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Der Autor

ao. Univ.-Prof. Mag. DDr. Andreas Hergovich, lehrt und forscht an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Anomalistische Psychologie, Philosophie der Psychologie.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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2., aktualisierte und erweiterte Auflage

Copyright © 2021 Facultas Verlags- und Buchhandels AG facultas, Universitätsverlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Umschlagfoto: © Dr. After123 – iStock

Lektorat: Astrid Fischer, Berlin

Satz: Wandl Multimedia-Agentur

Druck: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany

utb-Nummer 5591

ISBN 978-3-8252-5591-6 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8385-5591-1 (Online-Leserecht)

ISBN 978-3-8463-5591-6 (E-PUB)

Inhalt

Vorwort

1 Lernen

1.1 Klassisches Konditionieren

1.1.1 Die Arbeiten von Pawlow

1.1.2 Praktische Anwendung der Konditionierung

1.2 Operantes Konditionieren

1.2.1 Der Problemkäfig von Thorndike

1.2.2 Der Behaviorismus

1.2.3 Die Arbeiten von Skinner zum Operanten Konditionieren

1.2.4 Arten von Verstärkern

1.2.5 Verstärkerpläne

1.2.6 Die Konditionierung abergläubischen Verhaltens

1.3 Kognitive Wende

1.3.1 Kritik am behavioristischen Paradigma

1.3.2 Die Lerntheorie von Bandura

1.4 Gedächtnis

1.4.1 Die Gedächtnisforschung von Ebbinghaus

1.4.2 Die Studie von Bartlett (1932)

1.4.3 Das Ultrakurzzeitgedächtnis

1.4.4 Das Kurzzeitgedächtnis

1.4.5 Das Arbeitsgedächtnis

1.4.6 Das Langzeitgedächtnis

1.4.7 Vergessen

1.4.8 Gedächtnistäuschungen

1.4.9 Altersabhängige Veränderungen des Gedächtnisses

1.4.10Was zeichnet Personen mit hervorragendem Gedächtnis aus?

1.5Praktische Lerntipps

1.6Die PQ4R-Technik

2 Denken und Problemlösen

2.1 Definitionen

2.2 Deduktives Denken

2.2.1 Einleitung

2.2.2 Die Selektionsaufgabe

2.2.3 Kategoriale Syllogismen

2.3 Induktives Denken

2.3.1 Verfügbarkeitsheuristik

2.3.2 Repräsentativitätsheuristik

2.3.3 Ankerheuristik

2.3.4 Affektheuristik (Gefühlsheuristik)

2.3.5 Simulationsheuristik

2.3.6 Einfache Heuristiken

2.3.7 Probabilistisches Denken

2.4 Problemlösen

2.5 Sind Menschen rational?

2.5.1 Der Ansatz des reflektiven Equilibriums

2.5.2 Zum Unterschied zwischen Kompetenz und Performanz

2.5.3 Menschliche Rationalität aus psychologischer Sicht

2.5.4 Optimisten und Pessimisten in Bezug auf menschliche Rationalität

2.5.5 Fazit

3 Volition und Willensfreiheit

3.1 Definitionen

3.2 Experimentelle Befunde zur Willensfreiheit

3.2.1 Die unbewusste Initiierung intentionaler Handlungen

3.2.2 Kritik an den aus den Libet-Experimenten gezogenen Schlussfolgerungen

3.2.3 Subliminale Reize als Determinanten kontrollierter Handlungen

3.2.4 Fehlattribution der Urheberschaft

3.2.5 Fazit zu den experimentellen Befunden

3.3 Der Determinismus als implizite Hintergrundüberzeugung für die Leugnung der Willensfreiheit

3.4 Kritik am Determinismus

3.5 Fazit zur Willensfreiheit

3.6 Zur Phänomenologie der Entscheidung

3.7 Psychologische Studien zu den Konsequenzen des Glaubens an den freien Willen

3.8 Die Theorie der subjektiven Freiheit von Steiner

4 Literatur

Abbildungsverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Im vorliegenden Buch zur Allgemeinen Psychologie werden die Themen Denken, Lernen und Volition einführend und kompakt behandelt. Das Buch wurde begleitend zur Vorlesung Allgemeine Psychologie II des Erweiterungscurriculums geschrieben und kann auch als Lernunterlage für diese Lehrveranstaltung verwendet werden. Die Lehrveranstaltung wird von besonders vielen Studierenden des Unterrichtsfaches „Psychologie und Philosophie“ besucht. Daher berücksichtigt das Buch neben der psychologischen Forschung auch philosophische Aspekte. Besonders an zwei Stellen ist das eingehender der Fall. So lässt sich die Frage, ob Menschen prinzipiell rational sind, nicht befriedigend beantworten, ohne zu klären, welches Konzept der Rationalität dahintersteht und ob diese Frage überhaupt einer empirischen Prüfung zugänglich ist. Ebenso wichtig ist es mir, die sehr populäre These, dass neurowissenschaftliche Resultate die Freiheit des menschlichen Willens widerlegt hätten, kritisch zu hinterfragen.

Die Kapitel dieses Buches umfassen die Themen klassisches und operantes Konditionieren, kognitive Wende, Gedächtnis, Gedächtnistäuschungen, deduktives und induktives Denken, Urteilsheuristiken, Problemlösen, Rationalität und Willensfreiheit.

Für die Korrektur und das Lesen des Manuskripts möchte ich mich herzlich bei Franz Brazda, Bernhard Oberfichtner, Andreas Pfaffel, Nicolas Pils und der sehr gründlichen Verlagslektorin Astrid Fischer bedanken. Die Zusammenarbeit mit Sigrid Mannsberger-Nindl und Victoria Tatzreiter vom Facultas-Verlag hat in bewährter Manier bestens funktioniert.

Wien, Jänner 2021

Andreas Hergovich

1 Lernen

1.1 Klassisches Konditionieren

1.1.1 Die Arbeiten von Pawlow

Iwan Pawlow wurde am 26.9.1849 in Rjasan als ältester Sohn eines Priesters geboren. Er hatte sieben Brüder und zwei Schwestern. Nach dem Priesterseminar studierte er in Petersburg Physiologie und Chemie. Am Ende eines anschließenden Medizinstudiums bestand er 1879 das Ärzteexamen und wurde zum Militärarzt ernannt. Bereits 1880 erhielt er eine Goldmedaille für seine wissenschaftlichen Arbeiten zum Blutkreislauf und den Verdauungsdrüsen. Im Jahre 1883 veröffentlichte er seine Dissertation über die „Zentrifugalen Nerven des Herzens“, 1890 erhielt Pawlow an der Petersburger Militärmedizinischen Akademie einen Lehrstuhl für Pharmakologie. Seit 1891 baute er dort das Institut für Experimentelle Medizin auf und leitete die physiologische Abteilung, an der er bis zu seinem Tod im Jahre 1936 tätig war (s. Abbildung 1). 1895 erhielt er einen Lehrstuhl für Physiologische Medizin, den er bis 1925 innehatte (Kussmann, 1977). Für seine Arbeiten zu den Verdauungsdrüsen erhielt er 1904 den Nobelpreis.

