Die Autorin
PD Dr. med. Gabriele Röhrig-Herzog, MPH, ist internistische Geriaterin, Hämato-Onkologin und Psychotherapeutin und betreut seit vielen Jahren ältere Menschen im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung. Sie ist Mitbegründerin der AG Gerontopsychosomatik der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie. Neben ihrer klinischen Tätigkeit ist sie in der interdisziplinären Forschung der Geriatrie aktiv und lehrt als Hochschuldozentin an der Uniklinik Köln und der Europäischen Fachhochschule (EUFH) Köln.
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1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Mit Illustrationen von »LUKE« Lutz Demmig
Print:
ISBN 978-3-17-038720-1
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-038721-8
epub: ISBN 978-3-17-038722-5
Die Idee zu diesem Buch entstand vor einigen Jahren in einer Zeit, in der ich als Konsiliarärztin für Geriatrie in verschiedenen medizinischen Fachabteilungen sehr unterschiedliche ältere Patienten kennenlernte. Im Fokus der Konsiliartätigkeit stand damals die Beantwortung der Frage, ob sich der betreffende Patient »funktionell« für eine Behandlung in der Akutgeriatrie oder der geriatrischen Rehabilitation eigne. Dabei bezog sich das »funktionell« ausschließlich auf seine körperlichen Fähigkeiten, die es zu erhalten oder auszubauen galt. Die verfügbaren medizinischen Unterlagen gaben dabei vor allem Fakten wieder, die sich auf die Körpergesundheit bezogen. Den Menschen hinter diesen Fakten lernte ich erst im persönlichen Gespräch im Patientenzimmer kennen. Dabei wurde immer wieder deutlich, dass die seelische Betroffenheit der Patienten in den medizinischen Dokumentationen sehr oft gar nicht berücksichtigt und auch für die Eignungsentscheidung kaum herangezogen wurde. Auch innerhalb des multidimensionalen geriatrischen Assessments, einer standardisierten Testserie, mit welcher die Fähigkeiten (Ressourcen) und Defizite eines geriatrischen Patienten geprüft werden können, steht die Einschätzung der körperlichen und kognitiven Funktionalität im Vordergrund, während die Einschätzung der seelischen Belastung allenfalls eine untergeordnete Berücksichtigung erfährt. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass unsere Schulmedizin traditionell zu einer getrennten Betrachtung von Körper (Soma) und Seele (Psyche) neigt. Das wird auch in der medizinischen Ausbildung der Ärzte deutlich, die sich zu Spezialisten für somatische (körperliche) und psychische (seelische) Erkrankungen fortbilden können. Aber gerade bei geriatrischen Patienten kann eine solche strikte Trennung von Körper und Seele fatal werden, denn eine wichtige Voraussetzung für einen gelungenen Alterungsprozess ist eine psychosoziale Stabilität. Altersbedingte körperliche Einschränkungen können nur dann akzeptiert und bewältigt werden, wenn ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen, die bei der Bewältigung helfen können. Daher wurde das persönliche Gespräch mit den Patienten über ihre Lebensgewohnheiten, ihre Lebenserfahrungen und Sorgen, ihre sozialen Netzwerke und ihre Wünsche und Ziele im Hinblick auf das Erleben der akuten körperlichen Beeinträchtigung ein festes Element meiner Konsiliartätigkeit. Auf diese Weise lernte ich den Menschen hinter der Diagnose besser kennen und konnte seine persönlichen Therapieziele konkreter formulieren. Sogenannte »Lebensanker« sind gerade bei älteren Menschen wichtige Triebfedern bei der Bewältigung körperlicher Erkrankungen, die bei der therapeutischen Zielformulierung berücksichtigt werden müssen. Sie gehören mit zu den individuellen Resilienzfaktoren, die bei der Bewältigung herausfordernder Belastungen helfen können.
