von Stefanie Mohsennia
Stellen Sie sich vor, morgens in aller Frühe klingelt kein Wecker, der Sie aus dem Schlaf reißt. Der Kampf, an fünf Tagen pro Woche ein unmotiviertes Kind aus dem Bett zu scheuchen und dafür zu sorgen, dass es sich anzieht, frühstückt und rechtzeitig aus dem Haus kommt, findet nicht statt. Der Morgen beginnt friedlich, alle stehen ausgeruht auf und ein produktiver Tag nimmt langsam seinen natürlichen Lauf.1
Klingt das nicht traumhaft? Zu schön, um wahr zu sein? Ein solch luxuriöses Leben kann, so schildert Valerie Fitzenreiter in ihrem Buch The Unprocessed Child, für jeden Wirklichkeit werden, der sein Kind nicht zur Schule schickt. »Verantwortungslos!«, denken Sie? Mehr als zwei Millionen Kinder rund um den Globus haben sich mit ihren Familien bewusst gegen den Schulbesuch entschieden. Sie lernen zu Hause oder anderswo. Sie leben ein Leben ohne Schulstunden.
Einen Moment … Wie soll das gehen? Kinder müssen doch zur Schule gehen, damit sie etwas lernen … oder nicht? Wir alle haben ein Jahrzehnt oder länger die Schulbank gedrückt, anschließend eine Lehre gemacht oder ein jahrelanges Studium absolviert. Eine Welt ohne Schule können wir uns nur schwerlich vorstellen, weil Schule das zentrale Element unserer Kindheit und Jugend war. Wenn wir uns mit dieser Idee auseinandersetzen möchten, müssen wir uns von vielen Konzepten lösen, die uns nach jahrelangem Schulbesuch selbstverständlich und unumgänglich erscheinen. Wie kann ein Kind alles Wichtige lernen, wenn es nicht unterrichtet wird? Das erscheint zunächst undenkbar. Und doch kommen in diesem Buch viele unbeschulte Kinder und deren Eltern zu Wort, und sie alle berichten von ihren positiven Erfahrungen und erstaunlichen Erfolgen.
Wenn wir unsere Schulbildung hinter uns lassen, wird die Sicht frei auf einen anderen Weg des Lernens und eine ganz andere Art des Aufwachsens von Kindern – ein Leben ohne Schule, voller spannender Lernerlebnisse. Um uns mit dem Leben ohne Schule auseinander zu setzen und es zu begreifen, müssen wir uns dem Neuen öffnen, »außerhalb der Schachtel denken« (think outside of the box), wie der Amerikaner sagt, wenn er meint, dass man nicht nur tun soll, was alle machen, sondern auch einmal über das Gewohnte hinaus denken soll.
Dieses Buch will keine Kritik an der Schule üben. Es will kein neues Klagelied anstimmen im Sinne der PISA-Studie und keine Vorschläge ausarbeiten, wie wir den Schulunterricht besser und effektiver gestalten können, damit unsere Kinder mehr lernen und in einem zukünftigen internationalen Vergleichstest besser abschneiden. Ziel ist vielmehr, einen Blick über den Tellerrand hinaus zu wagen, neue Einsichten in den Prozess des Lernens zu gewinnen und einen alternativen Bildungsweg vorzustellen.
Es ist eine erst vor kurzem aufgekommene Vorstellung, und eine verrückte noch dazu, dass wir unseren jungen Menschen etwas über die Welt, in der sie leben, beibringen sollten, indem wir sie aus ihr entfernen und sie in Ziegelsteinkästen einsperren.
John Holt – The Underachieving School
Es tut sich etwas in Deutschland: Die Rufe nach der Bildungsfreiheit werden lauter!
Der UN-Berichterstatter Prof. Dr. Vernor Muñoz spricht sich in seinem Bericht über das deutsche Bildungswesen vom März 2007 eindeutig gegen eine strafbewehrte Reaktion der Behörden auf selbstbestimmtes Lernen außerhalb des Schulgebäudes aus. Volker Ladenthin, Pädagogikprofessor an der Universität Bonn, der sich offiziell für »Homeschooling« stark macht, fordert im Interview mit der Zeitung Die Welt am 23.3.2007 die Legalisierung des Hausunterrichts und nennt die Kriminalisierung der Eltern einen Skandal. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung legt am 4.11.2007 dar, warum die staatliche Schulpflicht unnötig sei, und stellt fest: »Der deutsche Schulzwang ist, sieht man von einigen Diktaturen ab, die Ausnahme und nicht die Regel.« und auch Dieter Lenzen, Präsident der Freien Universität Berlin, fragt sich im Tagesspiegel vom 25.2.2009 unter der Überschrift »Heimunterricht muss erlaubt sein«, warum der Staat in Deutschland die Schulpflicht mit Zähnen und Klauen verteidige.