Abbildung 1: Ivan Pawlow (aus Gerrig, 2015).

Zwischen 1884 und 1886 hatte sich Pawlow bei Rudolf Heidenhain in Breslau chirurgisch-experimentelle Techniken angeeignet, die zum Ziel hatten, möglichst reinen Magensaft zu gewinnen. Dabei arbeitete Pawlow sein ganzes Leben fast ausschließlich mit Hunden. Pawlow hatte keinerlei moralische Skrupel, seine Tiere am lebendigen Leib zu operieren. Seine Methode der Wahl war die Vivisektion, d. h. die Entfernung von Organen am lebenden Tier, um ihre Funktion zu erklären:

Um die Funktion und die Bedeutung des einen oder anderen Teils für den Gesamtorganismus zu bestimmen, wird dieser Teil aus dem Körper entfernt, und es werden all die Abweichungen von der Norm beobachtet, die am operierten Tier auftreten. (Pawlow, Sämtliche Werkte [SW] VI, S. 4)

Pawlow setzt sich auch mit der Kritik an den Vivisektionen auseinander:

Es ist unbestreitbar, dass der menschliche Verstand ohne Versuche und Beobachtungen an lebenden Tieren kein Mittel hat, die Gesetze der organischen Welt zu erkennen. Damit wird in der Frage der Rechtmäßigkeit der Vivisektion alles, und zwar unwiderruflich, entschieden. Wenn die Menschheit bisher die Jagd auf Tiere duldet, d. h. ihre Leiden und ihren Tod zum Vergnügen der Menschen, wenn Tiere geschlachtet werden, um Menschen zu ernähren, wenn die Menschen selbst zu Tausenden im Krieg vielfachen Leiden und dem Tod ausgesetzt werden, wie will man sich dagegen auflehnen, dass Tiere einer der höchsten Bestrebungen des Menschen zum Opfer gebracht werden, dem Streben nach Wissen, und einer der großen Ideen, der Idee der Wahrheit! (Pawlow, SW VI, S. 17)

Meistens wurden die Tiere narkotisiert (wobei er zugesteht, dass es öfters zum Tod durch die Narkose kommt) oder mit Kurare behandelt, um sie an Bewegungen zu hindern, da „sich mit dem Tier viel bequemer arbeiten [lässt], wenn es narkotisiert ist. Wenn das Tier keine Narkose hat, so schreit es, stöhnt es, schlägt um sich, macht Bewegungen, und das alles stört die Arbeit“ (ebd., S. 36).

Es wurden am lebendigen Leib Herzen herausgeschnitten, die Reaktion der Lunge auf Ersticken beobachtet, vor allem aber interessierte sich Pawlow für die Verdauung und hier besonders für die Sekretion des Magensaftes und des Speichels.

Damit man einen Eindruck davon bekommt, was die Tiere Pawlows mitmachen mussten, soll hier die Schilderung eines Eingriffs wiedergegeben werden. Nach einer operativen Abtrennung des Leberkreislaufs vom übrigen Kreislauf notiert Pawlow:

Bei den am Leben gebliebenen Tieren wurde eine ganze Reihe von pathologischen Symptomen beobachtet, die z. B. das Nervensystem betrafen. […] Die Tiere fraßen bald das eine, bald das andere Futter […], einmal stürzten sie sich auf Nahrung, dann hörten sie wieder auf zu fressen usw. Gleichzeitig damit beobachtete man Erbrechen und Durchfall. Die Schädigung des Nervensystems machte sich vor allen Dingen in einer starken Reizbarkeit des Tieres bemerkbar. Während die Hunde vorher ruhig waren, wurden sie jetzt so bösartig, dass sie die Laboratoriumsgehilfen nicht an sich heranließen. Weiter bekamen die Hunde zeitweise Anfälle, die mit äußerster Unruhe begannen (die Tiere warfen sich im Käfig umher, bissen in das Gitter usw.) und mit klonischen und tonischen Krämpfen endeten. Nach den Krämpfen waren die Hunde geschwächt, hatten einen ataktischen Gang und eine sehr herabgesetzte Sehkraft (an Blindheit grenzend) sowie eine vollkommene Anästhesie. Manche Hunde starben nach den Anfällen, andere dagegen erholten sich und machten im Lauf eines Monats mehrere solcher Anfälle durch, die schließlich dennoch mit dem Tod durch Erscheinungen eines komatösen Zustands und tetanischer Kontraktion endeten. […] Gleichzeitig damit wurden noch andere Versuche angestellt, die sich einmal mit den Folgen einer Leberexstirpation befassen sollten und zum anderen mit den Folgen einer vollkommenen Blutleere, indem man neben der vena portae auch die arteria hepatica unterband. Bei der Exstirpation verfielen die Tiere schon am Schluss der Operation in einen komatösen Zustand. Bald danach begannen krampfartige Zuckungen einzelner Glieder, die sich verstärkten und den ganzen Körper ergriffen. Schließlich nahmen sie einen klonischen Charakter an, und das Tier verendete. Der Tod trat 2 bis 6 Stunden nach der Operation ein. [Nicht viel besser erging es ihnen nach der Blutentleerung.] (Pawlow, SW II/1, S. 143)

Das bevorzugte Tier für Pawlow ist der Hund, weil er bis zur Rührung des Forschers (SW VI, S. 251) bereitwillig die größten Schmerzen erträgt, danach das Kaninchen,

„ein sanftes passives Tier, welches nur selten schreit und protestiert“. Mit Katzen, die er als ungeduldige, schreiende und böse Tiere bezeichnet (SW VI, S. 251), arbeitete Pawlow nur ungern.