Ziel dieses Buches ist es, anhand von Fallbeispielen aus dem eigenen Praxisalltag die Einsatzmöglichkeiten der psychosomatischen Grundversorgung bei geriatrischen Patienten näherzubringen. Daher ist es auch aus der persönlichen »Ich«-Perspektive verfasst. Das Buch soll primär somatisch orientierte Ärzte zum Einsatz der psychosomatischen Grundversorgung bei der Zusammenarbeit mit multimorbiden geriatrischen Patienten ermutigen. Durch einen solchen ganzheitlich ausgerichteten Ansatz kann die Versorgungssituation dieser wachsenden und faszinierenden Patientengruppe in den nächsten Jahren weiter verbessert werden.
Auch wenn die psychosomatische Grundversorgung grundsätzlich einen schulenunabhängigen Therapieansatz verfolgt, werden dem Leser an einigen Stellen in diesem Buch vertraute Elemente aus der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie begegnen. Die ist allein meiner ausbildungsbedingten, persönlichen Erfahrung geschuldet. Natürlich kann im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung auch auf andere Ansätze wie psychoanalytische, verhaltens- oder systemtherapeutische Ansätze zurückgegriffen werden. Es bleibt jedoch unbestritten, dass die allerwichtigste Voraussetzung für eine effektive Zusammenarbeit eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung ist.
Für die Bereitstellung des Bildmaterials danke ich »LUKE« Lutz Demmig (1968–2020), der eigentlich noch viele Jahre länger hätte malen sollen.
Bergisch Gladbach und Köln, im Sommer 2021
Gabriele Röhrig-Herzog
Die psychosomatische Grundversorgung kann allen erwachsenen Patienten angeboten werden, eine obere Altersbegrenzung gibt es nicht. Betreut man als somatisch orientierter Facharzt jedoch zunehmend ältere und hochbetagte, multimorbide Patienten im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung, so hat es sich als vorteilhaft erwiesen, sich mit den besonderen Herausforderungen psychischer Belastungen im höheren Lebensalter auseinanderzusetzen. Dies erleichtert den Aufbau einer vertrauensvollen Arzt-Patient-Beziehung, in welcher der Patient über eine altersbedingt längere Lebenserfahrung verfügt, die es vom Arzt zu berücksichtigen und zu respektieren gilt. In den folgenden Abschnitten soll daher sowohl auf diese besondere Beziehungssituation eingegangen werden als auch auf die Besonderheiten psychischer Belastungen bei älteren und hochbetagten, multimorbiden Patienten.
Psychische Störungen spielen im Alter eine wichtige Rolle, da sie einen signifikanten negativen Einfluss nehmen auf Morbidität und Mortalität der Betroffenen (Klesse et al. 2008). Für viele ältere, multimorbide Patienten ist zudem die psychische Bewältigung körperlicher Erkrankungen nur eingeschränkt oder sogar ganz unmöglich. Das kann wiederum erhebliche Folgen für die Patienten selbst haben, aber auch für ihre Angehörigen und die professionell Betreuenden im Gesundheits- und Sozialsystem, wie (Haus-)Ärzte, Pflegedienste und Therapeuten (Lindner et al. 2013). Eine Befragung unter professionell tätigen Pflegekräften im ambulanten und stationären Bereich hatte vor einigen Jahren bereits zeigen können, dass 82 % der Befragten mit kriegstraumatisierten Patienten zu tun haben und mehr als drei Viertel der Pflegenden auch eine unmittelbare Auswirkung der psychischen Belastungen auf den Pflegealltag empfanden (Wilhelm und Zank 2014).
