Kapitel 5
Donnerstag, 11.November, 15:35 Uhr
»Das hätte nicht passieren dürfen!«, brüllte Jochen Hübner den uniformierten Kollegen Gerold Schmidtke an. Maike hatte ihn selten so
außer sich gesehen. Jochen war erst vor zehn Minuten eingetroffen. Das
Techniker-Team war bereits seit zwei Stunden bei der Arbeit. Jetzt standen sie
an der Weggabelung, die in den Wald führte, während Kriminaltechnik und Rechtsmedizin den Tatort untersuchten. »Und da wundern Sie sich, wenn die Kollegen Sie Streifenhörnchen nennen! Was hat Bliefert sich dabei gedacht, in dem Waldstück nach der Tatwaffe zu suchen?« Das Gesicht von Jochen lief rot an. »Dafür haben wir geschulte Leute, verdammt noch mal! Und deren erster Grundsatz
lautet: ÜBERLEGEN, DANN HANDELN! Sie hätten einfach warten sollen, bis die Kollegen Graf und Teubner vor Ort waren. Die
kennen sich mit Mordermittlungen aus und hätten nicht wahllos Spuren zerstört, beziehungsweise neue geschaffen. Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie viel
Mehrarbeit Sie uns damit aufhalsen?«
»Es tut mir leid«, stammelte Schmidtke und blickte etwas hilflos zu Maike. »Ich wollte den Kollegen Graf und Teubner nur den Weg zum Tatort erklären und habe Bliefert gesagt, er soll den Weg absperren und aufpassen, dass die
beiden Zeugen sich nicht entfernen.«
Jochen schüttelte genervt den Kopf. »Mensch, das weiß doch jeder Laie, dass man einen Tatort nicht verändern darf.«
Schmidtke hob ratlos die Schultern. »Bliefert ist erst 28.«
»Mit 28 ist man kein Anfänger mehr. Da sollte man den Ablauf kennen: Eigensicherung, Überblick verschaffen, nichts anfassen und weiträumig absperren. Das wäre vorbildlich! Wie Sie sehen, markieren sich die Kollegen der Kriminaltechnik
eine Spurensicherungsgasse «, schnauzte Jochen. »Wo ist Bliefert jetzt?«
Schmidtke deutete den Weg hinunter, wo auf dem gepflügten Feld ein Traktor stand. »Der passt auf Herrn Borck auf. Der Sohn des Opfers meint, der Pächter könnte der Täter sein.«
Jochen Hübner verdrehte die Augen und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ach sooo!«, rief er in gespielter Überzeugung. »Der Fall ist also geklärt! Warum sagen Sie das nicht gleich?«
»Jochen, bitte!« Maike fasste ihren Ex-Freund sanft am Arm. »Gerold kann doch nichts dafür.«
»Und wo ist der Sohn des Opfers?«, blaffte Jochen erneut.
»Max hat ihn zum Restaurant auf dem Hof begleitet«, erklärte Maike an Schmidtkes Stelle. »Andreas Teufel sah sehr mitgenommen aus. Immerhin ist sein Vater tot. Er wollte sich hinlegen.«
»Gut«, nickte Jochen. »Wurden Herr Borck und Herr Teufel junior von den Technikern untersucht?«
»Ja. Das habe ich sofort veranlasst. Ich habe den Pächter selbst befragt. Die KT hat Fußspuren gefunden, die vom Fundort der Leiche bis zu seinem Traktor führen. Das Profil passte zu seinen Gummistiefeln. Er behauptet, sein Handy
vergessen zu haben und deshalb sei er zurückgelaufen, um die Polizei und Andreas Teufel informieren zu können.«
»Hast du den Pächter gefragt, was er im Wald gemacht hat?«
Maike nickte. »Gerhard Borck gibt an, mit seinem Traktor auf dem Feld gewesen zu sein, um
einige Bodenproben zu nehmen. Angeblich möchte er in Zukunft eine neue Kartoffelsorte anbauen. Nun will er testen, ob der
Boden geeignet ist. Als er den Feldrand abgefahren ist, hat er geglaubt, im
Wald ein Licht zu sehen. Einen flackernden Schein, wie bei einer Taschenlampe.
Da er sowieso die nächste Probe einsammeln wollte, hat er den Motor des Treckers ausgestellt und
eine Weile das Waldstück beobachtet. Er glaubte schon, sich getäuscht zu haben, als er einen lauten Schrei gehört hat.«
»Wie hat er reagiert?«
»Er sagt, er ist sofort vom Traktor gesprungen und bis zur Weggabelung gerannt.