In seinen Versuchen stellte er dann fest, dass allein der Anblick von Nahrung bei einem hungrigen Tier genügt, dass es zur Magensaftabsonderung kommt. Dabei würde es nicht ausreichen, dem Hund das Futter immer nur zu zeigen, man müsse ihn auch manchmal fressen lassen, weil der Hund als intelligentes Tier ansonsten das Spiel schnell durchschaut und sich verärgert abwendet. Zentraler Einflussfaktor auf die Magensaftabsonderung war der „Appetit“. Hunde, die lieber Brot als Fleisch fraßen, sonderten bei Brot viel mehr Magensaft ab als bei Fleisch und umgekehrt. Und wenn

einem Hund, ohne dass er es merkt, d. h. ohne Anregung seines Appetits, durch ein metallisches Röhrchen Brot in den Magen eingeführt wird, so kann es dort eine ganze Stunde unverändert liegenbleiben, ohne die geringste Saftsekretion anzuregen, da es keine Stoffe enthält, die die Magendrüsen reizen. (Pawlow, SW II/2, S. 427)

Diese Erkenntnis führte Pawlow zu der Annahme, dass es sich bei der Tätigkeit der Speicheldrüsen um einen paradigmatischen psychischen Sachverhalt handle: „In der entdeckten Psychologie der Speicheldrüsen finden wir alle Elemente dessen, was wir seelische Tätigkeit nennen: Gefühl, Wunsch, leidenschaftslose Vorstellung, Gedanken über die Eigenschaften dessen, was in den Mund geraten ist“ (1899, SW II/2, S. 426). Ab 1900 begann Pawlow, die Wirkung der Reizung auf Distanz zu untersuchen. Neben physiologischen Versuchen, bei denen den Versuchstieren verschiedene Substanzen (wie Kieselsteine, Sand oder milde Säuren) in den Mund gelegt wurden, führte er auch psychische Versuche durch, bei denen das „Tier durch Eigenschaften äußerer Gegenstände gereizt wird, die für die Funktion der Speicheldrüsen unwesentlich“ sind (1903, SW III/1, S. 13), wie den Anblick des Futters, den Futternapf oder die Schritte des Wärters.

Pawlow verwehrt sich dagegen, sich in das Tier einzufühlen und bei ihm „subjektive“ innere Zustände zu postulieren:

Müssen wir uns zum Verständnis dieser neuen Erscheinungen in den inneren Zustand des Tieres versetzen, uns seine Empfindungen, Gefühle und Wünsche analog den unseren vorstellen? Für den Naturwissenschaftler bleibt, wie mir scheint, auf diese letzte Frage nur eine Antwort, ein entschiedenes „Nein“. (Pawlow, SW III/1, S. 12)

Es ist vielmehr das Ziel, auf einer „rein objektiven Grundlage“ (ebd.) zu forschen und die Physiologie damit nicht nur auf die Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen des Mechanismus, sondern auf diejenigen zwischen Organismus und Umwelt zu erweitern. Die „objektive“ Untersuchung der Erscheinungen macht es für Pawlow methodisch geradezu erforderlich,

unser Denken und Reden in dieser Hinsicht streng zu disziplinieren, den vermuteten seelischen Zustand des Tieres überhaupt nicht zu berühren und begrenzten unsere Arbeit ausschließlich darauf, die Distanzwirkung von Objekten auf die Funktion der Speicheldrüsen aufmerksam zu beobachten und genau zu formulieren. (Pawlow, SW III/1, S. 37)

Der Lohn für diese Disziplinierung ist die Entdeckung gesetzmäßiger Zusammenhänge. Pawlow verstand sich also immer als Physiologe, weil er die Psychologie nicht für eine entwickelte und auch nicht für eine mit der Physiologie vergleichbare exakte Wissenschaft hielt: „Unter diesen Umständen gewinnt der Physiologe nichts, wenn er sich der Psychologie zuwendet“ (SW IV, S. 3).

So wie Pawlow als Physiologe nur die Wirkung bestimmter Reize auf die Reaktion der Speicheldrüsen beobachtete, interessierte er sich bei den „psychischen“ Versuchen nur für die Reaktion auf äußere Reize. Der Unterschied zwischen beiden Versuchen liegt für Pawlow einerseits darin, dass bei den „physiologischen“ Versuchen die Reize unmittelbar in Kontakt mit der Mundhöhle des Tieres kommen, während bei den „psychischen“ Versuchen eine Wirkung der Reize auf Distanz besteht. Andererseits wird das Tier bei den „psychischen“ Versuchen

durch Eigenschaften äußerer Gegenstände gereizt, die für die Funktion der Speicheldrüsen unwesentlich oder sogar ganz zufällig sind. Optische, akustische und selbst die reinen Geruchseigenschaften unserer Gegenstände bleiben, wenn sie anderen Gegenständen angehören, an und für sich ohne jegliche Wirkung auf die Speicheldrüsen, die sich ihrerseits sozusagen in keinerlei Tätigkeitsverhältnis zu diesen Eigenschaften befinden. Reize für die Speicheldrüsen sind bei den psychischen Versuchen nicht nur solche Eigenschaften der Objekte, die für die Funktion der Drüsen unwesentlich sind, sondern überhaupt die ganze Umgebung, in der diese Gegenstände in Erscheinung treten, oder diejenigen Erscheinungen und Gegenstände, mit denen sie in Wirklichkeit in irgendeiner Weise in Verbindung stehen: das Geschirr, in dem sich diese Gegenstände befinden, das Möbelstück, auf dem sie stehen, das Zimmer, in dem dies alles geschieht, die Menschen, die diese Gegenstände bringen, sogar Geräusche, die von ihnen erzeugt werden, selbst wenn sie in diesem Augenblick unsichtbar sind, ihre Stimme, selbst die Geräusche ihrer Schritte. (Pawlow, SW III/1, S. 14)

Ab 1903 bezeichnete Pawlow die psychische Reaktion als „bedingten Reflex“, während die physiologische Reaktion unbedingter Reflex genannt wird. Bei den unbedingten Reflexen unterschied er den Nahrungsreflex, den Aggressionsreflex, den aktiven und passiven Abwehrreflex, den Freiheitsreflex, den Untersuchungsreflex, den Spielreflex sowie mit dem Geschlechts- und Elternreflex die Reflexe der Arterhaltung.

Das Pawlowsche Konditionieren lief folgendermaßen ab: Das Versuchstier befindet sich in einem schalldichten Versuchsraum. Der Experimentator beobachtet das Tier durch ein Fenster von außen. Ausgangspunkt für die Versuche sind unbedingte Reflexe, d. h. angeborene Reflexe. Pawlow arbeitete mit dem Speichelreflex und dem Abwehrreflex, der als Reaktion auf ekelerregende Substanzen entsteht. Die Hunde sind an ein Gestell angeschnallt (s. Abbildung 2).

Abbildung 2: Grundlegender Versuchsaufbau von Pawlow (aus Lefrancois, 2015).