Anders als die Slowakei, die im Oktober 2007 als einer der letzten Staaten in der Europäischen Union eine umfangreiche Schulgesetznovelle verabschiedet hat, derzufolge »Homeschooling« nach Erfüllung bestimmter Kriterien nunmehr erlaubt ist, kann sich bisher jedoch kein deutsches Bundesland dazu durchringen, die Schulpflicht in eine Bildungspflicht oder besser noch ein Bildungsrecht für Kinder umzuwandeln. Schon 2001 stellte die ZEIT fest: »Um dieses Stückchen Bildungsfreiheit in Deutschland herzustellen, müsste nicht einmal das Grundgesetz geändert werden. Dort ist zwar die staatliche Schulaufsicht verankert, von einer allgemeinen Schulpflicht aber ist nicht die Rede.«1 Wer auch immer den Schritt wagt, die allgemeine Schulpflicht nicht mehr als Anwesenheitspflicht in einem Schulgebäude zu interpretieren, sichert sich den Ehrentitel des Wegbereiters der Bildungsfreiheit in Deutschland.
Stefanie Mohsennia
im Frühjahr 2010
Vermutlich weil heutzutage beinahe alle Kinder zur Schule gehen, sind sie so hoffnungslos unfähig eigene Ideen zu entwickeln.
Agathe Christie
Auf den folgenden Seiten möchte ich Sie einladen mit mir Neuland zu betreten. Neuland nicht in dem Sinne einiger Gebiete der Antarktis, das nie zuvor Menschen betreten haben, sondern Neuland definiert als ein Gebiet, in dem sich bereits viele Menschen niedergelassen haben, das wir selbst bisher jedoch noch nie bereist haben. Unsere Erkundung des Neulandes »Leben ohne Schule« führt unweigerlich zu neuen Erkenntnissen über das Lernen. Wie lernen Kinder bzw. der Mensch im Allgemeinen? Und wo findet dieses Lernen statt? Einsteigen sollten wir aber mit der Frage: Was ist Lernen überhaupt?
In Meyers Neuem Lexikon lesen wir: »Lernen, Sammelbez. für durch Erfahrung entstandene, relativ überdauernde Verhaltensänderungen bzw. -möglichkeiten. […] Menschl. L. ist eine überwiegend einsichtige, aktive, sozial vermittelte Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten, Überzeugungen und Verhaltensweisen.«1 Im Brockhaus heißt es: »Lernen, im vorwiss. wie auch im wiss. Sprachgebrauch der relative dauerhafte Erwerb, die Aneignung von Kenntnissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten, Einstellungen und Verhaltensweisen oder ihre Änderung aufgrund von Erfahrung.«2 Definitionen in anderen Nachschlagewerken lauten ähnlich. Keines der konsultierten Lexika erwähnt auch nur mit einem Wort, dass Lehren eine Voraussetzung für das Lernen ist.
In einem Zeitalter, das von Informationsflut und ständigem technologischen Wandel geprägt ist, ist in unseren Köpfen das Thema Lernen noch immer fest an die Institution Schule gekoppelt, als gehörte beides unweigerlich zusammen. Aber hat die Schule wirklich ein berechtigtes Monopol auf das Lernen, gerade in der heutigen Zeit, wo das gesamte Wissen der Menschheit für jedermann frei zugänglich und oft nur einen Mausklick entfernt ist? In zahlreichen Ländern beantworten immer mehr Familien diese Frage für sich mit Nein und übernehmen die volle Verantwortung für die Bildung der Kinder. Im englischsprachigen Raum sind verschiedene Begriffe gebräuchlich, um den Umstand zu beschreiben, dass Kinder keine Schule besuchen, u. a. home education, home-based learning, family-based education sowie die am weitesten verbreitete Bezeichnung homeschooling. Es ist schwierig, eine griffige selbsterklärende Übertragung ins Deutsche zu finden. Verwendet werden Hausunterricht, häuslicher Unterricht, Unterricht zu Hause, Heimschule, Domizilunterricht, Schule zu Hause, Bildung zu Hause, Bildung ohne Schule und zunehmend auch immer mehr der neu kreierte Begriff Freilernen. Leben ohne Schule umschreibt diesen Bildungsweg meines Erachtens am treffendsten. Das beschränkt die Kinder nicht auf die häusliche Umgebung als Ort des Lernens. Wenn wir die Schulräume verlassen, dann nicht, um die Kinder an einem alternativen Ort wieder »einzusperren«. Sie sollten die ganze Welt als Klassenzimmer nutzen dürfen.
Bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts durchaus noch gängige Praxis, ist das Leben ohne Schule heute in Deutschland eine weitgehend unbekannte Bildungsalternative, die vom Gesetz so gut wie ausgeschlossen wird. Anders als in vielen anderen Ländern besteht in Deutschland die allgemeine Schulpflicht im Sinne einer Anwesenheitspflicht in der Schule. Eingeführt wurde die allgemeine Schulpflicht 1717. Dennoch gingen bei weitem nicht alle schulpflichtigen Kinder zur Schule. 1794 wurde die allgemeine Schulpflicht als Staatsaufgabe in die preußische Verfassung aufgenommen und 1871 zur Staatsaufgabe in Gesamtdeutschland erklärt. Für ihre zwangsweise, flächendeckende Durchsetzung sorgte aber erst Hitler in seinem Reichsschulpflichtgesetz von 1938.
Wir können uns damit rühmen, dass Deutschland weltweit als Wiege der Schulpflicht angesehen wird. Einen Grundstein für die Verbreitung der Schulpflicht in der gesamten Welt gab der Philosoph Johann Gottlieb Fichte in seinen berühmten »Reden an die deutsche Nation« von 1806, die er nach der vernichtenden Niederlage der preussischen Berufsarmee gegen die Amateur-Truppen Napoleons in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt hielt. Zusammengefasst teilte er dem preussischen Volk mit, dass Zwangsbeschulung, die bewirken würde, dass alle jungen Menschen lernen Befehlen zu folgen, der einzige Weg für Preussen sei nach dieser schmachvollen Niederlage wieder auf die Füße zu kommen. Die Ziele der Schulpflicht waren einfach: gehorsame Soldaten für die Armee, unterwürfige Arbeiter für die Minen, devote Beamte für den Staat, fügsame Arbeitskräfte für die Industrie und Bürger, die zu den ausschlaggebenden Themen eine einheitliche Meinung vertraten. Nicht etwa die geistige Bildung und die Vermittlung der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen waren die vorrangigen Aufgaben der Schulen – vielmehr sollten sie ihre Zöglinge zu Gehorsam und Untergebenheit erziehen.
Bei den meisten unserer europäischen Nachbarn existiert heute keine Schulpflicht, sondern eine Bildungs- oder Unterrichtspflicht, die Kinder wahlweise durch den Schulbesuch oder auch außerhalb der Institution Schule erfüllen können. Dies ist beispielsweise in Österreich, Großbritannien, Frankreich, Belgien und in zahlreichen anderen Ländern der Fall. Den Unterschied zwischen Schul- und Bildungspflicht erklärt Raimund Pousset folgendermaßen:
Schulpflicht heißt, dass Kinder und Jugendliche bis zu einem bestimmten Alter gesetzlich geregelt die räumlich und inhaltlich organisierte Schule besuchen müssen. Bildungspflicht (Unterrichtspflicht) bedeutet demgegenüber, Kinder gleichfalls in einem bestimmten Zeitrahmen zu bilden, allerdings sind hier der Lernort, die Methode des Lernens und die curricularen Inhalte sehr viel freier und wesentlich stärker vom Elternwillen geprägt. Bildung findet nicht in einem Schulgebäude statt.3
