Über das Buch

Romeo und Julia in Paris.

Marguerite liebt Armand, einen jungen Mann aus den besten Pariser Kreisen.

Als ihr von seinem Vater vorgehalten wird, sie stehe dem Glück Armands im Wege, beugt sie sich den Forderungen der Gesellschaft, die keine ehemalige Kurtisane in ihren Reihen dulden will.

An der Wende von der Romantik zum Realismus entstand die ergreifende Geschichte der hochherzigen Kokotte, die aus Liebe ihrer Liebe entsagt.

»Dumas verpackt in seine Geschichte subtile Kritik an einer Gesellschaft, die mehr Wert auf Abstammung und Besitz legt als auf den Menschen selbst.« NZZ am Sonntag

Über Alexandre Dumas

Alexandre Dumas d. J. (1824-1895) war der uneheliche Sohn seines berühmten Vaters und wurde von diesem erst anerkannt, als Ruhm und Mittel es ihm erlaubten. Früh in die Pariser Lebewelt eingeführt – deren Bezeichnung als demi-monde auf den Titel eines seiner Stücke zurückgeht –, verkehrte er in ihr als Dandy, wie sein Vater, aber auch als sensibler Beobachter ihrer Leere und Nichtigkeit. Mit 20 Jahren lernte er die gleichaltrige Marie Duplessis, eine zauberhafte Modistin kennen und später auch lieben, die bald die begehrteste Mätresse von Paris werden sollte. »Die Kameliendame« ist die Geschichte dieser Marie Duplessis.

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Alexandre Dumas

Die Kameliendame

Roman

Übersetzt aus dem Französischen von Walter Hoyer

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

Impressum

I

Gestalten erschaffen kann meiner Meinung nach nur, wer die Menschen lange Zeit erforscht hat, wie ja auch niemand eine Sprache beherrscht, der sie nicht gründlich erlernt hat.

Ich selber habe freilich das Alter noch nicht erreicht, in dem man dichtet, und darum will ich mich begnügen, hier nur zu berichten. Das heißt, der Leser darf von der Wahrheit dieser Geschichte überzeugt sein, deren Personen mit Ausnahme der Heldin alle noch leben. Überdies gibt es in Paris für viele der Geschehnisse, die ich hier vorbringe, genügend Zeugen, die sie bestätigen können, wenn man mir etwa nicht glaubt. Den Bericht niederzuschreiben aber ermöglicht mir ein seltsamer Zufall, denn mir allein sind die besonderen Zusammenhänge mitgeteilt worden, ohne welche er weder vollständig sein würde noch Anteilnahme zu erregen vermöchte.

Die Sache kam folgendermaßen zu meiner Kenntnis. – Am 12. März 1847 las ich in der Rue Laffitte auf einem großen gelben Maueranschlag die Anzeige einer Versteigerung von Möbeln und zahlreichen Luxusgegenständen, und zwar einer Versteigerung wegen Todesfall. Der Anschlag nannte den Verstorbenen nicht, der Verkauf aber sollte am Sechzehnten in der Rue d’Antin Nr. 9 von zwölf bis fünf Uhr vor sich gehen.

Ferner war unter anderem angegeben, dass man Wohnung und Möbel am Dreizehnten und am Vierzehnten besichtigen könne.

Ich war immer ein Liebhaber von Kunstdingen und nahm mir vor, diese Gelegenheit nicht zu versäumen und mir, sollte ich nichts kaufen, wenigstens etwas anzusehen. So begab ich mich des andern Tages in die Nr. 9 der Rue d’Antin.

Trotz der frühen Stunde hatten sich bereits Menschen zur Besichtigung eingefunden, sogar Frauen, die, obwohl in Samt und Kaschmirschals gehüllt und in eleganten Kutschen vorgefahren, die Kostbarkeiten, die sich ihren Blicken darboten, staunend und sogar voller Bewunderung betrachteten.

Ich begriff sehr rasch dies Staunen und Bewundern, denn sobald ich mich genauer umzusehen begann, erkannte ich unschwer, dass ich mich in der Wohnung einer ausgehaltenen Frau befand. Wenn nun Damen von Welt, und es waren solche da, etwas zu sehen begierig sind, so ist es die Einrichtung solcher Frauen, deren Kutschen täglich ihre eigenen in Schatten stellen, die wie sie und neben ihnen in der Großen Oper und im Italienischen Theater ihre Logen haben und Paris durch ihre freche Schönheit, durch ihre Juwelen und ihre Skandale in Aufregung halten.

Die hier gewohnt hatte, war freilich tot. Die tugendsamen Damen durften daher getrost bis in ihr Schlafzimmer vordringen. Der Tod hatte die Luft dieses gleißenden Lasterpfuhles gereinigt, und überdies konnten sie sich falls nötig damit rechtfertigen, dass sie zu einer Versteigerung kämen, ohne eine Ahnung zu haben, wo sie sich befinden. Sie hätten die Anschläge gelesen, wollten besichtigen, was diese Anschläge ankündigten, und im voraus ihre Wahl treffen. Weiter nichts! Was sie indessen nicht abhielt, zwischen all diesen Wunderdingen einem Kurtisanenleben nachzuspüren, von dem man ihnen zweifellos so Seltsames erzählt hatte. Unglücklicherweise hatte aber die Göttin ihre Geheimnisse mit ins Grab genommen, und die Damen konnten beim besten Willen nur in Erfahrung bringen, was die Mieterin nach ihrem Abscheiden, aber nichts von dem, was sie bei Lebzeiten anzubieten hatte.