Bevor das passiert, müssen sie an den Versuchsraum gewöhnt werden: Man lässt den Hund kurz alles beschnuppern, streichelt ihn etc. Zunächst wird die Stärke des unbedingten Reflexes überprüft und gemessen, wie hoch die Speichelabsonderung auf eine Portion Futter ist. Dann wird getestet, ob ein neuer Reiz tatsächlich neutral bzw. indifferent ist, indem z. B. nach einem Klingelton ebenfalls der Speichelfluss gemessen wird. Fließt kein Speichel, handelt es sich tatsächlich um einen neutralen Reiz. Wirklich neutral wird der Reiz erst dann, wenn er auch keine Orientierungsreaktion mehr auslöst. Dies erreicht man einfach, indem man ihn mehrere Male vorgibt, bis die Orientierungsreaktion erlöscht. Durch die Konditionierung soll erreicht werden, dass der neutrale Reiz ohne Koppelung mit dem unbedingten Reiz alleine den angeborenen (unbedingten) Reflex auslöst. Dazu wird der neutrale Reiz kurz vor Darbietung des unbedingten Reizes präsentiert (s. Abbildung 3). Es ist wichtig, dass der Hund auch wirklich nach der Darbietung des neutralen Reizes gefüttert wird, Pawlow spricht hier von Bekräftigung des bedingten Reflexes. Ohne eine solche Bekräftigung bleibt der bedingte Reflex aus. Ein bedingter Reflex liegt laut Pawlow erst dann vor, wenn die Vorgabe des neutralen Reizes genügt, einen unbedingten Reflex auszulösen.

Abbildung 3: Der Ablauf des Konditionierens nach Pawlow (aus Zimbardo & Gerrig, 2008, S. 196).

Die Vorgangsweise ist also die folgende:

Man macht mehrere Versuchsdurchgänge, in denen jeweils der bedingte (vormals indifferente) Reiz zusammen mit dem unbedingten Reiz dargeboten wird, wobei beide zusammen den unbedingten Reflex auslösen. Dann lässt man den unbedingten Reiz weg und bietet nur den bedingten Reiz. Wenn er den unbedingten Reflex alleine auslöst, dann ist der bedingte Reflex ausgebildet. Ein neutraler Reiz hat die Fähigkeit erworben, eine angeborene Reaktion auszulösen. Diese neue Verbindung heißt bedingter Reflex. (Kussmann, 1977, S. 42)

Prinzipiell kann jede Änderung der äußeren Situation zu Konditionierungsprozessen führen: „Die zahllosen Schwankungen der Umwelt und Innenwelt des Organismus, von denen sich eine jede in ganz bestimmten Zuständen der Nervenzellen der Großhirnrinde widerspiegelt, können zu einzelnen bedingten Reflexen werden“ (Pawlow, SW IV, S. 35).

Was kann zu einem bedingten Reiz werden? […] Zu einem bedingten Reiz kann jegliches Agens der Natur werden, für das bei einem gegebenen Organismus ein rezeptorischer Apparat vorhanden ist. […] Als Einzelreiz kann ein winziger Bruchteil eines äußeren Agens dienen, wie z. B. die sehr feine Abstufung eines Tones, eine ganz bestimmte, wenn auch kaum unterscheidbare Lichtintensität usw. Allein schon dadurch wächst die Zahl der möglichen Reize ins Unendliche. […] So kann denn eine jede Erscheinung der Natur, die in Gegenwart eines Tieres entsteht, in einen bedingten Reiz verwandelt werden. Aber auch das Aufhören einer Erscheinung kann zu einem bedingten Reiz werden. Es mag z. B. in einem Versuchszimmer das Metronom fortwährend ticken. Während dieses Tickens wird ein Hund ins Zimmer gebracht, das Ticken geht ununterbrochen weiter. Wenn wir jetzt unter diesen Umständen das Ticken unterbrechen und sofort nach dem Stillstand des Metronoms einen unbedingten Reflex hervorrufen, in unserem Fall also Futter reichen oder dem Tier Säure ins Maul gießen, so wird nach einigen solchen Kombinationen das Aufhören des Tickens als bedingter Erreger dieser unbedingten Reaktionen wirken. (Pawlow, SW IV, S. 32)

Dieser bedingte Reflex (bedingte Reaktion) ist der unkonditionierten Reaktion meist sehr ähnlich, aber nie mit ihr ident (so kann auf einen Glockenton zwar Speichelfluss registriert werden, aber keine Kaubewegungen). Folgt auf den konditionierten Stimulus für längere Zeit kein unkonditionierter Reiz, dann wird die konditionierte Reaktion immer schwächer, es kommt zur Löschung (Extinktion) des Verhaltens:

Reizt man einen Hund wiederholt nur mit dem Anblick von Stoffen, die auf Distanz eine Speichelabsonderung bewirken, so wird die Reaktion der Speicheldrüsen immer schwächer, bis sie schließlich gleich Null ist. Je kürzer der Zeitraum zwischen den Reizungen ist, um so schneller ist der Abfall zum Nullpunkt und umgekehrt. (Pawlow, SW III/1, S. 37)

Die Extinktion verläuft dabei negativ beschleunigt, das heißt, die Reaktionsstärke nimmt erst sehr rasch und dann immer langsamer ab. Bei einem bereits gelöschten Verhalten verläuft die Rekonditionierung schneller, als wenn das Verhalten noch nie gelernt wurde.

Die Lernkurve ist ebenfalls negativ beschleunigt, zunächst verläuft der Lernfortschritt sehr rasch, wird dann aber immer langsamer (s. Abbildung 4).

Abbildung 4: Der Verlauf beim konditionierten Lernen, bei der Extinktion und beim Wiederauftreten des konditionierten Stimulus (modifiziert nach Gazzaniga & Heatherton, 2003).

Pawlow konnte verschiedene interessante Phänomene beobachten und überprüfen. Wurde der unbedingte Reiz (das Futter) zeitnah (unmittelbar oder einige Sekunden nach Darbietung des bedingten Reizes) gegeben, kam es zur Ausbildung einer bedingten (konditionierten) Reaktion. Verstrich zwischen der Darbietung des konditionierten und des unkonditionierten Reizes deutlich mehr Zeit, erfolgte die konditionierte Reaktion mit Verzögerung. Pawlow beschreibt einen solchen Versuch folgendermaßen:

Jetzt wurde der Versuch so angeordnet, dass die Einwirkung der Säure vom Beginn des Aufflammens des grellen Lichts um 3 Minuten abgerückt wurde. In einem solchen Fall entwickelt sich der sogenannte verspätete bedingte Speichelreflex, d. h. in der ersten und zweiten Minute gibt es keinen Speichel, und erst in der dritten Minute, unmittelbar vor dem Eingießen der Säure, erscheint Speichel. (Pawlow, SW III/1, S. 104)

Pawlow stellte auch fest, dass bei Reizen, die dem konditionierten Reiz sehr ähnlich sind, konditionierte Reaktionen auftreten, und zwar umso stärker, je ähnlicher der Reiz dem ursprünglichen konditionierten Reiz ist. Die größte Reaktionsstärke erzielt der bedingte Reiz selbst. Man nennt dieses Phänomen Generalisierung.

