3.
Mr Lyss fuhr ziellos durch das Schneetreiben, während er darüber nachzudenken versuchte, was er als Nächstes tun sollte. Nummy O’Bannon fuhr ebenso ziellos mit ihm, denn Nummy fuhr nicht selbst, war aber ein guter Beifahrer.
Nummy war nicht ganz wohl dabei zumute, in diesem Wagen durch die Gegend zu fahren, weil Mr Lyss den Wagen gestohlen hatte und weil Stehlen nie etwas Gutes war. Mr Lyss behauptete zwar, die Schlüssel hätten im Zündschloss gesteckt, weil der Besitzer wollte, dass jeder, der ihn brauchen könnte, seinen Wagen nahm. Aber sie waren noch keine Meile gefahren, als Nummy begriff, dass Mr Lyss gelogen hatte.
»Großmama pflegte zu sagen, wenn man sich nicht kaufen kann, was ein anderer hat, und wenn man es sich auch nicht selbst machen kann, dann sollte man es nicht selbst haben wollen. Diese Form von Wollen nennt sich Neid, und Neid kann einen schneller zum Dieb machen, als Butter in einer heißen Bratpfanne schmilzt.«
»Dann entschuldige bitte, dass ich verdammt noch mal zu dumm dazu bin, uns in Nullkommanichts ein Auto zu bauen.«
»Ich habe nicht gesagt, dass Sie dumm sind. Ich beschimpfe niemanden. Das ist nicht nett. Ich bin selbst oft genug beschimpft worden.«
»Ich beschimpfe die Leute gern«, sagte Mr Lyss. »Mich macht das total an. Ich genieße es, Leute zu beschimpfen. Mit meinen Beschimpfungen habe ich schon oft genug kleine Kinder zum Weinen gebracht. Ich lasse mir von niemandem vorschreiben, etwas sein zu lassen, was mir so viel unschuldiges Vergnügen bereitet.«
Mr Lyss war nicht so furchteinflößend, wie er früher am Tag ausgesehen hatte. Sein kurz geschnittenes graues Haar stand immer noch nach allen Richtungen ab, als sei es schockiert über all die gemeinen Gedanken in seinem Kopf. Sein Gesicht war so verkniffen, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen, seine Augen waren so gefährlich blau wie Gasflammen, trockene Haut hatte sich auf seinen gesprungenen Lippen zu kleinen Wülsten zusammengerollt, und seine Zähne waren grau. Es schien, als käme er gut ohne Essen und ohne Wasser aus, solange seine Wut ihm Nahrung gab. Aber er war nicht mehr ganz so gruselig. Manchmal konnte man ihn fast mögen.
Nummy wurde nie wütend. Er war zu dumm, um wütend zu werden. Das war einer der größten Vorteile daran, wirklich dumm zu sein, so dumm, dass sie einen nicht mal zwangen, in die Schule zu gehen: Man konnte einfach nicht angestrengt genug über etwas nachdenken, um sich darüber aufzuregen.
Er und Mr Lyss waren ein ungleiches Paar, wie die ungleichen Paare in manchen Filmen, die Nummy gesehen hatte. In Filmen von der Sorte waren die Typen, die diese ungleichen Paare bildeten, immer Bullen, einer von ihnen ruhig und nett, der andere verrückt und komisch. Nummy und Mr Lyss waren keineswegs Bullen, aber sie waren wirklich sehr unterschiedlich. Mr Lyss war der Verrückte und Komische, wenn man mal davon absah, dass er nicht besonders komisch war.
Nummy war dreißig, aber Mr Lyss musste älter sein als jeder andere Mensch, der noch am Leben war. Nummy war pummelig und hatte ein rundes Gesicht und Sommersprossen; Mr Lyss dagegen schien vorwiegend aus Knochen und Knorpeln und dicker Haut mit einer Million Falten darin zu bestehen, wie eine zerknautschte alte Lederjacke.
Manchmal war Mr Lyss so interessant, dass man ihn einfach ansehen musste und nicht wegschauen konnte, fast so wie in einem Film, wenn am Zeitzünder einer Bombe die kleinen roten Zahlen herunterratterten. Aber es konnte auch vorkommen, dass es einen restlos erschöpfte, wenn man ihn zu lange anstarrte, und dann musste man sich abwenden, um seinen Augen Erholung zu gönnen. Der Schnee sah weich und kühl aus, als die Flocken wie winzige Engel, die von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet waren, durch die Dunkelheit schwebten.