Im übrigen gab es sehr viel zu erstehen. Die Einrichtung war großartig. Möbel aus Rosenholz mit Metalleinlagen, Sèvres- und China-Vasen, Meißner Figuren, Atlasstoffe, Samt und Spitzen, es fehlte nichts.

Ich schlenderte durch die Wohnung und folgte den vorausgegangenen neugierigen feinen Damen. Sie gingen in ein mit persischen Geweben ausgeschlagenes Zimmer, und ich schickte mich an, ebenfalls einzutreten, als sie lächelnd und gleichsam schamrot ob einer neuen Merkwürdigkeit flugs wieder herauskamen. Desto lebhafter verlangte mich, das Zimmer zu sehen. Es war das bis auf die kleinsten Stücke unveränderte Ankleidezimmer, in welchem die Verschwendungssucht der Verstorbenen ihren Gipfel erreicht zu haben schien.

Auf einem großen drei Fuß breiten und sechs Fuß langen Tisch, der an der Wand stand, funkelten alle Kostbarkeiten von Aucoc und Odiot. Es war eine prachtvolle Sammlung, und jedes der hundert Dinge, die eine Frau wie die, bei der man sich befand, zur Toilette bedarf, war aus Gold oder Silber. Indessen konnte sich eine solche Menge nur mit der Zeit angehäuft haben und stammte unmöglich von ein und demselben Liebhaber. Mich konnte nun der Anblick des Putzzimmers einer ausgehaltenen Frau keineswegs erschrecken, und ich besah die verschiedenen Stücke mit Vergnügen näher, wobei ich entdeckte, dass alle diese herrlich ziselierten Gegenstände ungleiche Namenszeichen und verschiedene Kronen aufwiesen.

Indem ich so die Dinge betrachtete, deren jedes mit einer Preisgabe des armen Mädchens bezahlt war, sagte ich mir, dass Gott es gut mit ihr gemeint haben muss, da er sie vor dem üblichen Ende bewahrte und sie in Glanz und Schönheit und vor dem Altwerden hinwegnahm, bei dem die Kurtisanen ein erstes Mal sterben.

Wahrhaftig, was gibt es Traurigeres als das Altern in Verworfenheit, zumal bei einer Frau? Man vermisst die Würde dabei, und es erregt keine Teilnahme. Ihre ewige Reue, nicht etwa über den verfehlten Lebenswandel, sondern über die falschen Berechnungen und das vergeudete Geld, gehört zu den erbärmlichsten Eindrücken, die man haben kann. Ich kannte eine alt gewordene galante Frau, der aus ihrer Vergangenheit nichts geblieben war als eine Tochter, die fast ebenso schön war, wie die Mutter zu ihrer Zeit gewesen sein soll. Das arme Kind, zu dem die Mutter nur sagte: Du bist meine Tochter, damit es sich verpflichtet fühle, sie in ihren alten Tagen zu ernähren, wie sie es ja in seiner Kindheit ernährt habe; dieses arme Geschöpf hieß Luise und gab sich, weil es die Mutter verlangte, den Männern willenlos hin, ohne Leidenschaft und ohne Genuss, so wie sie ihrem Beruf nachgegangen wäre, wenn man daran gedacht hätte, sie einen ergreifen zu lassen.

Die beständige Gewohnheit des Lasters, eines vorzeitigen Lasters, das durch die anhaltende Kränklichkeit des Mädchens noch verderblicher wurde, erstickte in ihr das Gefühl für gut und bös, das Gott sicherlich in sie gepflanzt hatte, das zu entfalten aber niemand in den Sinn gekommen war.

Ich muss oft an das junge Mädchen denken, das täglich fast zur selben Stunde auf den Boulevards promenierte. Die Mutter wich ihr nicht von der Seite, genau wie eine richtige Mutter ihre richtige Tochter zu begleiten pflegt. Ich war damals blutjung und eher geneigt, die lockeren Sitten der Zeit anzunehmen, und doch entsinne ich mich, dass der Anblick dieser sündhaften Begleitung mir Abscheu und Ekel einflößte.

Dabei sah ihr Gesicht jungfräulich aus, ihre Miene war unschuldig und trug einen unvergleichlichen Ausdruck schwermütigen Duldens.

Man musste sie für die verkörperte Ergebenheit halten. Eines Tages lag eine Art Verklärung über dem Antlitz des Mädchens. Es sah aus, als ob Gott der Sünderin mitten in den Ausschweifungen, zu denen ihre Mutter sie anhielt, ein Glück verheißen habe. Und warum auch sollte Gott, der ihr keine Kraft mitgegeben, sie, nach alledem, unter der Bürde ihres Leides trostlos zusammenbrechen lassen! Eines Tages also entdeckte sie, dass sie schwanger war, und was an ihr noch rein geblieben, erbebte vor Freude. Das Herz geht wunderliche Wege. Luise erzählte der Mutter rasch, was sie so froh machte. Es ist schrecklich zu sagen – aber ich erzähle hier nicht aus Lust am Unsittlichen, sondern berichte eine Tatsache, die ich lieber verschweigen würde, wenn ich nicht meinte, es sei bisweilen angebracht, mit dem Martyrium solcher Geschöpfe bekannt zu machen, die man verurteilt, ohne sie zu hören, und ohne Grund verachtet – es ist schrecklich zu sagen, dass die Mutter ihrer Tochter antwortete, sie hätten jetzt schon für zwei nicht zuviel und würden für drei nicht mehr genug haben; Kinder seien unter solchen Umständen unerwünscht und Schwangerschaft verlorene Zeit.

Den anderen Tag stattete eine Hebamme – wir wollen sie als die Freundin der Mutter ansehen – Luise einen Besuch ab, die dann etliche Tage im Bett blieb und bleicher und schwächer als je wieder aufstand.