Wenn z. B. ein Hund auf einen Ton von 800 Hertz konditioniert war, erfolgte auch eine Reaktion (Speichelabsonderung) auf 750 oder 850 Hertz, wohingegen bei 200 oder 1400 Hertz keine oder nur mehr eine schwache Reaktion festzustellen war.

Die natürliche Generalisierung auf einen zunächst breiten Reizbereich kann durch Diskriminationslernen eingeschränkt werden. Dabei wird ein bestimmter Reiz (z. B. ein Ton von 800 Hertz) verstärkt (von einer Futtergabe gefolgt), während ähnliche Reize (wie Töne von 700 oder 900 Hertz) nicht verstärkt werden. Dieser Bereich lässt sich zunehmend einengen, sodass immer genauer differenziert werden kann. So gelang es Pawlow, dass seine Hunde zwischen 800 und 812 Hertz unterscheiden konnten.

Pawlow berichtet auch von einer traumatischen Neurose eines besonders gelehrsamen Hundes, der nach der Überschwemmung des Laboratoriums alle gelernten Reflexe verlernt hatte.

Bei diesem Hund waren sechs positive Reflexe ausgearbeitet: auf das Klingelzeichen, auf Metronomschläge, auf einen bestimmten Ton, auf die Verstärkung der Gesamtbeleuchtung des Zimmers, auf das Erscheinen eines Kreises aus weißem Papier und auf das Erscheinen eines Spielhäschens vor seinen Augen. […] Der Größe nach ordneten sich die positiven Reflexe folgendermaßen: Alle akustischen Reflexe übertrafen die optischen einundeinhalbbis zweimal. Unter den akustischen Reflexen stand an erster Stelle das Klingelzeichen, dann kamen die Metronomschläge und am schwächsten wirkte der Ton. Die optischen Reize waren ungefähr alle von gleicher Größenordnung. Wie schon erwähnt, arbeitete auch dieser Hund in vollkommenster Weise. Alle erwähnten Beziehungen wurden stereotyp produziert. (Pawlow, SW III/2, S. 335)

Nach der Überschwemmung in Leningrad dauerte es einige Tage, bis alles wieder in Ordnung war. Der dem Anschein nach völlig gesunde Hund versetzte die Forscher1 in großes Erstaunen: „Alle positiven, bedingten Reize waren vollkommen verschwunden, es floss überhaupt kein Speichel, und der Hund nahm kein Futter zu sich, das ihm in üblicher Weise vorgelegt wurde“ (SW III/2, S. 336). Nach einiger Zeit stellten die Forscher die Hypothese auf, dass es etwas mit der Überschwemmung zu tun haben könnte, und versuchten mit Geduld und unter Beisein eines Forschers (gewöhnlich war der Hund alleine im Zimmer und der Experimentator im Nebenraum), dem Hund die Reflexe wieder beizubringen. Wurde aber unter der Tür in das Zimmer, in dem sich der Hund befand, ein Strahl Wasser gegossen, waren die bedingten Reflexe wieder verschwunden.

Pawlow rief auch experimentell Neurosen hervor, indem er sehr starke erregende oder hemmende Reize vorgab und dadurch glaubte, entweder den Erregungsoder den Hemmungsprozess überbeanspruchen zu können:

In all diesen Fällen tritt bei den entsprechenden Tieren eine chronische Störung der höheren Nerventätigkeit ein, eine Neurose. Der erregbare Typ verliert fast gänzlich die Fähigkeit, irgend etwas zu hemmen, wobei er allgemein ungewöhnlich erregt ist. Der hemmbare lehnt es, auch wenn er hungrig ist, ab, bei unseren bedingten Reizen zu fressen, wobei er bei der geringsten Schwankung der Umwelt außerordentlich unruhig, gleichzeitig aber auch passiv wird. (Pawlow, SW III/2, S. 400)

Über eine experimentelle Neurose berichtet er:

Bisher wirkte der hemmende Reiz immer nur 30 Sekunden lang. Im folgenden Versuch wendeten wir ihn volle 5 Minuten an. Am nächsten Tag wiederholten wir die 5 Minuten andauernde Hemmung. Und das genügte, damit sich bei dem Hund alles radikal veränderte, und er schwer erkrankte. […] Jeder Tag brachte ein besonderes Bild des Verhaltens. Alle positiven Reflexe verminderten sich außerordentlich, einige fielen vollkommen aus. Der Hemmungsreflex war enthemmt. […] Der Hund war während des Versuchs manchmal außerordentlich erregt, mitunter zeigte er eine starke Atemnot. Er war höchst unruhig, verfiel dann wieder in tiefen Schlaf bis zum Schnarchen, und manchmal zeigte er eine hochgradige Reizschwäche, wobei er auf die geringfügigsten Veränderungen der Umgebung reagierte. […] Dasselbe zeigte sich auch im allgemeinen Verhalten des Hundes. Es wurde schwierig, ihn ins Gestell zu bringen und zum Versuch auszurüsten. […] Die Wärter, die ihn brachten und wegführten, sagten, der Hund sei verrückt geworden. (Pawlow, SW III/2, S. 470)

Durch die Gabe von Brom konnte Pawlow die Neurose nach eigenen Angaben heilen, dann wurde sie abermals experimentell hervorgerufen, danach wieder einige Tage Brom gegeben, bis der Hund wieder vollkommen gesund und normal schien.

Als weitere Methoden, experimentell Neurosen hervorzurufen, nennt er die Kastration und die Kollision der hemmenden und erregenden Prozesse (Pawlow, 1932). Bei der Kollisionsmethode wird die Differenzierungsfähigkeit der Hunde überfordert. Wenn die Hunde gelernt hatten, dass sie nach der Darbietung eines Kreises Futter bekamen (erregender Prozess) und bei der Darbietung einer Ellipse einen Stromstoß (hemmender Prozess), wurde jetzt die Form des Kreises schrittweise immer mehr der Ellipse angeglichen, bis diese kaum mehr zu unterscheiden waren. Neurotisches Verhalten (Winseln, die Hunde bissen in die Messapparatur) war die Folge, die Hunde konnten am Tag danach nicht einmal mehr zwischen der ursprünglichen Form des Kreises und der Ellipse unterscheiden.

