Historischer Krimi
aus der Herrschaft Merode
Meinem Vater Hermann zum Gedenken
Dieses Buch ist ein Roman mit historischem Hintergrund. Die darin geschilderte Geschichte ist fiktiv. Ähnlichkeiten mit heute lebenden Personen sind nicht beabsichtigt und wären zufällig.
Protagonisten wie die Herren von Merode oder der Graf von Jülich sind historisch belegt, doch deren Charakterzüge frei erfunden!
Im April des Jahres 1294 beschließen die Herren von Merode eine folgenschwere Erbteilung. Zwei Linien der Familie, die der »Scheiffarts« und die der »Werners«, residieren fortan gemeinsam auf der Burg, teilen sich Besitz und Herrschaft ihrer Ländereien für über sechs Jahrzehnte. Was nicht immer dem Frieden und der Eintracht zwischen den blaublütigen Vettern förderlich ist. Und auch den verunsicherten Bauern der »Herrschaft« macht dieser Zustand mitunter schwer zu schaffen …
Das Gemurmel der Leute brodelte durch die Gassen der Stadt. Von Soldaten des Markgrafen zurückgedrängt, reckten sie ihre Hälse, äugten, wippten und sperrten ihre Münder auf. Man bekam schließlich nicht jeden Tag einen Monarchen leibhaftig zu Gesicht. Gewiss, den Markgrafen selbst, den Herrn ihrer Stadt, den sah man oft genug. Aber was war schon ein Graf im Vergleich zum König von England, der in diesem Augenblick mit seinem prächtigen Gefolge auf dem Weg zur Burg war, wo Wilhelm von Jülich seinen hohen Gast empfangen würde. Wie ein Lauffeuer hatte es sich herumgesprochen, der Zug habe das Nixtor bereits passiert, der König und seine kleine Tochter seien in eine Sänfte gestiegen und näherten sich, flankiert von schwer bewaffneten Rittern, dem Zentrum der Stadt. Eduard, König von England, war auf dem Weg nach Koblenz, wo er auf dem Reichstag seinen Schwager, den Kaiser, zu treffen gedachte. Und Nideggen, Residenzstadt des Jülicher Grafen, hatte er als eine seiner Stationen auf dem Weg dorthin auserkoren.
Wer von all den Schaulustigen kannte schon die genauen Umstände, die Eduard veranlassten, den Wittelsbacher aufzusuchen? War da nicht Geld im Spiel? Der Engländer benötigte Bares für einen Krieg, den er in Frankreich führte. Undurchsichtige Bündnisverträge mit deutschen Fürsten spielten eine Rolle, ebenso Zahlungsversprechungen, Treueeide und weiß der Teufel noch was. Aber wen interessierte das? Wer durchschaute schon die Politik der Großen? Die machten ohnehin, was sie wollten, es war immer schon so gewesen und würde sich schwerlich ändern. Den Gemeinen blieb nur, den Prunk und den Glanz der Fürsten zu bestaunen, Hälse reckend dem Anmarsch der Macht entgegenzusehen.
„Sie kommen!“, kreischte ein feistes Weib. Sie saß auf den knochigen Schultern ihres dürren Gatten, der vergeblich versuchte, nicht zu wanken. Sofort kam Bewegung in die Menge.
„Ruhig, Leute“, befahl einer der Soldaten, während er mit seinen Kameraden die Menschenmenge zurückdrängte. Auf der gegenüberliegenden Seite ging es nicht besser zu. Mühsam war es, eine Gasse offen zu halten, in der sich unbeeindruckt von dem ganzen Tumult zwei Köter rauften.
Hufgetrappel. Prachtvoll gewandete Ritter auf geschmückten Rössern näherten sich.
„Sie kommen!“, brüllte das Weib auf ihrem Logenplatz erneut.
„Wenn du absteigst, dicke Vettel, dann kann ich vielleicht auch was erkennen“, raunzte ein Kerl hinter ihr.
„Halt die Klappe!“
„Mutter, ich sehe kackende Pferde“, jubelte ein blond gelockter Knabe, als sei es seine Lebensaufgabe, danach Ausschau zu halten.