Ein Vierteljahr später erbarmte sich ihrer ein mitleidiger Mann und versuchte Leib und Seele zu retten. Aber der letzte Schlag war zu hart gewesen, Luise starb an den Folgen der Fehlgeburt.

Die Mutter lebt noch – Gott mag wissen, wie.

Diese Geschichte war mir wieder eingefallen, als ich die silbernen Geräte betrachtete, und es musste offenbar während meines Nachsinnens etliche Zeit verstrichen sein, denn es war außer mir nur noch ein Wärter in der Wohnung, der von der Tür aus Obacht gab, damit ich nichts mitgehen heiße.

Ich ging zu dem guten Mann hin, dem ich diese Besorgnis erregt hatte. »Lieber Mann«, sagte ich, »können Sie mir sagen, wer hier wohnte?«

»Fräulein Marguerite Gautier.«

Das Mädchen war mir dem Namen nach und von Ansehen bekannt.

»Was!« erwiderte ich dem Wärter, »ist Marguerite Gautier gestorben?«

»Ja, mein Herr.«

»Wann denn?«

»Es mag drei Wochen her sein.«

»Und weshalb lässt man die Wohnung besichtigen?«

»Die Gläubiger meinen, es könne der Auktion dienlich sein. Die Leute sehen vorher, wie die Stoffe und Möbel sich ausnehmen. Verstehen Sie, das weckt die Kauflust.«

»So hatte sie Schulden?«

»Ach Herr! Massenhaft.«

»Aber der Verkauf deckt sie doch wohl?«

»Mehr als das.«

»Und wer bekommt, was übrigbleibt?«

»Ihre Angehörigen.«

»Hatte sie denn Verwandte?«

»Es scheint so.«

»Besten Dank, mein Herr!«

Der über meine Absichten beruhigte Wärter grüßte, und ich ging.

Das arme Kind! sagte ich auf dem Heimweg vor mich hin. Sie hat gewiss jämmerlich sterben müssen, denn in ihrer Welt hat man Freunde nur, solange es einem gut geht. Und unwillkürlich fasste mich Mitleid mit Marguerite Gautiers Schicksal.

Das mag den meisten lächerlich erscheinen, aber Kurtisanen kann ich vieles vergeben, und ich versuche auch gar nicht, diese meine Nachsicht zu entschuldigen. Als ich einmal auf der Präfektur war, mir einen Pass zu beschaffen, sah ich, wie zwei Gendarmen ein solches Mädchen abführten. Was sie begangen hatte, weiß ich nicht. Ich kann nur sagen, dass sie bittere Tränen vergoss, während sie ihr wenige Monate altes Kind liebkoste, das sie nicht mit ins Gefängnis nehmen durfte. Seit dem Tage habe ich nicht mehr die Stirn, eine Frau ohne weiteres zu verdammen.

II

Die Versteigerung war auf den Sechzehnten festgesetzt.

Ein Tag war zwischen Besichtigung und Verkauf freigehalten, damit die Tapezierer die Wandbespannung, die Vorhänge und so weiter abnehmen konnten. Damals war ich eben von einer Reise zurückgekehrt. Natürlich hatte Marguerites Tod nicht mit zu den großen Neuigkeiten gehört, die einem die Freunde berichten, wenn man in die auf Neuigkeiten erpichte Hauptstadt zurückkehrt. Marguerite war zwar auffallend hübsch gewesen, aber so viel Aufsehen solche Frauen auch bei Lebzeiten erregen mögen, so weniges, wenn sie sterben. Sie gleichen Sonnen, die unvermerkt wie sie auftauchen auch wieder untergehen. Ihren Tod, falls sie jung sterben, erfahren sogleich all ihre Liebhaber, denn in Paris haben die Verehrer eines öffentlichen Mädchens meistens Verbindung untereinander. Es werden einige Erinnerungen an sie ausgetauscht, und dann gehen sie ihrer Wege, ohne dem Geschehnis auch nur eine Träne zu weihen.

Bei einem Fünfundzwanzigjährigen sind Tränen heutzutage freilich etwas so Rares, dass er sie nicht an die erste beste vergeuden möchte. Es ist mehr als genug, wenn man um Verwandte weint, je nachdem welchen Lohn man dafür erwarten darf.

Mich für mein Teil, obwohl sich mein Namenszug auf keinem der Schmuckstücke Marguerites befand, ließ jene instinktive Entschuldigungsbereitschaft, jenes vorhin eingestandene Mitleid länger an Marguerites Tod denken, als sie vielleicht verdiente.

Ich erinnerte mich, ihr sehr oft in den Champs-Elysées begegnet zu sein, wohin sie täglich in einem kleinen blauen von zwei herrlichen Braunen gezogenen Coupé kam, und an ihr immer eine bei ihresgleichen ungewöhnliche Vornehmheit bemerkt zu haben, eine Vornehmheit, die ihre wirklich außergewöhnliche Schönheit noch erhöhte.

Solche bedauernswerten Geschöpfe lassen sich bei ihrem Ausgang stets von irgend jemand begleiten.

Da sich aber kein Mann offen zu dem Verhältnis bekennen will, das er zu einer davon unterhält, und sie selbst sich vor dem Alleinsein fürchten, so wählen sie zu ihrer Begleitung Gefährtinnen, die, vom Glück minder begünstigt, keinen Wagen besitzen, oder eine jener albern aufgeputzten Alten, an die man sich getrost wenden darf, wenn man irgend etwas über die Frau erfahren will, der sie Gesellschaft leisten.