»Der Schnee ist wirklich hübsch«, sagte Nummy. »Es ist eine schöne Nacht.«
»Oh ja«, sagte Mr Lyss, »es ist eine märchenhafte Nacht, atemberaubende Schönheit, wohin man auch sieht, hübscher als all das Hübsche, was auf all den hübschen Weihnachtskarten zu sehen ist. Aber nur, wenn man von den heißhungrigen Monstern absieht, die sich überall in der Stadt herumtreiben und Menschen schneller fressen, als ein Hackschnitzler eine verdammte Kartoffel zerkleinern könnte!«
»Ich habe diese Marsmenschen nicht vergessen«, sagte Nummy, »wenn es das ist, was sie sind. Aber die Nacht ist trotzdem schön. Was wollen Sie jetzt tun? Wollen Sie vielleicht an den Stadtrand fahren und nachsehen, ob die Bullen und die Straßensperre noch da sind?«
»Das sind keine Bullen, Junge. Das sind Monster, die sich als Bullen ausgeben, und sie werden da sein, bis sie alle in der ganzen Stadt aufgefressen haben.«
Obwohl Mr Lyss langsam fuhr, schlingerte das hintere Ende des Wagens manchmal. Er bekam den Wagen immer wieder unter Kontrolle, bevor sie gegen etwas stießen, aber sie brauchten eigentlich jetzt schon einen Wagen mit Schneeketten oder Winterreifen.
Wenn Mr Lyss einen anderen Wagen stahl, einen mit Schneeketten, und wenn Nummy mit ihm ging und von Anfang an wusste, dass es Diebstahl war, würde er damit wahrscheinlich selbst zum Dieb. Großmama hatte ihn aufgezogen, und daher würden schlimme Dinge, die er tat, vor Gott, bei dem sie jetzt war, auf sie zurückfallen und ihr Schande machen.
Nummy sagte: »Sie wissen nicht wirklich, dass die Monsterbullen noch da sind, solange Sie nicht hinfahren und nachsehen.«
»Und ob ich das weiß.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil ich ein verdammtes Genie bin«, sagte Mr Lyss und versprühte dabei Spucke. Er hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass seine Knöchel scharf wie Messer wirkten. »Mein Gehirn ist so verflucht groß, dass ich manche Dinge einfach weiß. Heute Morgen im Gefängnis kannten wir einander noch keine zwei Minuten, und ich wusste schon, dass du ein Dummkopf bist, oder etwa nicht?«
»Das ist wahr«, gab Nummy zu.
Ein Polizeiwagen überquerte die Kreuzung vor ihnen von Süden nach Norden, und Mr Lyss sagte: »Das führt zu nichts. In einem Wagen kommen wir niemals aus der Stadt raus. Wir müssen eine andere Möglichkeit finden.«
»Vielleicht könnten wir so aus der Stadt rauskommen, wie Sie reingekommen sind. Ich wollte schon immer mal mit dem Zug fahren.«
»Ein kalter, leerer Güterwagen ist nicht gerade mondän, und man hat auch nicht halb so viel Spaß, wie man meinen sollte. Außerdem werden sie den Güterbahnhof ohnehin überwachen.«
»Fliegen können wir schon mal nicht.«
»Ach, ich weiß nicht recht«, sagte Mr Lyss. »Wenn dein Schädel so hohl ist, wie es mir scheint, könnte ich einen Korb an deine Füße binden, dir Heißluft in die Nase blasen und mich von dir hier raustragen lassen wie von einem großen, alten Ballon.«
Bis etwa zur übernächsten Kreuzung dachte Nummy darüber nach, während der alte Mann die Scheibenheizung anschaltete und die Windschutzscheibe, die an den Rändern beschlagen war, wieder klar wurde. Dann sagte er: »Das ergibt keinen Sinn, außer, Sie waren einfach nur wieder gemein.«
»Da könntest du recht haben.«
»Ich weiß nicht, warum Sie so gemein sein müssen.«
»Ich bin gut darin. Ein Mensch tut gern, was er gut kann.«
»Sie sind jetzt nicht mehr so gemein zu mir wie am Anfang, als wir uns gerade erst kennengelernt hatten.«
Nach kurzem Schweigen sagte Mr Lyss: »Tja, Peaches, ich habe eben meine Höhen und Tiefen. Niemand kann rund um die Uhr hundert Prozent gut in etwas sein.«
Manchmal nannte Mr Lyss ihn Peaches. Nummy war nicht sicher, warum er das tat.