Dennoch ist die epidemiologische Datenlage über psychische Störungen im Alter leider bis heute noch sehr begrenzt. Es kann nicht eindeutig gesagt werden, ob psychische Erkrankungen im Alter mehr oder weniger häufig vorkommen als bei jüngeren Menschen (Landeszentrum Gesundheit NRW 2020). Eine wesentliche Ursache für die Schwierigkeiten bei der Datenerhebung ist, dass sich psychische Erkrankungen im Alter anders äußern können als bei jüngeren Menschen. Außerdem können kognitive Einschränkungen, wie man sie bei Demenz- oder Delirpatienten erlebt, eine Diagnostik psychischer Erkrankungen im Alter erschweren (Landeszentrum Gesundheit NRW 2020). Daher muss für eine epidemiologische Einschätzung auch auf ältere Daten zurückgegriffen werden. Eine deutschlandweite Analyse des Robert Koch-Institutes aus dem Jahr 2014 zeigte, dass unter allen 65- bis 79-Jährigen etwa 20 % an einer psychischen Erkrankung litten, wobei Demenz und Persönlichkeitsstörungen nicht mit berücksichtigt wurden (Jacobi et al. 2014; (Landeszentrum Gesundheit NRW 2020). Betrachtet man nur ältere Patienten, die sich in stationärer akutgeriatrischer Behandlung befinden, kommt man in Deutschland schnell an Grenzen. In Frankreich und China haben entsprechende Untersuchungen zeigen können, dass die Häufigkeit von psychischen Erkrankungen unter älteren Patienten in Akutgeriatrien zwischen 25 % und 30 % liegt (Mayer und Baltes 1999). Da es für Deutschland keine vergleichbaren aktuellen Daten gibt, greift man gerne auf die sehr umfangreichen, aber eben auch schon älteren Datensätze der Berliner Altersstudie von 1996 zurück (Mayer und Baltes 1999): Diese Datensätze zeigen, dass mehr als 50 % aller über 70-Jährigen unter psychopathologischen Symptomen litten (Mayer und Baltes 1999) und 30–44 % aller älteren Krankenhauspatienten eine psychosomatische/psychiatrische Komorbidität hatten (Stuhr und Haag 1989; Mayer und Baltes 1999). Doch trotz dieser hohen Prävalenz wird bis heute immer noch selten eine Behandlungsindikation bei diesen Patienten gestellt. Es kam die Vermutung auf, dass diese Beobachtung im Zusammenhang stehen kann mit dem fachlichen Schwerpunkt des vom Patienten aufgesuchten Arztes. Eine Auswertung von Daten der gesetzlichen Rentenversicherung zeigte 2013, dass sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich mindestens zwei Drittel der Patienten mit psychiatrischer bzw. psychosomatischer Diagnose ausschließlich von Fachärzten für somatische Medizin behandelt wurden (Gaebel et al. 2013). Damit werden somatisch tätige Fachärzte, die ältere Patienten behandeln (wie z. B. Allgemeinmediziner, Geriater, Kardiologen, Orthopäden) vor die besondere Herausforderung gestellt, insbesondere bei Ausschluss einer organischen Ursache, auch immer differenzialdiagnostisch an eine psychosomatische Ursache zu denken.
Untersuchungen von Daten von Versicherungsträgern haben gezeigt, dass 84 % der Patienten mit psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen ausschließlich ambulant versorgt werden. Dabei werden fast drei Viertel der Patienten mit psychiatrischer Diagnose ausschließlich von Fachärzten für somatische Medizin behandelt. Auch im Krankenhausbereich werden bis zu zwei Drittel der Patienten mit psychiatrischer oder psychosomatischer Diagnose durch Fachabteilungen für somatische Medizin behandelt (Gaebel et al. 2013).
Unter ambulanten Patienten ist der primäre Ansprechpartner bei psychischen Störungen unterschiedlicher Art in den meisten Fällen der primär somatisch ausgebildete Hausarzt, der damit vor eine große Herausforderung gestellt wird (Heuft et al. 2014). Um die ambulante Versorgungssituation psychisch erkrankter Menschen für beide Seiten zu optimieren, legte der Arbeitskreis Psychosomatische Grundversorgung der Bundesärztekammer 2001 das aktualisierte strukturierte Curriculum »psychosomatische Grundversorgung« vor (Kruse et al. 2001). Ziel dieses Curriculums ist bis heute die Förderung der Versorgungsqualität psychischer und psychosomatischer Erkrankungen durch eine gezielte Basisweiterbildung von interessierten Haus- und Fachärzten. Diese psychosomatische Grundversorgung konkurriert keineswegs mit psychotherapeutischen oder psychosomatischen Leistungsangeboten, sondern soll diese vielmehr ergänzen: Somatisch orientierte Haus- und Fachärzte sollen mit Hilfe des Curriculums »psychosomatische Grundversorgung« die entsprechende Basisqualifikation erlangen, die es ihnen ermöglicht, psychische Probleme bei ihren Patienten sicher zu erkennen und angemessen zu berücksichtigen. Damit können sie ihren Patienten erste Unterstützung und Aufklärung anbieten und bei der Entscheidung darüber helfen, ob eine psychotherapeutische Weiterbehandlung indiziert ist.