Nicht so bei Marguerite. Stets erschien sie allein, tief in ihrem Wagen verborgen, auf den Champs-Elysées, im Winter in einen großen Kaschmirschal gewickelt, im Sommer in äußerst schlichten Kleidern. Und obgleich sie auf dem Weg, den sie gerne fuhr, genug Bekannten begegnete, denen sie zulächelte, so war das doch nur diesen selbst bemerkbar; eine Herzogin hätte so lächeln können. Ihren Spaziergang machte sie nicht, wie alle ihre Schwestern tun und taten, vom Rundplatz aus nach dem Eingang der Champs-Elysées hin, vielmehr ließ sie sich von ihren zwei Pferden rasch in das Wäldchen führen. Dort verließ sie den Wagen, wandelte eine Stunde herum, stieg wieder ein und fuhr in scharfem Trab nach Hause.

Alle diese Besonderheiten, die ich beobachtet hatte, zogen vor meinen Augen vorüber, und ich bedauerte den Tod des Mädchens, wie man die Zerstörung eines schönen Werkes bedauert.

Wahrhaftig, eine anmutigere Schöne als Marguerite lässt sich unmöglich denken.

Lang und überaus schlank, verstand sie es meisterhaft, das Versäumnis der Natur durch den einfachen Zuschnitt ihrer Kleidungsstücke auszugleichen. Ihr Kaschmirschal, dessen Zipfel den Boden streifte, ließ zu beiden Seiten die breiten Falbeln eines Seidenkleides frei, und der dicke Muff, in dem ihre Hände steckten und den sie an die Brust presste, war mit so geschickt berechneten Falten gesäumt, dass auch ein noch so kritisches Auge nichts an dem Fluss der Linien auszusetzen fand.

Der Kopf war ein Wunder auserwählten Liebreizes. Er war sehr klein; und ihre Mutter schien ihn, mit Musset zu sprechen, absichtlich so gewollt zu haben.

Man stelle sich in einem Oval von unbeschreiblicher Anmut zwei schwarze Augen vor, überwölbt von den feinsten, wie gemalt erscheinenden Bogen der Brauen, und diese Augen verhüllt von langen Wimpern, die beim Senken zarte Schatten auf die rosige Haut der Wangen werfen, eine feine, gerade, kluge Nase, mit ein wenig geöffneten, sinnlichen Lebenshunger verratenden Nasenflügeln, einen regelmäßigen Mund, dessen Lippen blendendweiße Zähne freigeben, und eine samtschimmernde Haut, wie die eines von noch keiner Hand berührten Pfirsichs, und man hat das Bild dieses entzückenden Kopfes.

Kohlschwarzes natürlich oder künstlich gewelltes Haar war über der Stirn gescheitelt und floss in zwei breiten Wellen so nach dem Nacken, dass die Ohrläppchen zu sehen waren, an denen zwei Diamanten im Wert von vier- bis fünftausend Francs funkelten.

Dass Marguerite bei ihrem verzehrenden Wandel diesen jungfräulichen, ja geradezu kindlichen Ausdruck, der sie auszeichnete, behalten hat, muss einfach festgestellt werden, ohne dass man es begreifen kann.

Sie besaß ein wundervolles Porträt, das Vidal von ihr angefertigt hatte, der einzige Künstler, dessen Stift sie nachzuschaffen vermochte. Das Bildnis war mir nach ihrem Tode auf ein paar Tage anvertraut worden, und es hatte eine so sprechende Ähnlichkeit, dass ich sie danach zu schildern versuchen konnte, wozu meine Erinnerung allein wahrscheinlich nicht ausgereicht hätte. Manche Einzelzüge, die dieses Kapitel mitteilt, sind mir erst später bekannt geworden. Ich füge sie trotzdem gleich jetzt ein, um nicht aufgehalten zu sein, wenn die ereignisvolle Geschichte dieser Frau beginnt.

Marguerite fehlte bei keiner Premiere. Ihre Abende verbrachte sie entweder im Theater oder auf Bällen. Wurde ein neues Stück gespielt, so konnte man sicher sein, sie anzutreffen, und zwar nie ohne die drei Dinge, die sie stets bei sich hatte und auf die Brüstung der Parkettloge legte: ihr Opernglas, ein Beutelchen mit Näschereien und einen Strauß Kamelien.

Fünfundzwanzig Tage nacheinander waren es weiße Kamelien, und fünf Tage lang rote. Niemand verstand, weshalb die Farben auf diese Weise wechselten, wie ich auch nur berichten, aber nicht erklären kann, was den regelmäßigen Besuchern der Theater, in denen sie meistens war, und ihren Freunden ebenso auffiel wie mir.

Nie sah man Marguerite mit anderen Blumen. Bei Madame Barjon, ihrer Blumenfrau, wurde sie zuerst Kameliendame genannt, und diesen Beinamen behielt sie. Mir war ferner wie allen, die in gewissen Pariser Kreisen lebten, bekannt, dass Marguerite die Mätresse junger Lebemänner gewesen ist, was sie offen zugab und worauf jene stolz waren, ein Beweis dafür, dass Liebhaber und Geliebte miteinander zufrieden waren.

Seit etwa drei Jahren jedoch, nach einem Aufenthalt in Bagnères, lebte sie, wie man sagte, nur noch mit einem alten und ungeheuer reichen ausländischen Herzog, der unternommen hatte, sie so gut als möglich von ihrer Vergangenheit zu lösen, was sie anscheinend bereitwillig über sich hatte ergehen lassen.

Man erzählte mir über diese Angelegenheit folgendes.

Marguerite war im Frühjahr 1842 so schwach und abgekommen gewesen, dass die Ärzte ihr eine Badekur verordneten und sie nach Bagnères ging.