Pawlow selbst versuchte, die Konditionierungsprozesse physiologisch durch Hemmungs- und Erregungsprozesse zu erklären, wobei diese Erklärungen weitgehend spe-

kulativ blieben. So „können auch die Reflexe von zweierlei Art sein: positive und negative oder hemmende, oder mit anderen Worten: sie können eine bestimmte Tätigkeit in Gang bringen oder eine schon bestehende Tätigkeit hemmen“ (SW IV, S. 7).

Bei den Hunden selbst unterschied er auch Typen von Hunden, bei denen sich die positiven Reflexe leicht ausbilden (bei denen also die erregenden Prozesse stärker sind), und Hunde, bei denen die hemmenden Reflexe leicht gelernt werden können, während die positiven nur langsam gelernt werden und auch leicht (durch unbedeutende Störreize) gehemmt werden können. Besonders scheue Hunde (die vorsichtig laufen, mit eingezogenem Schwanz und abgewinkelten Beinen) erwiesen sich als besonders lernfähig, wobei es zunächst einige Zeit dauerte, bis die konditionierte Reaktion ausgebildet war:

Ganz zu Beginn ist bei ihm die Bildung der bedingten Reflexe außerordentlich erschwert: Das Anschnallen im Gestell, das Anbringen verschiedener kleiner Geräte am Tier, […]. Wenn aber das alles schließlich überwunden ist, wird der Hund zu einem musterhaften Experimentalobjekt, fast zu einer guten Maschine. (Pawlow, SW III/2, S. 335)

Zwischen den beiden Extremtypen (denen er beim Menschen den Choleriker und den Melancholiker gegenüberstellte) verortete er den zentralen Typ, bei dem beide Prozesse in ausgeglichenem Verhältnis stattfinden (beim Menschen ordnete er den Sanguiniker dem lebhaften ausgeglichenen Typus zu und den Phlegmatiker dem ruhigen). Später versuchte er auch Persönlichkeitsunterschiede (Neurasthenie und Hysterie) durch ein Überwiegen der hemmenden oder erregenden Prozesse zu erklären, bis hin zu einer spekulativen Erklärung der Schizophrenie, die er als höchsten Grad der Hysterie betrachtete (SW III/2, S. 353).

Die bedingten Reflexe bilden für Pawlow die Grundlage der gesamten höheren Nerventätigkeit bei Mensch und Tier, während die unbedingten Reflexe der niederen Nerventätigkeit zugrunde lägen. Zu diesem Schluss kommt er, nachdem er die Großhirnrinde von Hunden entfernt hatte. Diese Hunde bleiben lebensfähig, gehen aber, auf sich allein gestellt, schnell zugrunde. Wenn diese Hunde einige Stunden nach der Fütterung aus zeitweiligem Schlaf erwachen, laufen sie ziellos herum, bis sie gefüttert werden. Von alleine finden sie kein Futter mehr. Dann versinken sie wieder in Schlaf. Während sie herumlaufen, fließt der Speichel. Pawlow schließt daraus, dass diese Tiere keine Signale der Umwelt mehr wahrnehmen können und daher zwar noch ihre unbedingten Reflexe zeigen, wenn man sie füttert, aber sie bilden keine bedingten Reflexe mehr aus, können also nicht mehr adäquat auf Umweltreize reagieren und z. B. das Futter nach seinem Aussehen oder Geruch finden.

Pawlow bleibt auch bei der Untersuchung psychischer Erscheinungen immer Physiologe, ein Naturwissenschaftler, der die fraglichen Phänomene immer nur von außen betrachtet:

Ich habe mit Absicht dem Wort „Seelentätigkeit“ das Beiwort die sogenannte zugefügt. Wenn der Naturwissenschaftler sich die vollständige Analyse der Tätigkeit der höheren Tiere zur Aufgabe stellt, so kann er nicht, ohne die Grundsätze der Naturwissenschaft zu ändern, von einer psychischen Tätigkeit dieser Tiere sprechen. Er hat nicht das Recht dazu, Naturwissenschaft – das ist die Arbeit des menschlichen Verstandes, der der Natur zugewandt ist und der sie ohne irgendwelche Deutungen und Begriffe erforscht, die aus anderen Ursprungsquellen entlehnt sind als der äußeren Natur selbst. Spräche der Naturforscher von einer psychischen Tätigkeit der höheren Tiere, so würde er aus seiner Innenwelt entlehnte Ideen auf die Natur übertragen, d. h., er würde jetzt das wiederholen, was der Mensch beim ersten Zusammentreffen seiner Gedanken mit der Natur schon einmal tat, als er verschiedenen toten Erscheinungen der Natur seine Gedanken, Wünsche und Gefühle unterschob. Für den konsequenten Naturwissenschaftler existiert auch bei den höheren Tieren nur eines: diese oder jene äußere Reaktion des Tieres auf die Erscheinungen der Umwelt. Mag diese Reaktion im Vergleich mit der eines niederen Tieres auch sehr kompliziert sein und unendlich kompliziert im Vergleich mit der eines beliebigen toten Gegenstandes, so bleibt doch das Wesen der Sache dasselbe. (Pawlow, SW III/1, S. 42)

Neben der Konditionierung des Speichelflusses wie bei Pawlow wurde zu weiteren Paradigmen der klassischen Konditionierung geforscht (s. Tabelle 1). Das Paradigma der aversiven Konditionierung konnte auch bei einfacheren Lebewesen nachgewiesen werden. So versuchen Fruchtfliegen (Drosophila) zu fliehen, wenn Elektroschocks mit bestimmten Gerüchen gekoppelt werden (Quinn & Dudai, 1976, s. Abbildung 5). Das zeigt, dass der Mechanismus des Lernens durch klassische Konditionierung ein phylogenetisch sehr alter Mechanismus ist.

Abbildung 5: Der Versuch von Quinn und Dudai (1976; modifiziert nach Gluck, Mercado & Meyers, 2010).

Auch an der Meeresschnecke Aplysia wurden Konditionierungsversuche erfolgreich durchgeführt (Kandel, 1979). Häufig wurde auch die Reaktion des Einfrierens („freezing“, eine Art Schockstarre) als Reaktion auf Geräusche nach Koppelung mit Elektroschocks untersucht und die Konditionierung des Lidschlussreflexes (Blinzeln) durch Töne. Der Lidschlussreflex lässt sich auch beim Menschen gut untersuchen.

Tabelle 1: Paradigmen der Konditionierung.