Da hat er gesehen, dass jemand am Boden liegt. Als er Friedrich Teufel erreicht
hat, sei der bereits tot gewesen. Borck wollte den Notruf absetzen und hat
bemerkt, dass …«
»Sein Handy lag im Trecker «, unterbrach Jochen. »Könnte so abgelaufen sein. Wenn man auf dem Bock so eines Riesen sitzt, stört das Smartphone vermutlich in der Gesäßtasche.«
»Genau das hat er auch gesagt. Ich habe ihn gebeten, am Traktor zu warten.«
Jochen nickte etwas besänftigt und wandte sich erneut an Schmidtke. »Sie und Bliefert werden Herrn Borck jetzt nach Hause begleiten. Der Mann soll
seine Kleidung wechseln, damit die Kriminaltechnik die untersuchen kann, die er
jetzt trägt. Denken Sie an die Stiefel und packen Sie alles getrennt in
Beweissicherungsbeutel. Die finden Sie da vorn im Transporter der KT.
Beschriften nicht vergessen. Und lassen Sie sich von Borck die Bodenproben
zeigen!«
Schmidtke nickte und wandte sich ab. Er machte einen bedrückten Eindruck. Maike beobachtete ihn einen Moment, hätte ihm gern noch eine Aufmunterung zugerufen, schwieg aber.
»Ich werde mir mal Bliefert vorknöpfen«, erklärte Jochen. »Und mir gleichzeitig ein Bild von Gerhard Borck machen. Kommst du mit?«
Maike schüttelte den Kopf. »Ich möchte mir den Tatort ansehen. Die KT hat eben grünes Licht gegeben.«
»Gut«, nickte Jochen. »Ich bin gleich bei dir.« Er rieb sich fröstelnd die Hände, lächelte ihr kurz zu und ging.
Maike nahm sich aus dem weißen Transporter, den die Mitarbeiter der Kriminaltechnik rückwärts in den Waldweg hineingefahren hatten, einen Schutzanzug sowie Hand- und Überschuhe und zog sie an. Dann lief sie bis zur Absperrung, beugte sich darunter
hindurch und balancierte über die Spurensicherungsgasse zum Fundort der Leiche. Ein großes, weißes Zelt war über dem Tatort errichtet worden, um ihn vor Regen und Wind zu schützen. Die Spuren auf den Zu- und Abwegen waren bereits fotografiert und die
Auffinde-Situation des Opfers dokumentiert worden. Man hatte Fußabdrücke im Boden gesichert und ordentlich gekennzeichnet. Nun waren einige
Mitarbeiter der Kriminaltechnik damit beschäftigt, das umliegende kleine Waldstück zu durchsuchen, denn Bliefert hatte trotz seines Eifers keine Tatwaffe
gefunden.
Maike erreichte das Zelt und schob die Öffnung ein wenig beiseite. Sie sah Rechtsmediziner Werner Severin, der die erste
Leichenschau gerade beendet hatte. Maike kannte ihn aus ihrer Zeit in Dortmund
als freundlichen, besonnenen und kompetenten Kumpeltyp. Rein äußerlich glich er auffallend dem Bares-für-Rares-Moderator Horst Lichter. Er liebte seinen Kaiser-Wilhelm-Bart und trug
ebenfalls eine Nickelbrille. Mit dem weißen Schutzanzug wirkte er hier allerdings nicht wie ein Fernsehstar, sondern eher
wie ein Wissenschaftler in einem kontaminierten Waldgebiet.
»Hey, Werner!«, grüßte Maike ihn. »Wie sieht’s aus?«
Er wandte ihr den Kopf zu und lächelte, als er sie erkannte. »Hallo, Maike! Schön, dich zu sehen. Kommst gerade rechtzeitig. Ich bin hier so weit fertig.« Er drückte sich ächzend aus der Hocke in den Stand und hielt sich den unteren Rücken. »Dieses nasskalte Mistwetter mögen meine alten Knochen nicht.«
Maike nickte besorgt. Der Wind zerrte heftig an den Zeltwänden. Von Westen schob sich eine dunkle Wolkenwand heran. Die ersten Tropfen
fielen bereits. »Bandscheibe?«, fragte sie und deutete auf Severins Rücken.
Der Rechtsmediziner nickte. »Lendenwirbel. Ich werde nächstes Jahr 60. Da muss man mit solchen Wehwehchen rechnen.« Er grinste.
