krankheit keine Beachtung und blieb auf. Am 15. November legte er sich aber ins Bett, und der Leibarzt Blumentrost erklärte, dass das Leben des Zaren in Gefahr sei.
In diesen selben Tagen entschied sich das Schicksal Alexejs. Als Peter am Tag der Beerdigung der Kronprinzessin, dem 28. Oktober, aus der Peter-Pauls-Kathedrale ins Haus seines Sohnes zum Leichenschmaus gekommen war, übergab er diesem einen mit »Mitteilung an meinen Sohn« überschriebenen Brief, in dem er von ihm unter Androhung seines Zornes und der Enterbung sofortige Besserung forderte.
»Ich weiß gar nicht, was ich tun soll«, sagte der Zarewitsch zu seinen Nächsten. »Ob ich die Armut auf mich nehmen und mich, bis die Zeit kommt, unter Bettlern verstecken soll, oder in ein Kloster gehen und unter den Mönchen leben, oder in ein anderes Land ziehen, wo man die Fremdlinge aufnimmt und sie niemandem ausliefert?«
»Geh ins Kloster«, riet der Admiralitätsrat Alexander Kikin, der langjährige Gesinnungsgenosse und Vertraute Alexejs. »Die Mönchskappe ist am Kopf nicht angenagelt: man kann sie auch wieder ablegen. Du wirst Ruhe haben, wenn du allen diesen Dingen den Rücken kehrst ...«
»Ich habe dich vom Blutgerüst gerettet, auf das dich dein Vater bringen wollte«, sagte Fürst Wassilij Dolgorukij. »Jetzt kannst du dich freuen, denn du hast keine Sorgen mehr. Du kannst ruhig tausend Absagebriefe schreiben. Bis die Frist kommt, kann sich noch manches ändern. Ein altes Sprichwort sagt: Die Schnecke reist, aber man weiß nicht, ob sie überhaupt je ankommt. Ein solcher Absagebrief ist kein Vertrag mit Konventionalstrafe ...«
»Es ist gut, dass du auf die Erbschaft verzichtest«, tröstete ihn Fürst Jurij Trubetzkoj. »Bedenke doch: fließen denn wegen des Goldes wenig Tränen?«
Der Zarewitsch sprach mit Kikin viel über die Möglichkeit einer Flucht ins Ausland, »um da zu bleiben, ohne irgendwelche Pläne, nur um in Ruhe von allem entfernt zu leben.«
»Wenn sich eine Gelegenheit bietet«, riet Kikin, »so reise nach Wien zum Kaiser. Der wird dich niemandem ausliefern. Der Kaiser sagte, dass er dich wie einen Sohn aufnehmen wird. Oder auch zum Papst oder an den französischen Hof. Dort gewährt man auch Königen Schutz; und einen solchen wie dich aufzunehmen, wäre ihnen ein Leichtes ...«
Der Zarewitsch hörte alle die Ratschläge an, konnte sich aber zu nichts entschließen und lebte von Tag zu Tag in Erwartung »des göttlichen Ratschlusses«.
Plötzlich wurde alles anders. Peters Tod drohte nicht nur die Geschicke Russlands, sondern auch die der ganzen Welt umzustürzen. Der, der sich gestern unter Bettlern verstecken wollte, konnte morgen den Thron besteigen.
Der Zarewitsch sah sich plötzlich von neuen Freunden umgeben; sie versammelten sich um ihn, flüsterten und tuschelten.
»Wir wollen warten, etwas muss doch kommen.«
»Wenn der Würfel fällt, ist das Schicksal entschieden, und wenn es entschieden ist, kann man ihm nicht entrinnen.«
»Auch für uns wird die Zeit kommen, dass wir unser Liedchen singen.«
»Es kommt auch vor, dass die Mäuse den Kater auf den Friedhof schleppen.«