»Ein paarmal«, sagte Nummy, »dachte ich sogar schon fast, wir würden Freunde.«
»Ich will keine Freunde«, sagte Mr Lyss. »Du nimmst dir jetzt ein Kleenex und schnäuzt dir den Gedanken auf der Stelle aus dem Kopf. Schnäuz ihn raus wie den Rotz, der er ist. Ich bin ein Einzelgänger und ein Eigenbrötler. Freunde sind eine Last, die einen Mann zu Boden zieht. Freunde sind nichts anderes als zukünftige Feinde. Es gibt nichts Schlimmeres auf Erden als Freundschaft.«
»Großmama hat immer gesagt, Freundschaft und Liebe, darum geht es im Leben.«
»Du hast mich gerade daran erinnert, dass es doch noch etwas Schlimmeres als Freundschaft gibt. Liebe. Nichts zieht dich schneller runter als die Liebe. Das reinste Gift. Liebe ist tödlich.«
»Das kann einfach nicht wahr sein«, sagte Nummy.
»Es ist aber wahr.«
»Nein, ist es nicht.«
»Nenn mich keinen Lügner, Junge. Männern, die mich einen Lügner genannt haben, habe ich schon die Kehle rausgerissen. Ich habe ihnen die Zunge rausgeschnitten und sie mir mit Zwiebeln zum Frühstück gebraten. Ich bin ein gefährlicher Dreckskerl, wenn ich aufgebracht bin.«
»Ich habe nicht gesagt, dass Sie ein Lügner sind. Nur, dass Sie sich irren, was die Liebe angeht. Sie irren sich, das ist alles. Großmama hat mich geliebt, und diese Liebe hat mich nie getötet.«
»Aber sie ist tot, oder nicht?«
»Die Liebe hat sie nicht getötet, das war die Krankheit. Wenn ich ihren Krebs in mich hätte aufnehmen und an ihrer Stelle hätte sterben können, wäre ich jetzt tot, und sie säße hier lebendig neben Ihnen.«
Eine Minute lang fuhren sie schweigend weiter, dann sagte Mr Lyss: »Du solltest nicht immer auf mich hören, Junge, und das, was ich sage, auch nicht ständig ernst nehmen. Nicht alles, was ich sage, ist genial.«
»Wahrscheinlich das meiste davon, aber nicht das, was Sie gerade gesagt haben. Wissen Sie was? Vielleicht käme für uns ein Ski-doo in Frage.«
»Ein was?«
»Sie wissen schon, ein Schneemobil.«
Mr Lyss lenkte den Wagen vorsichtig an den Straßenrand und hielt an. »Wir könnten querfeldein fahren. Aber genügt der Schnee dafür? Zwei bis drei Zentimeter, mehr liegt nicht auf dem Boden.«
»Er ist tiefer«, sagte Nummy, »und da kommt noch viel mehr nach. Das geht jetzt ganz schnell.«
»Woher bekämen wir ein Schneemobil?«
»Viele Leute in der Stadt haben welche. Und dann gibt es da auch noch den Laden drüben am Beartrack, der Schneemobile verkauft.«
»Schon wieder einer von diesen verdammten Straßennamen, in denen das Wort Bär vorkommt. Wer auch immer den Straßen in diesem gottverlassenen Kaff ihren Namen gegeben hat, muss ungefähr so viel Fantasie gehabt haben wie ein Baumstumpf.«
»Wie ich schon sagte, gibt es in der weiteren Umgebung jede Menge Bären. Wir haben hier keine Tiger oder Zebras, nach denen wir unsere Straßen benennen können.«
Der alte Mann saß vielleicht zwei Minuten lang stumm da und sah einfach nur dem Schnee beim Fallen zu, als hätte er beschlossen, der Schnee sei doch hübsch. Für Mr Lyss, der immer und zu allem etwas zu sagen hatte, war das ein langes Schweigen. Nummy machte es normalerweise nichts aus, wenn Menschen miteinander schwiegen, aber bei Mr Lyss war so viel Stille besorgniserregend, weil Nummy sich fragte, ob er etwas Übles ausheckte.