Konditionierung des Speichelflusses
unkonditionierter Stimulus, US unkonditionierte Reaktion, UR konditionierter Stimulus, CS konditionierte Reaktion, CR
Pawlows Hund Futter Speichelfluss Glocke Speichelfluss
aversive Konditionierung
Fliegenschock Schock Fluchtversuch Geruch Fluchtversuch
konditionierte emotionale Reaktion Schock Einfrieren Ton Einfrieren
Augenblinzeln Luftstoß Blinzeln Ton Blinzeln

In einem Experiment von Siegel, Hearst, George und O’Neal (1968) erhielten Kaninchen kleine Elektroschocks (US) nahe dem Auge nach Vorgabe von Tönen unterschiedlicher Frequenz (CS). Die (un-)konditionierte Reaktion war der Lidschlussreflex. Das Experiment belegt, dass die konditionierte Reaktion schwächer wird, umso unähnlicher der vorgegebene Reiz dem konditionierten Reiz ist (s. Abbildung 6, S. 22). Man spricht hier von einem Generalisierungsgradienten.

Die Steilheit des Generalisierungsgradienten lässt sich experimentell beeinflussen. Betrachten wir dazu Abbildung 7. Wird zunächst auf den mittelgrünen Stimulus konditioniert, so reagieren die Versuchspersonen (Vpn) fast genauso stark auf Reize ähnlicher Farbe. Der Generalisierungsgradient bei A ist flach. Unterscheiden sich die vorgegebenen Reize stärker in der Farbe, ist der Generalisierungsgradient steiler (B). Wird ein Diskriminationstraining durchgeführt, bei dem der unkonditionierte Reiz immer nur auf den mittelgrünen Stimulus folgt, resultiert der Gradient in C.

Abbildung 6: Generalisierung der konditionierten Reaktion in Lidschluss-Experimenten mit Kaninchen (modifiziert nach Siegel et al., 1968).

Abbildung 7: Verschiedene Generalisierungsgradienten beim klassischen Konditionieren (aus Zimbardo & Gerrig, 2004).

In vielen Studien wurde analysiert, wie das optimale Intervall zwischen konditioniertem und unkonditioniertem Reiz sein sollte. So untersuchte McAllister (1953) die Konditionierung des Lidschlussreflexes. Es stellte sich heraus, dass ein zu kurzes Intervall zwischen konditioniertem und unkonditioniertem Reiz genauso ineffizient war wie ein zu langes Intervall. Am besten gelang die Konditionierung bei einem Intervall von 250 Millisekunden (s. Abbildung 8).

Generell variiert das optimale Intervall je nach Reizen, Reaktion und Lebewesen. Während bei vielen Reaktionen ein Intervall von 0,5 Sekunden am effektivsten ist, erweist sich bei der Speichelsekretion ein Zeitintervall von bis zu 10 Sekunden als optimal, bei Furchtreaktionen liegt das „optimale“ Intervall bei bis zu 60 Sekunden (Becker-Carus & Wendt, 2017). Dabei spielt eine Rolle, ob das schnellere zentrale Nervensystem oder das langsamere vegetative System beteiligt ist.

Abbildung 8: Die Ausprägung des Lidschlussreflexes in Abhängigkeit vom Intervall zwischen CS und UCS (modifiziert nach McAllister, 1953).

In der Studie von Garcia, Ervin und Koelling (1966) wurde Ratten nach dem Trinken einer mit Saccharin gesüßten Flüssigkeit eine Injektion gegeben, die Übelkeit auslöste. Die Ratten lernten, die Flüssigkeit zu vermeiden. Die Konditionierung war selbst dann wirksam, wenn zwischen CS und UCS ein Intervall von 75 Minuten lag. In der Untersuchung von Smith und Roll (1967) lag das Intervall zwischen CS und UCS bei zwölf Stunden, dennoch konnte eine Aversion gegen Saccharin beobachtet werden.

Die Untersuchung von Garcia und Koelling (1966) belegt, dass es eine angeborene Tendenz gibt, bestimmte Reiz-Reaktions-Verbindungen leichter zu erlernen als andere. Die Ratten vermieden die Zuckerwasserlösung, wenn sie Übelkeit vorhersagte (gleichgültig ob durch Röntgenstrahlung oder eine Lithiumchloridlösung verursacht), tranken aber sogar mehr Wasser, wenn im Anschluss Elektroschocks verabreicht wurden. Umgekehrt vermieden die Ratten „helles, lärmendes“ Wasser (wenn die Ratte trank, leuchtete eine Lampe auf und ein Klicken war zu hören), das Elektroschocks vorhersagte, nicht aber, wenn danach Übelkeit eintrat (s. Abbildung 9). Offenbar ist der Geschmack eher ein biologischer Hinweisreiz für Übelkeit (der Geschmack ist ein natürlicher Stimulus im Zuge der Nahrungsaufnahme) und Helligkeit bzw. Geräusche signalisieren eher einen drohenden Schock (bzw. fordern zum Fluchtverhalten auf).

Abbildung 9: Die Resultate der Studie von Garcia und Koelling (1966; modifiziert nach Gerrig, 2015).

Während Pawlow die zeitliche Kontiguität (das zeitliche Zusammentreffen) von konditioniertem und unkonditioniertem Reiz betonte und davon ausging, dass der konditionierte Reiz den unkonditionierten Reiz ersetzt,2 zielen neuere Modelle (kognitive Sicht auf das Phänomen) eher darauf ab, dass der Organismus versucht, die Beziehung zwischen konditionierten und unkonditionierten Reizen vorherzusagen. Nach dem Modell von Rescorla und Wagner (1972) geht es um die Bildung von Assoziationen zwischen konditionierten und unkonditionierten Reizen. Je überraschender der unkonditionierte Reiz, je schlechter er also durch den konditionierten Reiz vorhergesagt werden kann, desto größer ist der Lernfortschritt. Im Laufe der Konditionierung lernt der Organismus, dass bestimmte konditionierte Reize den unkonditionierten Reiz besser vorhersagen können. Der „Erkenntnisgewinn“ durch jeden weiteren Durchgang wird immer geringer und dadurch auch der Lernfortschritt. Jeder konditionierte Stimulus steht auch gewissermaßen in Konkurrenz zu anderen anwesenden Reizen. Hat der Organismus bereits gelernt, dass ein bestimmter konditionierter Reiz (z. B. Licht) den unkonditionierten Reiz sehr gut vorhersagen kann, dann erfolgt keine Konditionierung auf andere Reize mehr, die den unkonditionierten Reiz vielleicht fast ebenso gut vorhersagen können, weil kein Bedarf für eine bessere Vorhersage mehr besteht.