Obwohl in der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« von 1948 eindeutig festgelegt wurde, dass »in erster Linie (…) die Eltern das Recht [haben], die Art der ihren Kindern zuteil werdenden Bildung zu bestimmen«4, leben wir in Deutschland mit einem Spannungsverhältnis zwischen der staatlichen Schulpflicht und dem Bestimmungsrecht der Eltern in Bezug auf die Erziehung und Bildung ihrer Kinder. Das Grundgesetz äußert sich nicht ausdrücklich zum Recht der Eltern bezüglich der Bildung ihrer Kinder, sondern beschränkt sich in Artikel 6 auf die Aussage, dass die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht sei.5 Die Verantwortung für das Wohlergehen eines Kindes liegt demnach bei seinen Eltern. In einigen Landesverfassungen wird die Bildung konkret beim Namen genannt und dem Verantwortungsbereich der Eltern zugeteilt, so beispielsweise in der Verfassung des Saarlandes: »Auf der Grundlage des natürlichen und christlichen Sittengesetzes haben die Eltern das Recht, die Bildung und Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen.«6 Dieser Passus findet sich in abgewandelter Form auch in den Verfassungen der Länder Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Thüringen. Wenn nun aber Eltern von ihrem durch die Landesverfassung zugesicherten Bestimmungsrecht in der Hinsicht Gebrauch machen wollen, dass sie ihre Kinder außerhalb der Schule lernen lassen möchten, oder wenn sie im Hinblick auf das Kindeswohl die Entscheidung treffen, ein Kind nicht zur Schule zu schicken, stehen sie in direktem Konflikt mit den Schulpflichtgesetzen der einzelnen Bundesländer.
Nun könnten Befürchtungen aufkommen, dass die Forderung nach einer Abschaffung der Schulpflicht eine ernsthafte Bedrohung für das deutsche Schulsystem darstellt. Erfahrungen mit dem Leben ohne Schule in anderen Ländern haben jedoch gezeigt, dass die Institution Schule keineswegs in ihrer Existenz bedroht wird, wenn die Schulpflicht durch eine Bildungspflicht ersetzt wird. Das Leben ohne Schule würde sich aller Voraussicht nach in absehbarer Zeit nicht zur Massenbewegung entwickeln. In den meisten Staaten, die jungen Menschen den Besuch der Schule freistellen, beträgt der Anteil der unbeschulten Kinder höchstens 1 % der Kinder im »schulpflichtigen« Alter; Ausnahmen bilden die Vereinigten Staaten und Kanada mit einem Anteil von 3–4 % unbeschulter Kinder.
Doch selbst wenn sich nur ein geringer Prozentsatz der Familien für das Leben ohne Schule entscheiden würde, sollte Eltern und ihren Kindern in einem freien, demokratischen Staat die Wahl gelassen werden, ob sie das Angebot staatlicher Bildung annehmen oder die Verantwortung für die Bildung ihrer Kinder selbst übernehmen wollen. Eine Mutter aus den USA schreibt mir in einer E-Mail entsetzt, dass sie nicht wusste, dass das Leben ohne Schule in Deutschland vom Gesetz her nicht vorgesehen ist. Sie hielte es für ihr ureigenes Recht als Mutter, so empört sie sich, die Bildung ihrer Kinder selber in die Hand nehmen zu dürfen, wenn sie das möchte. Für viele Familien geht es bei der Entscheidung für das Leben ohne Schule nicht nur um die Wahl eines Bildungsweges – es ist ihr Lebensstil!
Wir wollen, dass unsere Kinder nicht lernen, was sie denken sollen, sondern wie man denkt.
Grace Llewellyn – Guerilla Learning
Unbeschulte Kinder haben eine Gemeinsamkeit: die Lernumgebung. Sie lernen nicht in der Schule, sondern zu Hause oder anderswo, aber sie lernen natürlich nicht alle nach der gleichen Methode. Die Familien haben die Wahl zwischen verschiedenen Stilen, nach denen sie ihr Leben ohne Schule organisieren. Die wichtigsten Stile sollen hier kurz vorgestellt werden.