Dort suchte auch die Tochter jenes Herzogs Genesung, die nicht nur dasselbe Leiden wie Marguerite, sondern auch das gleiche Aussehen hatte, derart dass man sie hätte für zwei Schwestern halten können. Indessen hatte die junge Prinzess die Schwindsucht bereits im dritten Stadium und verstarb wenige Tage nach Marguerites Ankunft.

Eines Tages nun begegnete der Herzog, der in Bagnères geblieben war, wie man gerne auf dem Fleck Erde bleibt, der ein Stück unseres Herzens bedeckt, an einer Straßenbiegung Marguerite.

Er glaubte den Schatten seines Kindes wandeln zu sehen, und indem er auf sie zutrat, ergriff er sie bei den Händen, schloss sie weinend in seine Arme und bat sie, ohne zu fragen, wer sie sei, um die Erlaubnis, sie anschauen und als das lebende Abbild seiner Tochter lieben zu dürfen.

Marguerite, die mit ihrer Zofe allein in Bagnères war und überdies keinerlei Rücksichten zu nehmen brauchte, gestand dem Herzog zu, worum er bat.

Es befanden sich aber auch Leute in Bagnères, die sie kannten und den Herzog in aller Form über den Lebenswandel Fräulein Gautiers aufklärten. Das traf den Alten hart, denn in diesem Punkte glich sie seiner Tochter nicht. Doch es war zu spät. Die junge Frau war seinem Herzen schon unentbehrlich geworden, ja sie allein hielt ihn noch am Leben.

Er machte ihr keinerlei Vorwurf, denn welches Recht hätte er dazu gehabt, aber wohl fragte er sie, ob sie sich zutraue, ihr Leben zu ändern, und bot ihr als Entschädigung für dies Opfer alle Kostbarkeiten der Welt an, die sie sich wünschen möchte. Sie sagte zu.

Man muss allerdings bedenken, dass Marguerite schwärmerisch veranlagt und zu dieser Zeit krank war. Sie meinte, ihre Vergangenheit trage die Hauptschuld an ihrem Leiden, und nährte die abergläubische Hoffnung, Gott werde zum Lohn für ihre Reue und Umkehr ihr Schönheit und Gesundheit erhalten.

Und wahrhaftig, die Bäder, die Spaziergänge, natürliche Ermüdung und Schlaf hatten sie, als der Sommer zu Ende ging, ziemlich wiederhergestellt.

Der Herzog fuhr mit Marguerite nach Paris, wo er sie regelmäßig besuchte wie in Bagnères.

Dies Verhältnis, von dessen Entstehung man so wenig wusste wie von dem wahren Beweggrund, erregte hier großes Aufsehen, denn der schon wegen seines großen Vermögens berühmte Herzog entpuppte sich nun gar noch als Verschwender.

Man hielt die Beziehung des alten Herzogs zu der jungen Frau für eine Ausschweifung, wie sie bei Greisen häufig vorkommt. Man mutmaßte alles, nur das nicht, was es war.

Dabei hatten die Gefühle dieses Vaters für Marguerite einen so keuschen Ursprung, dass eine andere Beziehung als eine seelische ihm wie Blutschande erschienen wäre; auch sprach er nie ein Wort zu ihr, das seine Tochter nicht hätte hören dürfen.

Es sei uns ferne, aus unserer Heldin etwas anderes zu machen, als sie war. Wir sagen also nur, dass ihr, solange sie sich in Bagnères aufhielt, nicht schwerfiel, das dem Herzog gegebene Versprechen zu halten, und dass sie es gehalten hat. Sobald sie jedoch, die ein mit Vergnügungen, Bällen, ja Orgien ausgefülltes Leben gewohnt war, nach Paris zurückkam, musste ihr das bloß durch des Herzogs regelmäßige Besuche unterbrochene Alleinsein sterbenslangweilig werden, und die heißen Begierden des Lebens erfüllten ihr bald wieder Leib und Seele.

Dazu kam, dass Marguerite von ihrer Reise schöner als zuvor zurückgekehrt, dass sie erst zwanzig Jahre alt war und dass die schleichende und keineswegs überwundene Krankheit aufs neue jenes fieberhafte Verlangen weckte, wie das die Schwindsucht gewöhnlich tut.

Den Herzog erfüllte es mit tiefem Schmerz, als seine Freunde, die unaufhörlich darauf aus waren, die junge Frau, mit der er sich ihrer Ansicht nach bloßstellte, bei einem Fehltritt zu ertappen, ihm berichteten und bewiesen, dass sie die Zeit, zu der sie vor seinen Besuchen sicher war, anderen vorbehalte und dass dergleichen Besuche sich oft bis zum Morgen ausdehnten.

Zur Rede gestellt, gab Marguerite dem Herzog alles zu und riet ihm freimütig, sich nicht mehr mit ihr zu befassen, denn sie habe nicht die Kraft, ihr gegebenes Wort zu halten, und wolle auch nicht länger Wohltaten von einem Menschen annehmen, den sie getäuscht habe. Der Herzog blieb eine Woche aus, das war alles, was er über sich vermochte. Am achten Tag kehrte er zurück und bat sie inständig, ihn weiterhin vorzulassen. Er versicherte, er wolle sie nehmen, wie sie sei, wenn er sie nur sehen dürfe, und schwor, dass er ihr, und koste es ihn das Leben, nie einen Vorwurf machen werde.

Dies war der Stand der Dinge drei Monate nach Marguerites Rückkehr, nämlich im November oder Dezember 1842.

III

Am Sechzehnten begab ich mich gegen ein Uhr in die Rue d’Antin.

Bereits am Torweg hörte man die Auktionatoren schreien. Die Wohnung war voller Gaffer.