Die Rufe verstummten, als die Reiter die Gasse passierten. Ehrfurchtsvoll sah man zu ihnen hoch, bewunderte das in der Sonne glänzende Metall an ihren Körpern und die mächtigen Schwerter in ihren Scheiden. Die Ritter waren sich ihrer Erscheinung wohlbewusst, starrten ausdrucklos vor sich hin, ohne sich die Blöße zu geben, neugierige Blicke in die Menge zu werfen. Diese Pflicht fiel den königlichen Leibwächtern zu, die, gekleidet in grüne Weidmannstracht und bewaffnet mit Pfeil und Bogen, hinter der stolzen Reitergruppe hermarschierten.
„Ha, die sehen ja aus wie Waldmänner“, rief der blonde Knabe und erntete eine mütterliche Ohrfeige.
„Die Sänfte!“, verkündeten ein paar aufgeregte Stimmen. Wieder wurden die Hälse lang. Einige Leute stießen Jubelrufe aus. Andere zogen es vor, das Ganze lieber schweigend zu betrachten. Und niemand achtete auf den Irren in ihrer Mitte.
Niemand wusste hinterher, woher er gekommen war. Aber urplötzlich stand er auf der Straße, stimmte ein ohrenbetäubendes Kriegsgeheul an, stürmte auf die von acht Dienern getragene Sänfte zu.
„Tod dem König!“, schrie er. In seiner Hand blitzte ein Dolch. Schon sank einer der Träger zu Boden. Die Sänfte wankte. Ungläubiges Entsetzen in den Gesichtern der Umstehenden.
Es war einer der Soldaten des Markgrafen, ein blutjunger Kerl, der zuerst reagierte. Der Angreifer hatte bereits mit einer ansatzlosen Bewegung den seidenen Vorhang der Sänfte zerrissen, da traf ihn ein Schwerthieb in den Oberarm. Blut spritzte. Der Verletzte fluchte, stürzte sich wie ein Tobsüchtiger auf den Soldaten. Der aber hüpfte wieselflink einen Schritt zurück und schwang erneut sein Schwert, doch diesmal vermochte er den Attentäter nicht zu treffen. Dem Schlag ungestüm ausweichend, landete dieser nämlich in einem Pulk von Menschen. Ein heilloses Durcheinander entstand, Panik brach aus. Flink setzte der junge Soldat nach, doch ebenso rasch reagierte der Angreifer. Denn mit einem Mal besaß er einen lebenden Schutzschild, ein Mädchen, sechs Jahre alt vielleicht, zog es vor sich hin und streckte es somit dem sicheren Tod entgegen. Nur einen Wimpernschlag benötigte er für diese Feigheit, zu schnell für den Soldaten des Markgrafen: Sein Schwert bohrte sich bereits durch den weichen Leib des Kindes und drang blutverschmiert an seinem Rücken wieder heraus. Dann erst glitt es in den Brustkorb des Mannes.
Inzwischen hatte ein Heer von erregten Leibwächtern die Kämpfenden umringt. Fassungslos starrten sie auf das tote Mädchen und den röchelnden Sterbenden, aus dessen Mund sich ein roter Bach ergoss. In einer fremden Sprache schrien die Grüngewandeten sich gegenseitig Befehle zu. Der Mob am Straßenrand klatschte jubelnd Beifall. Ein Hüne, offensichtlich ein Offizier, ließ sich Bericht erstatten von einem Untergebenen, der mehrmals mit dem Kinn auf den immer noch keuchenden Soldaten des Markgrafen deutete. Das Gesicht des Hünen war blass, und er nickte knapp, als er erfahren hatte, was vorgefallen war. Mit der Andeutung eines Lächelns schritt er dem Jülicher entgegen.
„Ihr seid ein wirklicher Held, junger Herr“, sprach er mit angelsächsischem Akzent, „Ihr habt dem König von England und seiner kleinen Tochter soeben das Leben gerettet.“
Der Angesprochene antwortete nicht. Starrte tief atmend auf die blutige Klinge seines Schwertes.
„Ihr seid ein Held“, wiederholte der Hüne, „und man wird Euch für Eure Tat gebührend entlohnen!“
„Wird man das?“, erwiderte der Soldat tonlos, weil ihm offenbar klar wurde, dass weiteres Schweigen unhöflich gewesen wäre. Ein weiterer markgräflicher Soldat war inzwischen an seine Seite getreten.