Das Curriculum ist Baustein des 4-Ebenen-Modells einer zukunftsfähigen Versorgung psychisch und psychosomatisch Kranker (Heuft et al. 2014):
• Baustein 1: Kenntnisvermittlung bereits im Medizinstudium
• Baustein 2: Kompetenzerwerb in der psychosomatischen Grundversorgung für alle ärztlichen Fachbereiche (obligat für Hausärzte und Gynäkologen)
• Baustein 3: Mehr Angebote von Kurzzeit-Psychotherapie (fachgebundene Psychotherapie)
• Baustein 4: Differenzielle Behandlung durch psychiatrische/psychosomatische Fachärzte
Ärzte mit der Zusatzqualifikation »psychosomatische Grundversorgung« haben im ambulanten Bereich die Möglichkeit, eine »differenzialdiagnostische Klärung psychosomatischer Krankheitszustände« (Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) 806/Einheitlicher Bewertungsmaßstab (EBM) 35100) bzw. eine »verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen« (GOÄ 849/EBM 35110) abzurechnen. Im klinisch akutgeriatrischen Bereich haben die Ziffern bisher leider (noch) keine Diagnosis Related Groups (DRG) Relevanz und auch keinen Einfluss auf die in der Akutgeriatrie abrechenbaren Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) 8-550.-.
Da jedoch vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung der Bedarf an psychosomatischer Grundversorgung für betagte und oft multimorbide Patienten zunimmt, ist es für diejenigen Ärzte, die mit der ambulanten Versorgung älterer Menschen betraut sind, vorteilhaft, sich mit den besonderen Herausforderungen psychischer Belastungen im höheren Lebensalter vertraut zu machen. Dieses Buch soll dazu einen Beitrag leisten.
Für den klinisch akutgeriatrischen Bereich würde die psychosomatische Grundversorgung einen Zugewinn an Qualität bedeuten. Eine Befragung von geriatrischen Klinikärzten ergab, dass sich die meisten eine Verbesserung der interdisziplinären Versorgung psychisch und psychosomatisch belasteter älterer Patienten wünschen (Röhrig und Lindner 2019). Hier könnte der Einsatz der psychosomatischen Grundversorgung einen ersten Schritt darstellen. Das in der Geriatrie ohnehin eingesetzte, bisher aber schwerpunktmäßig eher funktionell und kognitiv ausgerichtete multidimensionale geriatrische Assessment (comprehensive geriatric assessment (CGA), welches der Erfassung von Ressourcen und Defiziten des einzelnen Patienten dient, könnte um biopsychosoziale Aspekte erweitert werden. Damit könnte den behandelnden Klinikärzten die Einschätzung erleichtert werden, die betreffenden Patienten im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung zusätzlich zu betreuen und sofern nötig, eine bedarfsadaptierte frühzeitige Anbindung an (Alters-)Psychotherapeuten zu bahnen. Auch wenn Interventionen der psychosomatischen Grundversorgung in der Akutgeriatrie bisher keine DRG-Relevanz haben, so birgt der steigende Bedarf das Potenzial dafür, auf Seiten von Politik und Kostenträgern längerfristig umzudenken.