Sämtliche Berühmtheiten der Halbwelt hatten sich eingefunden und wurden genau gemustert von den paar großen Damen, die unter dem Vorwand der Versteigerung sich noch einmal das Recht nahmen, Frauen, denen sie anders nie hätten begegnen können und die sie wahrscheinlich insgeheim um ihr ungehemmtes Leben beneideten, aus der Nähe zu betrachten.

Die Herzogin von F. stand dicht neben Fräulein A., einer der armseligsten Vertreterinnen der heutigen Kurtisanen, die Marquise von T. getraute sich nicht, auf ein Möbelstück zu bieten, das Frau D., die eleganteste und bekannteste Ehebrecherin unserer Zeit, im Preis heraufgetrieben hatte. Der Herzog von Y., von dem man in Madrid meinte, er ruiniere sich in Paris, und in Paris, er ruiniere sich in Madrid, und der alles in allem noch nicht einmal seine Einkünfte verbrauchte, wechselte, indessen er mit Frau M., einer unserer geistvollsten Erzählerinnen, sprach, die bisweilen niederzuschreiben geruht, was sie erzählt, und das unter eigenem Namen – wechselte verständnisinnige Blicke mit Frau von N., jener schönen Spaziergängerin aus den Champs-Elysées, die sich fast nur in Rot oder Blau kleidet und vor ihrem Wagen zwei große Rappen hat, die Tony ihr für zehntausend Francs verkaufte – und bezahlt bekam. Schließlich war Fräulein R., die allein durch ihr Talent noch einmal soviel wie Damen von Welt durch ihre Mitgift, dreimal soviel wie die anderen durch ihre Liebschaften verdient, trotz der Kälte gekommen, ein paar Einkäufe zu machen, und sie gehörte nicht zu denen, die man weniger beachtete.

Man könnte die Namen von mehr Leuten anführen, die sich zu ihrem eigenen Erstaunen in diesem Salon beieinander fanden; aber ich muss fürchten, den Leser zu ermüden.

Deshalb nur so viel, dass allenthalben eine närrische Lustigkeit herrschte und dass viele der Anwesenden die Verstorbene gekannt hatten und sich doch nicht daran zu erinnern schienen.

Schallendes Lachen ertönte. Dazu schrien die Auktionatoren aus vollem Halse. Die Händler, welche die Bänke unmittelbar vor den Versteigerungstischen mit Beschlag belegt hatten, verlangten vergebens Ruhe, um ihre Geschäfte ungestört abzuwickeln. Eine buntere, lärmendere Gesellschaft war nicht zu denken.

Ich glitt unauffällig durch das niederdrückende Durcheinander, denn ich dachte daran, dass nebenan das Zimmer lag, wo das arme Geschöpf, dessen Möbel zur Deckung der Schulden verkauft wurden, gestorben war. Mehr zum Zuschauen als des Kaufens wegen gekommen, beobachtete ich die Geschäftsleute, die die Versteigerung betrieben hatten und deren Gesichter jedesmal aufleuchteten, wenn ein Stück einen Preis erzielte, den sie nicht erwarteten.

Es waren ehrenwerte Männer, die die Verschwendung dieser Frau ausgenutzt, ihr Centime um Centime abgenommen, sie noch in ihren letzten Lebenstagen mit Zahlungsaufforderungen verfolgt hatten und nun nach ihrem Tode den Ertrag ihrer ehrenhaften Spekulation zu den schandbaren Zinsen ihrer Kredite noch hinzugewannen.

Wie hatten doch die Alten recht, Kaufleuten und Dieben ein und denselben Gott zuzubilligen.

Kleider, Tücher, Schmuckstücke gingen unglaublich rasch ab. Doch ließ mich das alles kalt, und ich wartete weiter.

Plötzlich hörte ich ausrufen: »Ein Buch, vorzüglich gebunden, mit Goldschnitt, betitelt. Manon Lescaut. Eine handschriftliche Eintragung auf der ersten Seite. Zehn Francs.«

»Zwölf«, ließ sich eine Stimme nach ziemlich langer Pause hören.

»Fünfzehn«, sagte ich.

Ich wusste selbst nicht, warum. Höchstwahrscheinlich wegen der handschriftlichen Eintragung.

»Fünfzehn«, wiederholte der Versteigerer.

»Dreißig«, rief der zuerst geboten hatte in einem Ton, als ob nicht ratsam sei, darüber zu gehen.

Jetzt kam es zum Kampf.

»Fünfunddreißig«, rief ich schon in gleicher Tonart.

»Vierzig.«

»Fünfzig.«

»Sechzig.«

»Hundert.«

Wahrhaftig, hätte ich Aufsehen erregen wollen, so wäre das gut geglückt, denn auf dieses Gebot hin trat eine lange Stille ein, und man musterte mich neugierig, was das wohl für ein Herr sei, der das Buch anscheinend um jeden Preis erwerben wolle.

Der Nachdruck, mit dem ich mein letztes Gebot ausgesprochen, muss meinen Widerpart abgeschreckt haben, denn er gab den Kampf auf, der zu nichts anderem geführt hatte, als dass ich für den Band das Zehnfache seines Wertes zahlen musste, und mit einer Verbeugung sagte er überaus höflich, freilich ein wenig spät zu mir: »Ich trete zurück.«

Da weiter keiner sich äußerte, wurde mir das Buch zugesprochen.

Weil ich aber eine weitere Starrköpfigkeit vermeiden wollte, zu der meine Eigenliebe leicht zu bewegen ist, die aber meinem Beutel gewisslich schlecht bekommen wäre, ließ ich meinen Namen eintragen, das Buch zurücklegen und ging. Den Zeugen dieses Auftrittes muss ich zu denken gegeben haben; sie fragten sich zweifellos, was dahinter stecke, dass ich ein Buch, das allerwärts für zehn oder fünfzehn Francs zu haben ist, für hundert Francs erstanden habe.