Schließlich sagte Mr Lyss: »Peaches, du kennst tatsächlich jemanden, der ein Schneemobil hat?«
»Ich kenne ein paar Leute, die eins haben.«
»Wie zum Beispiel?«
»Zum Beispiel der Boze.«
»Boze?«
»Officer Barry Bozeman. Die Leute nennen ihn den Boze. Der rast zu jeder Jahreszeit mit diesem oder jenem querfeldein.«
»Officer?«
»Er ist Polizist. Er lacht viel. Er gibt einem das Gefühl, man sei ein prima Kerl.«
»Er ist tot«, sagte Mr Lyss schonungslos. »Wenn er ein Bulle ist, dann haben sie ihn getötet und ihn durch einen von ihren Doppelgängern ersetzt.«
Nummy hätte wissen müssen, dass der Boze tot war, denn wenn sogar Rafael Jarmillo, der Polizeichef, einer von den Aliens war, dann waren mit Sicherheit auch alle Bullen welche. Sämtliche echten Polizisten waren tot und aufgefressen worden, so, wie es heute Morgen auch all den Leuten in den Gefängniszellen ergangen war, die an die Zelle grenzten, aus der Nummy und Mr Lyss geflohen waren.
Großmama hatte immer gesagt, ganz gleich, wie traurig etwas war, man müsste stets daran denken, dass man eines Tages wieder froh sein würde, und man müsste weitermachen. Es sei wichtig weiterzumachen, hatte sie gesagt, weiterzumachen und froh zu sein und das Richtige zu tun, denn wenn man lange genug durchhielt und froh genug war und oft genug das Richtige tat, dann durfte man später bei Gott wohnen. Aber Gott mochte wirklich keine Leute, die einfach so aufgaben.
»Ist er verheiratet?«, fragte Mr Lyss.
»Ist wer verheiratet?«
»Verflixt noch mal, Junge, in deinem Kopf ist so viel Platz frei, dass du ihn vermieten solltest; du hast ein ganzes verdammtes Lagerhaus voller leerer Regale zwischen deinen Ohren. Der Boze! Nach wem sollte ich dich denn sonst fragen? Ist der Boze verheiratet?«
»Kiku, der hat es den Kopf aufgeblasen, die ist nach Stille Wiesen gekommen, und sie ist einfach davongeschwirrt, also weiß man es nie so genau.«
Mr Lyss ballte eine Hand zu einer großen, knochigen Faust, und Nummy zuckte zusammen, weil er glaubte, Mr Lyss würde ihn schlagen. Aber dann holte der alte Mann tief Atem, öffnete die Faust, tätschelte Nummys Schulter und sagte: »Vielleicht könntest du das noch mal sagen, aber diesmal verständlich.«
Nummy sagte verwundert: »Das war doch verständlich.«
»Für mich nicht. Erzähl es mir noch einmal in anderen Worten.«
»Ich weiß nicht, wie das gehen sollte. Ich habe Ihnen doch schon alles gesagt.«
Mr Lyss ballte seine knochige Hand wieder zur Faust, aber er schlug Nummy immer noch nicht. Er hob die Faust an seinen Mund, kaute eine Weile auf einem Knöchel herum und sagte dann: »Was ist Kiku?«
»Das ist Mrs Bozeman, wie ich schon sagte. Sie war eine nette japanische Dame.«
»Was meintest du damit, dass es ihr den Kopf aufgeblasen hat?«
»Das kam von dem Bienenstich in ihrem Hals. Sie hatte eine Allergie, aber vor dem Stich wusste sie nichts davon. Es heißt, ihr Gesicht hätte sich aufgeblasen wie ein Luftballon.«
»Was meinst du mit: ›Sie ist auf die stillen Wiesen gekommen‹?«
»Nach Stille Wiesen. Das ist der Friedhof oben an der Brown Bear Road. Die Biene, die hat sie gestochen und ist einfach davongeschwirrt, aber Kiku, die ist gestorben, also weiß man es nie so genau.«
»Haben die beiden Kinder?«
»Der Boze und Kiku? Nein. Und das ist gut so, weil der Boze jetzt auch tot ist. Die Kinder wären Waisenkinder und furchtbar traurig.«
»Nein, sie wären Monsterfutter, genau wie der Boze es war. Und da er ein Bulle ist und jetzt ein Monsterbulle«, fuhr Mr Lyss fort, »werden wir uns sein Schneemobil holen können, weil er nicht zu Hause sein wird und uns nicht davon abhalten kann. Sämtliche Bullen werden unterwegs sein und sind bestimmt vollauf damit beschäftigt, Leute zu töten und Kokons wie die zu spinnen, die wir gesehen haben, und anderes schmutziges Zeug zu tun, eben das, was dieses stinkende Pack von Aliens so tut.«
»Mir ist nicht aufgefallen, dass sie stinken«, sagte Nummy.
»Oh doch, sie stinken. Und wie die stinken.«
»Dann stimmt wohl etwas nicht mit meiner Nase.«