„Um Himmels willen! Geht’s dir gut, Hein?“
Der junge Mann drehte mit einer langsamen Bewegung den Helm von seinem Kopf und strich sich durch das verschwitzte, dunkle Haar. „Warum denn nicht, Mätthes“, sagte er teilnahmslos, „es geht uns allen hervorragend: mir, dem König, seiner Tochter - allen.“
Der Hüne klopfte ihm anerkennend auf die Schulter, bevor er sich wieder seinen Leuten zuwandte und Befehle bellte. Die Sänfte des Königs war inzwischen von Schwerbewaffneten flankiert.
„Lang lebe der König!“, rief ein Spaßvogel aus der Menge.
Benno hielt den Bogen weit gespannt und pirschte leise durch das Unterholz, jederzeit bereit, den todbringenden Pfeil abzuschießen. So hatte er es sich von den Großen abgeschaut, so jagte auch der Herr Paulus, der Burgvogt. Paulus von Mausbach galt als der beste Schütze weit und breit; ihn hatte Benno sich als Vorbild auserkoren, zumindest was das Jagen betraf. Denn sonst war Paulus ein finsterer Mann, wortkarg und griesgrämig, außerdem fehlte ihm ein Teil seines rechten Ohres, was ihn umso gröber wirken ließ. Paulus war einer der mächtigsten Männer der Herrschaft, war er doch de facto der Vormund des zehnjährigen Rikalt.
Der junge Rikalt war ungeachtet seiner Jugend einer der beiden Herren von Merode. Benno durfte ihn seinen Freund nennen, obwohl seine Mutter Guta nur eine einfache Dienstmagd war. Es gab nicht viele Knaben seines Alters auf Burg Merode, das schmiedete zusammen, trotz aller Standesunterschiede.
Benno seufzte leise. Eines Tages würde man Rikalt zum Ritter schlagen; er selbst dagegen würde immer nur ein Dienstmann bleiben, ein Los, das Gott ihm vorherbestimmt hatte, wie Guta ihm eingeschärft hatte. Aber die Träume würde ihm keiner nehmen. Die Träume, in denen er auf einem schneeweißen Ross saß, in einer glänzenden Rüstung, in der Rechten ein prächtiges Schwert: Er befand sich in einem fernen Land, und Ungläubige mit krummen Säbeln umkreisten ihn mit wildem Gebrüll. Er aber ließ drohend sein Schwert kreisen und hieb sie alle nieder, Gott zur Ehr’, dem Teufel zur Ernte. Nein, diese Träume konnte ihm keiner nehmen.
Er war ein wenig außer Atem gekommen, denn sein Weg hatte ihn hügelauf geführt. Nun befand er sich auf einer Lichtung, und unten im Tal konnte er über den Wipfeln des Waldes die dunklen Zinnen der Burg Merode erkennen. Benno sah sich um. Noch immer war ihm kein Getier begegnet. Er setzte sich auf einen Baumstumpf, um zu verschnaufen. Vielleicht würden ihm ja ein paar unvorsichtige Hasen vor die Füße hoppeln.
Ehrfurchtsvoll betrachtete Benno den Bogen, den Rikalt ihm heimlich geliehen hatte. Er schauderte bei dem Gedanken, dass Paulus Wind von der Sache bekam. Denn der Bogen wurde wie eine Reliquie behandelt. Einst hatte er Rikalts Vater, Werner von Merode, gehört, der vor einigen Jahren gestorben war. Werner hatte das Kloster Schwarzenbroich gegründet, nachdem ihm bei der Jagd im Wald – jedenfalls erzählte man sich das – der Apostel Matthias erschienen war und ihn mit der Stiftung beauftragt hatte. Bei ebendieser Jagd hatte Werner den Bogen mit sich geführt.
Oft schon hatte Benno das Prunkstück bewundert. Und heute Morgen, nachdem er sich gründlich versichert hatte, dass niemand lauschte, hatte Rikalt gesagt: „Nimm ihn und schieß mir einen Fuchs. Oder zumindest einen Hasen!“ Benno hatte Bedenken geäußert, auf den Ärger hingewiesen, der ihnen drohte, wenn die Sache aufflöge. „Ich bin der Herr von Merode. Nicht Paulus!“, hatte Rikalt trotzig geantwortet.