Diese Art des Lebens ohne Schule wird auch als traditionelle Methode bezeichnet. Die Familie orientiert sich am Vorbild der Schule. Der Schulunterricht wird in die eigenen vier Wände verlagert. Es gibt oft einen separaten Raum, der zu Schulzwecken eingerichtet ist, inklusive Tafel und Schulbank. Als Lehrmaterial werden häufig Komplettpakete eingesetzt, die bestimmte Verlage pro Jahrgang anbieten und die alle für das jeweilige Schuljahr notwendigen Lehr- und Arbeitsbücher und sämtliche benötigten Materialien enthalten. Die Familie hat einen Stundenplan und setzt im Voraus die Anzahl der Schultage für das laufende Schuljahr fest. Die Eltern planen den Unterricht und anschließend arbeiten die Kinder die Lektionen in den vorgeschriebenen Fächern eine nach der anderen durch. Das erworbene Wissen wird durch Tests überprüft, die von den Eltern benotet werden.
Diese Methode basiert auf dem Trivium, einer Bildungsphilosophie, die die alten Griechen und Römer anwendeten. Inhalte des Lehrplans sind neben den üblichen Schulfächern das Studium von Werken der klassischen Literatur und Unterricht in Latein und Griechisch. Die Bildung ist unterteilt in drei Phasen: Grammatik, Logik (Dialektik) und Rhetorik.
In der Grammatik-Phase (Klassen 1 bis 6) geht es hauptsächlich um den Erwerb von Wissen und grundlegenden Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Außerdem soll das Kind Informationen aufnehmen und Fakten auswendig lernen. In diesem ersten Abschnitt seiner Bildung soll der Schüler lernen, wie man lernt. Zentrales Thema der Logik-Phase (Klassen 7 bis 9) ist das Verständnis der Zusammenhänge. Die in der Grammatik-Phase gelernten Fakten werden nun auf das »Wie« und »Warum« hin untersucht. In der Rhetorik-Phase (Klassen 10 bis 12) soll dann die erworbene Weisheit zum Ausdruck kommen. In Debatten und Aufsätzen werden die gelernten Fakten und ihre Beziehungen sowie eigene Interpretationen der Dinge auf effektive Weise dargelegt. Ziel ist es, sich klar, vernünftig und überzeugend mitzuteilen. Der Schüler beginnt das Gelernte zu synthetisieren und praktisch anzuwenden. In den beiden letzten Phasen der Bildung wird bevorzugt die sokratische Methode im Unterricht angewendet, d. h. der Lehrer wirft Fragen auf, die von den Schülern diskutiert werden.
Bei der Lehreinheiten-Methode beschäftigt sich der Schüler über mehrere Wochen hinweg in allen Fächern jeweils mit einem bestimmten Thema. Anstatt die verschiedenen Fächer unabhängig und ohne Bezug zueinander zu präsentieren, schafft man so einen übergeordneten Rahmen. Nehmen wir als Beispiel das Thema Pferde. Inhalt dieser Lehreinheit könnte sein, Bücher über Pferde zu lesen, sowohl Romane oder Kurzgeschichten als auch Sachbücher, neue Wörter, denen man dabei begegnet, im Wörterbuch nachzuschlagen und ihre Schreibweise zu lernen, Bilder von Pferden aus Zeitschriften zu sammeln, ihre Physiologie und die Voraussetzungen für ihre Haltung zu studieren, die Geschichte des Pferdes und ihren Nutzen für den Menschen über die Jahrhunderte zu untersuchen, einen Aufsatz über Pferderassen zu schreiben, die überwiegend in bestimmten geographischen Regionen der Welt vorkommen, Rechenaufgaben zu lösen, in denen Pferde eine Rolle spielen (Wie viel Heu frisst ein Pferd in einem Jahr, wenn es täglich …?), und ein Spiel zu erfinden, zu gestalten und herzustellen, in dem Pferde die Hauptakteure sind.
Diese Methode bietet sich u. a. an, wenn mehrere Kinder unterschiedlichen Alters gemeinsam unterrichtet werden sollen, denn sie können sich mit dem gleichen Thema beschäftigen, jeder auf seiner ihm angemessenen Schwierigkeitsstufe. Die Eltern können die Lehreinheiten selber zusammenstellen oder von verschiedenen Anbietern als Komplettpaket erwerben.