Eine Stunde später hatte ich meinen Einkauf abholen lassen.

Auf der ersten Seite war in einer zierlichen Schrift mit Tinte die Widmung dessen eingetragen, der das Buch verschenkt hatte.

Sie bestand lediglich aus den Worten:

Manon bewundert Marguerite.

Die Unterschrift lautete: Armand Duval.

Was soll das bewundert bedeuten?

Dass Marguerite nach dieses Herrn Duval Meinung Manon an Ausschweifung oder an Großherzigkeit übertreffe?

Die zweite Deutung hatte alle Wahrscheinlichkeit für sich, denn die erste wäre eine offene Frechheit gewesen, die sich Marguerite nie hätte bieten lassen, gleichviel wie sie über sich selbst dachte.

Da ich ausgehen musste, befasste ich mich erst am Abend, bevor ich schlafen ging, wieder mit dem Buch. Die rührende Geschichte der Manon Lescaut ist mir natürlich bis in jede Einzelheit vertraut, und doch empfinde ich jedesmal wieder die gleiche Sympathie für sie, sobald ich das Buch zur Hand nehme. Ich schlage es auf und erlebe zum hundertsten Mal das Schicksal der Heldin des Abbé Prévost. Sie ist derart wahr gezeichnet, dass ich sie gekannt zu haben meine. Der ausgesprochene Vergleich zwischen ihr und Marguerite reizte mich aufs neue zum Lesen, und die Nachsicht, die ich bisher empfunden hatte, verwandelte sich nun in Mitleid, ja in Liebe zu dem armen Mädchen, aus dessen Hinterlassenschaft das Buch stammte. Manon starb in der Wildnis, aber doch in den Armen des Mannes, der sie über alle Maßen liebte, der ihr ein Grab grub, es mit seinen Tränen begoss und sein Herz bei ihr ließ. Marguerite jedoch, eine Sünderin wie Manon und vielleicht ebenso reuig, wurde aus Glanz und Überfluss gerissen, wie mir schien, und verschied in dem Bett, in dem sie gelebt hatte, aber dafür in einer Verlassenheit des Herzens, die größer, schrecklicher, trostloser war als jene, in der Manon vergraben lag.

Marguerite soll tatsächlich, wie ich von Freunden erfuhr, die über den Ausgang ihres Lebens unterrichtet waren, während ihres zwei Monate sich hinziehenden schmerzvollen Todeskampfes auf ihrem Lager nie einen wirklichen Trost empfangen haben.

Von Manon und Marguerite wanderten meine Gedanken weiter zu anderen Mädchen, die ich kannte und die ich einem Ende entgegentänzeln sah, das fast immer denselben Verlauf nimmt.

O die armen Geschöpfe! Häufen wir Schuld auf uns, wenn wir sie lieben, so doch entschieden weniger, wenn wir sie beklagen. Ihr bedauert den Blinden, der nie einen Strahl des Lichts gesehen, den Tauben, der nie die Wohllaute der Natur gehört, den Stummen, der nie den Regungen seines Herzens Worte leihen konnte, aber ihr weigert euch, während ihr eine falsche Scham vorheuchelt, euch jener Blindheit des Herzens, jener Taubheit der Seele, jener Stummheit des Gewissens zu erbarmen, die den davon betroffenen Unglücklichen den Verstand verrückt, sie hindert, das Gute zu erkennen, die Stimme Gottes zu vernehmen und die lautere Sprache der Liebe und des Glaubens zu sprechen.

Victor Hugo hat »Marion de Lorme« geschrieben, Musset »Bernerette«, Alexandre Dumas »Fernande« geschaffen, die Denker und Dichter aller Zeiten haben der Kurtisane Barmherzigkeit erwiesen, und manche hat ein großer Mann durch seine Liebe, ja durch seinen Namen erhöht. Ich betone dies absichtlich, weil viele meiner Leser möglicherweise schon nahe daran sind, dies Buch beiseite zu legen, in dem sie nichts anderes als eine Rechtfertigung des Lasters und der Prostitution zu finden befürchten, und die Jugend des Autors bestärkt sie zweifellos in dieser Meinung. Indessen täuscht sich, wer so denkt, und wenn ihn keine andere Befürchtung abhält, mag er getrost weiterlesen.

Für mich steht jedenfalls die einfältige Wahrheit fest: dass Gott einer Frau, deren Erziehung nicht zur Erkenntnis des Guten geführt hat, fast immer zwei Wege zu ihm hin offenhält: den Schmerz und die Liebe. Sie sind voller Mühsal, und welche sie beschreiten, bekommen wunde Füße und rissige Hände. Aber bald zerren ihnen die Dornen am Wege auch das Kleid des Lasters vom Leibe, und nun brauchen sie sich nicht mehr zu schämen, wenn sie am Ende in ihrer Nacktheit vor Gott hintreten.

Wer solchen tapferen Pilgerinnen begegnet, soll ihnen beistehen und überall bekennen, dass er ihnen begegnet ist; denn wer bekennt, weist den Weg.

Es ist nicht damit getan, dass man an der Eingangspforte des Lebens lediglich zwei Säulen aufrichtet, deren eine die Inschrift »Weg des Guten«, deren andere die Warnung »Weg des Bösen« trägt, und denen, die kommen, zuruft: Wählt! Wir sollten vielmehr, wie Christus getan, denen, die sich auf die falsche Bahn locken ließen, die Pfade weisen, die von dem zweiten zum ersten Weg hinführen; und es ist nicht gesagt, dass diese Pfade von vornherein übermäßig leidvoll oder ungangbar erscheinen müssen.