Es war schon seltsam, einen Freund von hohem Geblüt zu haben, einen Freund, dessen Urahn einst vom berühmten Kaiser Barbarossa, dem Kreuzfahrer, belehnt worden war. Ja, es war seltsam, aber es erfüllte Benno mit unbändigem Stolz. Vielleicht würde er eines Tages Rikalts engster Vertrauter sein, und vielleicht würden sie doch noch gemeinsam ins Heilige Land ziehen, um den wilden Muselmanen zu zeigen, wessen Gott denn nun der Mächtigere sei. Vielleicht sogar im Dienste des neuen Königs Karl, an dessen Krönungsfeier Rikalt vor wenigen Tagen teilgenommen hatte. Zusammen mit seinem älteren Vetter Konrad, dem anderen Herrn von Merode, sowie mit einigen ihrer Ritter und Knappen waren sie nach Aachen gereist. Rikalt hatte sogar einen Platz im Dom ergattert und die Krönungszeremonie aufmerksam verfolgt. Auf dem marmornen Sessel der deutschen Könige und Kaiser thronend, war dem Luxemburger vom Trierer Erzbischof die Krone aufs Haupt gesetzt worden. Und später, nach dem Gottesdienst, als die vornehmen Gäste im Domhof Spalier standen, hatte König Karl dem jungen Herrn von Merode einen Augenblick lang fest ins Gesicht geschaut – jedenfalls behauptete Rikalt dies voller Stolz.
Benno musste schmunzeln. Konnte er seinem Freund das wirklich glauben? Wie käme ein König dazu, einem Knaben so viel Aufmerksamkeit zu schenken, wenn ringsumher Bischöfe, Grafen und Fürsten zugegen waren? Andererseits: In Rikalts klugen Augen loderte ein geheimnisvolles Feuer, das Benno immer wieder in seinen Bann zog und wohl auch anderen, selbst einem König, nicht verborgen bleiben konnte. Vielleicht war es ja wirklich so gewesen. Mit diesem Gedanken schlief er ein.
Donner weckte ihn. Die Sonne war verschwunden, warmer Regen prasselte auf ihn herab. Benno war schon völlig durchnässt, er musste tief geschlafen haben. Wieder war er in jenem fernen Land gewesen und hatte für Gott gefochten. Wie ein Hohn erschien ihm deshalb der grelle Blitz, der die Bäume auf bizarre Weise erhellte. Mit einem Mal verspürte Benno Angst. Er wusste von einem Bauern aus Konzendorf, einem Hörigen Rikalts, der vor einigen Wochen auf dem Feld von einem Unwetter überrascht wurde. Ein Blitz hatte ihn getötet, seinen Körper auf grausame Weise entstellt, als habe der Teufel selbst ein grausames Strafgericht über ihn gehalten. Auch Lazarus, der Knecht eines Meroder Bauern, kam ihm in den Sinn, den gleichfalls einst der Blitz getroffen hatte. Anders als der Bauer aus Konzendorf hatte der Knecht das Unglück überlebt, war aber seitdem dem Wahnsinn verfallen. Den Namen Lazarus hatte man ihm erst nach diesem schmerzlichen Ereignis gegeben, kein Mensch wusste mehr, wie er eigentlich früher geheißen hatte.
Benno wollte zu den nahe gelegenen Bäumen laufen, um sich dort unterzustellen. Da fielen ihm die Worte ein, die der Burgvogt Paulus seinerzeit, als man vom Blitztod des Bauern erfuhr, hatte verlauten lassen, nämlich bei Blitz und Donner nicht den Schutz der Bäume zu suchen, sondern reglos und flach auf der Erde liegend das Ende des Gewitters abzuwarten.
Also ließ Benno sich auf die Erde fallen, klammerte sich an Werners Bogen und begann leise zu beten.
Das sommerliche Unwetter tobte nicht lange. Grollend war es bald in der Ferne verschwunden, und die Vögel des Waldes nahmen erneut ihre Gesänge auf. Ein herrlich reiner Geruch erfüllte die Luft. Die Sonne war wieder durchgebrochen, und ein bunter Regenbogen schmückte das launische Firmament.
Benno erhob sich langsam und betrachtete seine Kleidung: Sie war triefend nass, was er bei diesen Temperaturen freilich als wohltuend empfand. Sorgsam wischte er den Schmutz von der wertvollen Waffe, die er leider Gottes noch immer nicht benutzt hatte. Seine Mutter fiel ihm ein, die sich sicherlich schon um ihn sorgte. Also beschloss er seufzend, sich auf den Heimweg zu machen. Ohne sonderliche Hast schlenderte er den Waldweg zum Dorf hinab.