Im höheren Lebensalter kommt es zu einer engeren Verzahnung der körperlichen, funktionalen, seelischen und sozialen Ebenen von Gesundheit, die bei > 60-Jährigen einen zentralen Stellenwert einnimmt. Bisher wichtige Zentralthemen werden abgelöst: Berufliche Probleme lösen sich bei den meisten älteren Patienten durch den Eintritt der Rente von allein auf; familiäre Sorgen treten durch die inzwischen meist erwachsenen und selbständigen Kinder in den Hintergrund und finanzielle Herausforderungen wie Hausbau und Autokauf haben sich bei vielen älteren Menschen bis zum Rentenalter infolge erfolgter Abbezahlung relativiert. Es kommt zu einer Neuorientierung der Zentralthemen, oft verbunden mit dem Wunsch nach Realisierung langgehegter Wünsche (»wenn ich mal in Rente bin, dann …«). Nicht selten führt diese Neuorientierung jedoch zu einer Diskrepanz zwischen subjektivem Erleben und objektivem Befund, wobei funktionelle Defizite sowohl unter- als auch überschätzt werden können. So kann zum Beispiel eine neurogen bedingte Gangstörung bei diabetischer Polyneuropathie zu einer Überschätzung der Gangstabilität führen und einen Sturz provozieren. Ebenso kann eine unterschätzte Herzinsuffizienz während der Realisierung der langersehnten Nordkaptour am Steuer des Wohnmobils infolge Überanstrengung zu einem akuten Myokardinfarkt führen.
Andererseits aber kann auch ein erlebtes einmaliges Stolper-Sturzereignis ein so starkes Vermeidungsverhalten nach sich ziehen, dass aus Angst vor erneutem Sturz übervorsichtig auf den ersehnten Schwarzwaldurlaub verzichtet wird und sogar der vollständige Rückzug vom sozialen Leben droht.
Durch die neu aufgetretenen eigenen gesundheitlichen Probleme aber auch diejenigen der Partner und Verwandte oder Freunde sehen sich viele ältere Menschen mit der Endlichkeit des eigenen Lebens konfrontiert. Der Tod eines nahestehenden Menschen kann dabei unmittelbar die Angst vor dem eigenen Tod verstärken und zu pathologischen Trauerreaktionen führen. Daneben können auch eine problematische Krankheitsverarbeitung und chronisch seelische Belastungen ebenso wie konflikthafte soziale Situationen Anzeichen für eine problematische Bewältigung der Entwicklungsaufgabe »Altern« sein. In der Kasuistik 3.1 wird diese Problemkonstellation fallbasiert dargestellt: Bei der betreffenden Patientin fließen eine problematische Krankheitsverarbeitung sowie nie aufgearbeitete chronisch seelische Belastungen zusammen und begünstigen die Entwicklung einer pathologischen Trauerreaktion ( Kap. 3.1).
Ein anderer Aspekt der Entwicklungsaufgabe Altern zeigt sich in der Kasuistik 3.7 ( Kap. 3.7). Hier haben die veränderten Lebensumstände mit Tod des Partners, Alleinleben, Wegfall der kontrollierenden Instanzen, Schwiegereltern und Entbindung von sozialen Verpflichtungen dazu geführt, dass sich das Selbstwertgefühl der Patientin im hohen Alter beginnen konnte, zu entwickeln und die Patientin einen Individuationsprozess durchläuft. Dieser eigentlich sehr begrüßenswerte Prozess erfolgte initial jedoch unbewusst und ging mit auffallenden Verhaltensänderungen einher (Liegenlassen von Rechnungen, Reduktion von Kontrollverhalten, Lockerungen des früher sehr streng strukturierten Tagesablaufes), welche innerhalb des sozialen Umfeldes (Kinder, Familie-/Freundeskreis) auf Unverständnis stieß. Die dadurch entstehenden Konflikte haben dazu verholfen, dass die Patientin sich im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung Unterstützung suchte und fand.
Das Schwierige an der Bewältigung dieser Entwicklungsaufgabe ist, dass die meisten Menschen sich mit ihr eher unvorbereitet konfrontiert sehen, da in vielen (westeuropäischen) Gesellschaften Themen wie Alter, Krankheit und Tod einer relativen Tabuisierung unterliegen: Man möchte sich in gesundheitlichem Topzustand und bei beruflichem Karriereschub nicht mit dem eigenen Tod oder dem Älterwerden auseinandersetzen, auch wenn diese unbestritten als Teile des Lebens akzeptiert werden. Das Altern wird damit zu einer Entwicklungsaufgabe.