Charlotte Mason (1842-1923) lebte in England, war Lehrerin und entwickelte ihre eigene Pädagogik, die vor allem auf der Arbeit mit authentischem Material beruht. Ein wichtiger Bestandteil ihrer Methode sind »lebendige Bücher« (living books, gemeint sind Originaltexte, im Gegensatz zu simplifizierten Texten und speziell für Schüler erstelltes Unterrichtsmaterial). Die Kinder lesen echte Bücher und erzählen die Handlung nach. Weitere Säulen der Methode sind das Studium der Natur (durch ausgiebigen Aufenthalt in derselben, nicht aus Lehrbüchern) und die Entwicklung eines Sinnes für Musik- und Kunstwerke. Unterrichtet wird nur in kurzen Lektionen. Charlotte Mason hielt stundenlangen Unterricht für zu ermüdend für die Kinder. Die Charlotte-Mason-Methode verzichtet daher auch bewusst auf den übermäßigen Einsatz von Übungsmaterial zur Festigung des Gelernten, nachdem etwas einmal verstanden wurde. Das Lernen soll soweit wie möglich im wirklichen Leben stattfinden.
Wichtig war Charlotte Mason auch, dass die Kinder einen guten Charakter entwickeln. Die Eltern dienen hier als Vorbilder und nutzen im Laufe des Tages auftretende Situationen, um über die Tugend und andere wichtige Aspekte des Lebens zu sprechen, die man an die Kinder weitergeben möchte.
Diese Methode kombiniert je nach Bedarf verschiedene Stile. Familien, die nach dieser Methode vorgehen, wählen jeweils die Materialien und Methoden aus, mit denen ihre Kinder am besten zurecht kommen, und können so eine einzigartige Lernumgebung schaffen, die auf die Bedürfnisse, Interessen und Stärken des einzelnen Kindes abgestimmt sind. Dies ist ein weit verbreiteter Ansatz und ermöglicht wesentlich größere Flexibilität als die bisher vorgestellten Methoden.
Bei allen bisher genannten Stilen des Lebens ohne Schule sind die Eltern die steuernde Kraft. Sie dirigieren die Bildung ihrer Kinder und treffen die Entscheidungen darüber, was die Kinder zu welchem Zeitpunkt lernen sollen. Nicht so beim »Unschooling«. Unschooling ist natürliches Lernen, auch kindgesteuertes oder interessenbasiertes Lernen genannt. Dieser Stil des Lebens ohne Schule beruht auf der Überzeugung, dass die natürliche Neugierde der Kinder sie dazu treibt, das zu lernen, was sie interessiert und was sie nötig haben, um ihr Leben zu leben. Das Kind entscheidet, was es zu welchem Zeitpunkt lernen möchte und auf welche seinem Lernstil entsprechende Art und Weise es lernt. Die Eltern sind nicht Lehrer, sondern Mentoren, welche die Kinder beim Lernen unterstützen. Es kommt auch vor, dass die Eltern das Kind auf traditionelle Weise unterrichten, doch nur auf Verlangen des Kindes. Die Initiative geht dabei nicht von den Eltern aus. Im Zentrum dieses Lernstils steht das Vertrauen in das Kind, dass es lernen will. Es existiert keine Trennung zwischen Leben und Lernen.
Besonders geprägt hat diesen Stil des Lebens ohne Schule der amerikanische Pädagoge John Holt. Er beschrieb anhand seiner Beobachtungen in verschiedenen Schulen, unter welchen Bedingungen Kinder nicht lernen (Aus schlauen Kindern werden Schüler, 2004; Originaltitel: How children fail) und wie sie lernen (Wie kleine Kinder schlau werden, 2003; Originaltitel: How children learn). Zunächst versuchte John Holt das bestehende Bildungssystem zu reformieren, wandte sich dann allerdings ab und wurde zum Verfechter des Lebens ohne Schule. Seine Bücher sind keine theoretischen Abhandlungen, sondern entstanden durch die Beobachtung von und den Kontakt mit Tausenden von Kindern in ihrem Zuhause oder in der Schule. Er tritt vehement für das Recht der Kinder ein, selbstbestimmt zu leben und zu lernen. Holts Bücher in ihrer Gesamtheit bilden das Fundament für die Anhänger des natürlichen Lernens. Im Kapitel »Betrachtungen über das Lernen« erhalten wir nähere Einblicke in sein Werk.
Die meisten Eltern, die in diesem Buch zu Wort kommen, richten ihr Leben und das Lernen ihrer Kinder an den Erkenntnissen John Holts und anderer Befürworter des natürlichen Lernens aus.
Zu oft wird Kindheit als Vorbereitung auf das Leben gesehen, aber Kindheit ist Leben.