Das kleine rötliche Etwas, das Benno aus seinen Augenwinkeln wahrnahm, ließ ihn im Schritt verharren. Langsam und vorsichtig wandte er seinen Kopf: Das Eichhörnchen dort hinten am Stamm der Buche bot die letzte Gelegenheit, Rikalt nicht zu enttäuschen. Entschlossen spannte er den Pfeil in die Bogensehne, legte an. Ich muss es treffen, ich muss!, dachte er, während die Spitze seiner Zunge sich durch den energisch geschlossenen Mund nach draußen schob. Dann spreizten sich seine Finger …
Dumpf schlug der Pfeil ins Holz. Flink wie eine aufgescheuchte Elfe verschwand das Eichhörnchen in der Baumkrone.
Der Junge stieß einen Fluch aus. Sein Schuss hatte das Tier nur um eine Handbreit verfehlt. Enttäuscht zog er los, den Pfeil aus dem Baumholz zu ziehen. Hoffentlich würde sich wenigstens Rikalts Spott in Grenzen halten.
Fast schon hatte Benno den Baum erreicht, als er einige Schritte zu seiner Linken ein braunes Bündel entdeckte. Wer kann es sich leisten, seine Kleidung hier liegen zu lassen?, ging es ihm durch den Kopf und er erinnerte sich an den Tag, als Guta ihn windelweich geprügelt hatte, weil sein Wams im Wassergraben der Burg versunken war. Doch plötzlich beunruhigte ihn eine Ahnung. Das war nicht bloß Kleidung. Jemand steckte darin!
Zunächst zögerte Benno, dann schritt er entschlossen auf das seltsame Bündel zu. Später bereute er es bitter, denn die starren Augen der Toten, die da in grotesker Haltung vor ihm lag, sollten ihn noch lange Zeit in seinen Träumen verfolgen. Diese starren Augen, die ihm einen Vorwurf machten, als sei er verantwortlich für das Leid, das hier stattgefunden haben mochte.
Mit einem hellen Schrei des Entsetzens floh Benno von dieser Teufelsstätte.
Das Gewitter sorgte nicht lange für eine klärende Reinigung der Luft. Am späten Nachmittag lag wieder dumpfe Schwüle über der Herrschaft.
Mathäus, der Dorfherr von Merode, hatte sich in der Stube seines kleinen Hauses verschanzt. Zwar war die Luft hier nicht nennenswert erträglicher, aber wenigstens konnte man sich so vor der Unbarmherzigkeit der gleißenden Sonne schützen. Ein Klotz aus Lindenholz, der vor ihm auf dem Tisch lag, bestimmte die Gedanken des Dorfherrn. Erstmals seit einer Woche gönnte er sich etwas Muße. In den vergangenen Tagen hatten ihn seine Pflichten sehr vereinnahmt. Beide Herren von Merode, sowohl Konrad als auch der junge Rikalt, waren nicht daheim gewesen, hatten in Aachen den Krönungsfeierlichkeiten des Königs beigewohnt. Erst gestern waren sie zurückgekehrt. In der Zwischenzeit hatten die Bauern von Merode es nicht versäumt, ihn mit Myriaden von Kleinigkeiten zu behelligen, ganz so, als hätten sie geduldig und bewusst den Reisezeitpunkt der beiden Herren von Merode abgewartet. Hühner, die der Nachbar angeblich gestohlen hatte, fremde Säue, die mutwillig Gemüsegärten ruiniert haben sollten, ein dubioses Testament, das auf geheimnisvolle Weise aufgetaucht war und diesen und jenen enterbte, was die Betroffenen wiederum in rasenden Zorn versetzte – mit nichts hatte man ihn verschont. Ach, die Leute konnten wie Kinder sein. Darin standen die Bewohner des Unterdorfes, deren Grundherr Rikalt war, denen des Oberdorfes am Hahndorn – nämlich Konrads Leuten – in keiner Weise nach. Mathäus seufzte. Sein bescheidenes Häuschen lag genau zwischen diesen Welten, eine lächerliche Trutzburg auf einer unsichtbaren Grenze. Aber so musste es sein, nur so konnte er sich den Respekt beider Parteien erhalten. Er schüttelte den Kopf und massierte seine entblößten Füße, um die Gedanken frei zu machen von solchen Nichtigkeiten, die für manchen guten Mann den Sinn der Schöpfung in Frage zu stellen vermochten.
