Philippe Grimbert
Un secret
Von Pia Keßler
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe in der Originalsprache: Philippe Grimbert: Un secret. Hrsg. von Wolfgang Ader. Stuttgart: Reclam, 2007. (Universal-Bibliothek. 19731.)
2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2018
RECLAM ist eine eingetragene Marke
der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960596-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-05441-0
www.reclam.de
Inhalt
1. Erstinformationen zum Werk
2. Inhalt
3. Personen
4. Struktur und Erzähltechnik
5. Interpretation
6. Autor und Zeit
7. Rezeption
8. Dossier pédagogique
9. Lektüretipps/Medienempfehlungen
Anmerkungen
Hinweise zur E-Book-Ausgabe
1. Erstinformationen zum Werk
Es kommt gar nicht so selten vor, dass sich Kinder in einem bestimmten Alter ein Geschwisterkind, einen Hund, einen Freund, eine Freundin, neue Eltern oder Verwandte erfinden. In der Psychoanalyse nennt man das »DissoziationDissoziation im Kindesalter«. Ebenfalls relativ häufig nehmen diese erfundenen Gefährten im Kopf der Kinder sehr reale Züge an, fangen an, für sie zu existieren. Das kann so weit gehen, dass sie ihm/ihr einen Platz im Auto neben sich freihalten, den Tisch für eine Person decken, die nur in ihrer Kinderwelt existiert. So ist es auch nicht ganz ungewöhnlich, dass der Ich-Erzähler des Romans sich einen Bruder erfindet. Zumal er Einzelkind ist, ist es verständlich, dass er gern ein Geschwister haben möchte, einen Bruder, an dem er sich messen kann, dem er Dinge erzählt, die er seinen Eltern nicht erzählen kann. Er erfindet sich einen älteren Bruder, einen, der größer, schöner und stärker ist. Außergewöhnlich ist, dass Philippe sich einen Bruder erfindet, der tatsächlich existiert hat.
Im Kindesalter merkt der Ich-Erzähler, dass es ein Geheimnis in seiner Familie gibt, er spürt ein Schweigen, das ihn Ungewissheit und Vorahnungverunsichert, ihm Angst einjagt und ihn sensibel für Beobachtungen macht. Er will das Geheimnis, das er spürt, aufdecken.
Der Erzähler präsentiert die Eine FamiliengeschichteFamiliengeschichte zweimal; die erste Fassung ist seine Wunsch- und Phantasieversion, eine Version, die typisch ist für Kinder, die sich eine ideale Familie wünschen, die ihre Eltern als Helden sehen wollen und sich selbst als geliebtes Kind. Es ist die seiner Eltern, die ihn als erstes und einziges Kind nach einer Liebesheirat bekommen haben.
Er erfindet sich die Geschichte ihres Kennenlernens, ihrer Liebe, ihrer ersten Begegnungen und macht dies fest an den wenigen Fakten, die die Eltern ihm erzählen. Der Krieg spielt kaum eine Rolle in dieser Fassung. Er macht sie fest an einzelnen Fotos und ergänzt den Rest mit Hilfe seiner Die PhantasieversionPhantasie.
Die zweite Version ist die Die wahre Geschichtewahre Geschichte. Das Geheimnis, das auf der Familie lastet, wird entdeckt und führt den jungen Philippe zu den schrecklichen Wahrheiten des Krieges, des Holocaust, des Schicksals der Juden. Es ist die Geschichte eines einzelnen Schicksals, aber eines, das es so mehrfach gegeben haben könnte. Philippe hatte diesen Bruder tatsächlich; es war ein Halbbruder, der mit seiner Mutter, der ersten Frau seines Vaters, in Auschwitz ermordet worden ist. Die Kriegsgeschichte holt seine Realität ein.
Im Alter von 15 Jahren erfährt er die Wahrheit. Der Auslöser kommt von außen, eine Filmvorführung zum Holocaust macht ihm unbewusst klar, dass er sich dieser Realität nicht mehr entziehen kann. Der Ich-Erzähler erkennt, dass es für ihn wichtig ist, möglichst viel zu erfahren, und er macht genau das Gegenteil von dem, was seine Eltern gemacht haben.
Er verdrängt Das Ende der Verdrängung nicht, er will möglichst viel wissen, er will Informationen über die Zeit, den Krieg, das Leben des Halbbruders und dessen Mutter. Er will diesem toten Bruder eine Identität geben, um sich selbst und die Familie durch die Aufarbeitung der Vergangenheit zu befreien. Vor allem gelingt ihm das durch die Psychoanalyse. Erst viel später wird er das Schweigen brechen. Er wird Psychoanalytiker und therapiert sich selbst und seine Eltern. Der Roman ist eine Autofiktion, die Grundkonstellation und der Tod in Auschwitz entsprechen der biographischen Wirklichkeit des Autors, die Geschichte einer großen Leidenschaft, die er erzählt, entspringt eher seiner literarischen Phantasie.
Philippe Grimbert hat diesen Roman nicht geschrieben, um Schuldzuweisungen vorzunehmen, sondern zum einen, um das Geschehen schreibend zu verarbeiten, zum anderen, um ein literarisches Zeugnis abzulegen von einer Geschichte, wie sie so kein Einzelfall war und die schrecklichen Auswirkungen des Krieges verdeutlicht. Dem Psychoanalytiker Grimbert geht es darum, deutlich zu machen, wie sich Verdrängung und Verschweigen physisch und psychisch auswirken, und zu zeigen, wie sich die Wahrheit Bahn bricht und wie die Kenntnis der Wahrheit schlussendlich auch zu ihrer Das SchreibmotivVerarbeitung führen kann. Grimbert zeigt auch, dass dies manchmal erst in der nächsten Generation passiert. Der letzte Satz des Romans fasst seine Motivation zusammen: »Ce livre serait sa tombe.«