Das Christentum lehrt uns mit dem wunderbaren Gleichnis vom Verlorenen Sohn Nachsicht und Verzeihung. Jesus war erfüllt von Liebe zu solchen durch menschliche Leidenschaft geschlagenen Menschen, und er heilte ihre Wunden, indem er den heilsamen Balsam aus diesen Wunden selbst bereitete. Also sprach er zu Magdalena: Ihr sind viel Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebet. Eine göttliche Vergebung, die göttlichen Glauben erzeugte.

Weshalb wollen wir strenger sein als Christus? Weshalb stoßen wir, starrsinnig dem Urteil einer Welt hörig, die lärmt, um für stark zu gelten, jene zurück, welche das Böse ihrer Vergangenheit aus ihren Wunden ausscheiden, wie der Kranke schlechtes Blut ausschwitzt, und nur auf die ihrer Seele Linderung und Genesung bringende Freundeshand warten?

Ich wende mich an meine eigene Generation, an jene, die nicht mehr den Lehren des Herrn von Voltaire glauben, an die, welche wie ich begriffen haben, dass die Menschheit seit fünfzehn Jahren in einem stolzen Fortschritt begriffen ist. Diese Erkenntnis des Guten und des Bösen ist für alle Zeit gegründet; Gläubigkeit und Ehrfurcht vor dem Heiligen ziehen wieder ein, und wenn die Welt auch nicht vollkommen gut, besser jedenfalls ist sie geworden. Die Bemühungen aller einsichtigen Menschen verfolgen dieses Ziel, und alle, die guten Willens sind, setzen sich für den einen Leitsatz ein: gut und jung und wahr zu sein. Das Böse ist nur ein Wahn. Wir bekennen uns zum Guten, und wir werden jedenfalls nicht verzweifeln. Wir schätzen keine Frau geringer ein, wenn sie nicht Mutter, nicht Schwester, nicht Tochter, nicht Gattin ist. Lassen wir die Achtung nicht bei den Unsrigen, die Duldung nicht beim Ich aufhören. Denn Gott freut sich mehr über einen reuigen Sünder als über hundert Gerechte, die nie gefehlt haben. Versuchen wir dem Himmel wohlzugefallen, und er wird es uns reich vergelten. Spenden wir auf unserm Weg denen, die irdische Begierde ins Verderben geführt hat, das Almosen der Verzeihung; vielleicht, dass sie dann ihre Hoffnung auf Gott setzen. Und wie die guten alten Mütterchen sagen, wenn sie ein selbstgebrautes Tränklein empfehlen: hilft es nicht, so kann es doch nicht schaden.

Gewiss, es mag kühn erscheinen, aus dem geringfügigen Gegenstand, den ich behandle, so große Folgerungen abzuleiten; allein ich rechne mich zu jenen, die überzeugt sind, dass in wenigem alles enthalten sei. Das Kind ist klein und doch steckt schon der Mann in ihm, der Schädel ist eng und doch enthält er den Gedanken in sich, das Auge ist nur ein Punkt und doch vermag es Meilenweites zu erfassen.

IV

Zwei Tage später war die Versteigerung zu Ende. Sie hatte 150 000 Francs eingebracht.

Davon fielen zwei Drittel den Gläubigern zu, den Rest erbten die Angehörigen, eine Schwester und ein Großneffe.

Diese Schwester machte große Augen, als der Nachlassverwalter ihr schrieb, sie erbe 50 000 Francs.

Sechs, sieben Jahre hatte das junge Mädchen seine Schwester nicht mehr gesehen; die war eines Tages verschwunden, ohne dass man von ihr selbst oder durch andere irgendein Lebenszeichen vernommen hätte.

Hals über Kopf reiste diese Schwester nach Paris, und Marguerites Bekannte staunten nicht wenig, als sich ein hübsches rundliches Landkind als Erbin einfand, das noch nie aus seinem Dorfe herausgekommen war. Mit einem Schlag war sie nun vermögend geworden, ohne den Ursprung des unverhofften Reichtums auch nur zu ahnen.

Später erfuhr ich, dass sie tief betrübt über den Tod ihrer Schwester und andererseits getröstet durch die viereinhalb Prozent, die das Geld ihr abwarf, in ihr Dorf zurückgekehrt sei.

Nachdem sich dergleichen Einzelheiten in Paris, dieser Brutstätte von Skandalen, herumgesprochen hatten, vergaß man die Sache wieder, und ich selbst entsann mich kaum noch, inwiefern ich von den Geschehnissen berührt worden war, als ein neues Ereignis mich mit Marguerites ganzem Schicksal vertraut machte und dabei so rührende Züge zutage traten, dass es mich drängte, ihre Geschichte niederzuschreiben, und dass ich sie schrieb.

Die verkauften Möbelstücke waren aus Marguerites Wohnung geräumt worden, und diese mochte etwa drei oder vier Tage zur Vermietung ausgeboten gewesen sein, als es morgens bei mir läutete.

Mein Diener oder vielmehr der Hausmann, der meine Bedienung übernommen hatte, öffnete, kehrte mit einer Karte zurück und sagte, der Herr, der sie abgegeben habe, wünsche mich zu sprechen.

Ich warf einen Blick auf die Karte und fand die Worte:

Armand Duval.

Indem ich überlegte, wo ich diesen Namen schon gelesen, erinnerte ich mich an das Vorsatzblatt von »Manon Lescaut«.

Was mochte der junge Mann von mir wollen, der Marguerite das Buch geschenkt hatte? Ich ließ den Wartenden sogleich hereinbitten.