1.1.2 Praktische Anwendung der Konditionierung

Viele aus dem Alltag bekannte Phänomene können durch klassische Konditionierung erklärt werden, z. B. das Sauce-Béarnaise-Phänomen, benannt nach der Aversion des Psychologen Martin Seligman (1970), der sich vor dieser Speise ekelte, da er nach einem Genuss von ihr erkrankt war. Viele kennen dieses Phänomen aus eigener Erfahrung: Man isst ein Gericht und danach wird einem übel, man bekommt eine Darmgrippe o. Ä. Mit einem Male ist das betreffende Gericht zum konditionierten Reiz für die Übelkeit geworden und man entwickelt einen dauerhaften Ekel davor, obwohl das Gericht überhaupt nicht die Ursache der Erkrankung gewesen sein muss. Ein solcher Effekt tritt vor allem bei außergewöhnlichen Speisen ein, die man nicht regelmäßig zu sich nimmt (alltägliche Speisen kommen für eine klassische Konditionierung kaum in Frage, s. Degen, 2005).

Auch der Placebo- und der Nocebo-Effekt, also die scheinbare positive oder negative Wirkung von Medikamenten, können durch klassische Konditionierung erklärt werden. Zum Beispiel kommt es bei einer Überdosierung von Insulin bei Zuckerkranken zu einem Insulinschock, der zur Bewusstlosigkeit führen kann. In Versuchen mit Ratten konnte gezeigt werden, dass Ratten nach mehrmaliger Injektion von Insulin bereits beim Anblick der Injektionsnadel in diese schockartige Bewusstlosigkeit fielen (Becker-Carus & Wendt, 2017).

Immunreaktionen lassen sich ebenfalls konditionieren (Schedlowski & Tewes, 1996). In einem Versuch erhielten Ratten zunächst eine süße Saccharinlösung, kurz darauf das Medikament Cyclophosphamid, das bei den Ratten zu Übelkeit und Erbrechen führte. Für die Ratten war die Saccharinlösung ein aversiver konditionierter Reiz, den sie zu vermeiden lernten (manche lernten das schon nach einer einzigen Medikamentengabe). Wenn jetzt versucht wurde, die Konditionierung wieder zu löschen, indem größere Mengen von Saccharin ohne Medikament dargeboten wurden, starben manche Ratten (ohne Medikamenteneinwirkung!). Es stellte sich heraus, dass Cyclophosphamid auch auf das Immunsystem wirkt. Es wirkt immunsuppressiv, sodass die Antikörperbildung gegen Krankheiten unterdrückt wird und die Tiere eher krank werden und in Folge sterben. Offensichtlich wurde das Saccharin für die Ratten auch zum konditionierten Reiz für die Immunsuppression (Ader & Cohen, 1975), sodass die Gabe der Saccharinlösung alleine genügte, um die Immunabwehr der Ratten zu schwächen.

Asthma-Patienten können schon beim Anblick von auslösenden Reizen (wie Katzen oder Pollen) einen Anfall bekommen (Becker-Carus & Wendt, 2017).

Auch Ängste können durch klassische Konditionierung entstehen. Wenn der Lehrer den Schüler für eine schlechte Leistung tadelt, kann er als Person zum negativ konditionierten Stimulus werden und alleine der Anblick des Lehrers kann unangenehme Gefühle oder Ängste auslösen.

Besonders problematisch bei Ängsten ist, dass die auslösenden Reize gerne vermieden werden (man bricht die Schule ab oder meidet den Zahnarzt), weil die Vermeidung angstauslösender Reize angstreduzierend wirkt. Wenn angstauslösende Reize aber immer vermieden werden, können die Ängste auch nicht mehr gelöscht werden. Es ist dann überhaupt nicht mehr möglich, die Erfahrung zu machen, dass ein bestimmter Stimulus nicht mehr mit negativen Konsequenzen verbunden ist. Wenn man z. B. erst dann zum Zahnarzt geht, wenn tatsächlich gebohrt werden muss, ist das nicht unbedingt die beste Strategie, um die Angst vor dem Zahnarzt zu reduzieren.

Bereits Razran (1940) konnte zeigen, dass Einstellungen zu politischen Aussagen durch klassische Konditionierung geändert werden können. Seine Vpn bewerteten zunächst Slogans wie „Amerika den Amerikanern“ oder „Arbeiter der ganzen Welt, vereinigt euch“. Danach wurde die Hälfte der Slogans zusammen mit anderen Aussagen wiederholt dargeboten, während die Vpn köstliche Speisen verzehrten. Die andere Hälfte der Aussagen hörten die Vpn, während sie unangenehmen Gerüchen ausgesetzt waren. Wie erwartet war die Zustimmung zu den Slogans, die während des Essens bewertet wurden, deutlich höher als die Zustimmung zu den Slogans, die mit unangenehmen Gerüchen gekoppelt waren.

Staats und Staats (1958) gaben so auf Länder bezogene Adjektive wie „deutsch“ oder „griechisch“ mit positiv (wie „schön“ oder „froh“) oder negativ (wie „bitter“ oder

„böse“) konnotierten Wörtern zusammen vor. Die zunächst neutral konnotierten Länderadjektive wurden durch die Koppelung ebenfalls positiv oder negativ konnotiert.

Ein großer Anwendungsbereich für die Prinzipien der klassischen Konditionierung ist die Werbung. Seit je her wird mit physisch attraktiven Menschen geworben. Dabei werden auch erotische Reize gezielt eingesetzt und prominente Sympathieträger wie Sportler oder Schauspieler als Testimonials präsentiert, da man davon ausgeht, dass das Produkt von der positiven Assoziation profitiert und es zu einer positiveren Bewertung der Produkte sowie einer höheren Kaufbereitschaft kommt.

1.2 Operantes Konditionieren

1.2.1 Der Problemkäfig von Thorndike

Während Pawlow in Russland seine Konditionierungsversuche mit Hunden durchführte, experimentierte zeitgleich der Amerikaner Edward Lee Thorndike (s. Abbildung 10) v. a. mit Katzen (von diesen Versuchen erhielt Pawlow Kenntnis).

Thorndike, der stark von Charles Darwin beeinflusst war, wollte den Ursprung „des geistigen Lebens“ des Menschen im tierischen Verhalten näher untersuchen:

Abbildung 10: Edward Lee Thorndike (1874–1949).

Die Vielschichtigkeit des Lernens beim Menschen wird am Ende am besten verstanden werden, wenn wir ihr zunächst aus dem Wege gehen und statt dessen lieber das Verhalten der niederen Tiere untersuchen, während sie lernen, bestimmten Situationen auf andere, gewinnbringende Weise zu begegnen. (Thorndike, 1913, zit. nach Amsel & Rashotte, 1977, S. 85)

Für seine Tierversuche entwickelte er den Problemkäfig (die Puzzlebox, s. Abbildung 11behavioristischen