»Auf mich machst du noch einen völlig fitten Eindruck, Werner. Außerdem ist 60 ja heute kein Alter.« Sie deutete auf den Toten zu seinen Füßen. »Todesursache sind die Schläge auf den Kopf, vermute ich?«
Severin hob ratlos die Schultern. »Ich denke ja. Genau kann ich das wie immer erst nach der Obduktion sagen.«
»Fundort gleich Tatort?« Maike hatte außerhalb des Zelts keine Schleifspuren entdeckt. Außerdem hätte der Täter, falls er das Opfer woanders getötet hatte, es wohl tiefer in den Wald hineingeschleift, um ein frühes Auffinden verhindern zu können.
»Ja«, bestätigte Severin sofort. »Erschlagen wurde der Mann hier, wo er aufgefunden wurde. Nach der
Hutkrempelregel sind die Verletzungen oberhalb eines gedachten Hutrands durch
Schläge entstanden.« Er deutete einen Kreis über der Schläfe des Opfers an. »Es gibt aber auch Kratzer im Gesicht, die er sich vermutlich beim Sturz
zugezogen hat. Abschürfungen an der rechten Wange, eine blutige Nase. Ich werde das im Institut
genauer untersuchen.«
»Was hältst du von dem Rosenkranz?«, fragte Maike. »Sah drapiert aus, oder? Ich kann mir kaum vorstellen, dass der alte Mann sich
den selbst umgehängt hat. Nutzt man den religiösen Schmuck nicht nur zum Beten?«
Severin blickte ratlos. »Ja, merkwürdig. Ich habe die Kette fotografiert, bevor sie eingetütet worden ist. Soll ich dir die Fotos schicken?«
»Auf jeden Fall«, nickte Maike, während ein heftiger Windzug an ihrer Schutzkleidung zerrte und es fester zu
regnen begann.
»Mensch, komm rein! Wirst ja ganz nass. Ich warte den Guss noch ab, dann fahr ich
zurück ins Institut.« Er ging erneut in die Hocke und packte seine Sachen in einen Alukoffer.
Maike trat in das Zelt. Obwohl sie in ihrer polizeilichen Laufbahn viele Leichen
gesehen hatte, war es immer ein beklemmendes Gefühl, sich in so unmittelbarer Nähe des Toten zu befinden. Ein kräftiger Regenschauer prasselte auf das Dach des Zelts, während seine Wände dem heftigen Wind trotzen mussten. Wenn sich im Wald noch Spuren befunden
hatten, würden sie den augenblicklichen Witterungsbedingungen nicht mehr lange
standhalten.
Severin hatte seinen Koffer gepackt und stand auf. Im selben Moment wurde die
Zeltöffnung auseinandergeschoben und zwei Mitarbeiter der Kriminaltechnik traten ein.
»So ein Sauwetter«, schimpfte einer der beiden. »Wir sind hier fertig. Da findet sich jetzt sowieso nichts mehr, was man
verwerten kann.«
Der zweite Mann nickte und hob einen Plastikbeutel. »Zum Glück haben wir vor dem Schauer noch die mutmaßliche Tatwaffe gesichert. Vielleicht haften Täterspuren daran.«
Maike blickte neugierig auf den Beutel mit einer großen schwarzen Taschenlampe darin. »Wo habt ihr die gefunden?«
»Am Ende des Waldstücks befindet sich eine Straße. Ganz in der Nähe lag die Lampe auf dem Waldboden. Sie brannte noch, als hätte sie jemand in Panik fallengelassen. Es haften Blutspuren daran.«
»Gab es Fußspuren am Fundort?«
Der Techniker schüttelte den Kopf. »Der Boden dort ist wie ein Nadelteppich. Da bilden sich leider keine Abdrücke. Aber einige Äste im Umfeld waren abgeknickt. Möglich, dass da jemand gestolpert, getaumelt und gefallen ist. Am Straßenrand konnten wir Reifenspuren sichern, ob die relevant sind, bleibt zu klären.«
Maike nickte. Sie dachte an die Aussage des Pächters Gerhard Borck, der einen Lichtschein im Wald ausgemacht hatte. Vom Täter? Oder wollte Borck nur von sich selbst ablenken? Vielleicht hatte er
Friedrich Teufel im Affekt erschlagen, war dann panisch in das Waldstück gerannt und hatte seine Taschenlampe verloren. Wer wusste schon, wie ein Täter sich nach einem Totschlag verhielt? Eventuell war Borck sich erst nach
seiner Tat bewusst geworden, was er getan hatte. Er war zum Opfer zurückgekehrt, um zu sehen, ob man ihm noch helfen konnte. Und danach war er zu
seinem Traktor gegangen, um die Polizei zu informieren.