Der Lindenklotz. Noch war es nur ein Lindenklotz, der da auf dem Tisch lag. Aber eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages sollte er sich verwandelt haben in eine Skulptur der Heiligen Jungfrau Maria, auf deren Schoß kein Geringerer als der kleine Jesus selbst saß. Der Erlöser mit Seiner Mutter, konnte man etwas Wunderbareres, etwas Erhabeneres erschaffen? Er hatte es Jutta versprochen. Ja, mit glückseligem Stolz würde er seiner Geliebten die Skulptur eines Tages überreichen.
Seiner Geliebten! Diesmal war Mathäus’ Seufzen ungewollt. Wie gern hätte er Jutta seine Verlobte genannt. Und wie viel lieber noch sein Eheweib. Nur gab es da ein grundlegendes Problem. Nicht, dass Jutta Mathäus nicht geliebt hätte. Im Gegenteil, sie liebte ihn mehr als alles andere auf der Welt. Allein Gott im Himmel liebte sie mehr. Und genau das war der Kern der Sache. Schon als Kind hatte Jutta Ordensfrau werden wollen, eine Dienerin Gottes. Aber eines Tages vor ziemlich genau drei Jahren hatte sie Mathäus auf dem Erntefest, das die Herren von Merode alljährlich veranstalteten, kennen und lieben gelernt. Seitdem lebte sie im Zwiespalt, mehr noch, gewaltige Stürme tobten in ihrer Seele: Sollte sie Christi Braut werden oder die des Dorfherrn Mathäus, ein geistliches oder ein weltliches Leben führen? Was würde sie mehr erfüllen, was ihre Seele sättigen? Und was geschähe, wenn sich herausstellte, dass ihre Wahl die falsche war?
Mathäus hatte sich geschworen, seine Angebetete niemals zu bedrängen, sie niemals vor die Wahl zu stellen, denn er wusste, dass er sie dann verlieren würde. Manchmal bat er Gott im Gebet, sie möge sich für ihn entscheiden. Um dann beschämt festzustellen, wie absurd sein Gebet doch letztlich war. Denn Juttas Entscheidung für ihn wäre eine Entscheidung gegen den himmlischen Vater, den er ja schließlich um die Erfüllung seines Wunsches bat.
Wieder schüttelte der Dorfherr den Kopf. Warum war es ihm derzeit nicht möglich, seine Gedanken frei zu machen? Warum konnte er sich nicht unbeschwert dem Stück Holz widmen, das seiner Verwandlung harrte? Entschlossen griff er nach Hammer und Meißel. Weg mit dem Holz, das nicht den Leib der Jungfrau und ihres Sohnes formt! In diesem Augenblick pochte es an der Tür.
Mathäus presste Luft aus seiner Nase und legte das Werkzeug beiseite. Verärgert stand er auf, um nachzusehen, wer ihn einmal mehr zu stören wagte. „Gnade ihm Gott“ murmelte er in dem Glauben, einer der Bauern wolle ihn mit einer neuen Litanei von Beschwerden beglücken.
Doch kein Dorfbewohner stand dort, seinen schnaubenden Schimmel am Zügel haltend, vor der Haustür. Der junge, rot gelockte Mann hieß Dietrich, ein Diener der Meroder Burgherren. Mathäus kannte ihn vom Ansehen, wusste aber nicht, ob er zu den Leuten Konrads oder Rikalts gehörte.
„Herr, Eure Anwesenheit wird dringlich gewünscht“, sagte der Diener, seine Erregung nur mühsam verbergend.
„So? Was um alles in der Welt gibt’s denn Wichtiges?“
„Bitte kommt mit mir, Herr!“, drängte Dietrich.
„Sag mir endlich, was los ist, sonst zieh ich dir die Ohren lang!“
„Es ist etwas Schlimmes geschehen“, beeilte der andere sich nun zu sagen, „man hat die Leiche einer jungen Frau gefunden.“
Mathäus runzelte die Stirn. „Leiche? Wo? Muss ich dir denn jedes Wort aus der Nase ziehen, Kerl!“
„Im Wald. Jemand hat das Mädchen umgebracht. Man wünscht, dass Ihr dort erscheint.“
„Wahrscheinlich hat man auch schon eine Ahnung, wer die Tote ist, nicht wahr?“
„Sieht ganz so aus, als handelte es sich um Anna, die Tochter des Wolfsbauern.“
Mathäus presste eine Hand auf seine Schläfe. „Gott“, murmelte er, „dieses arme, hübsche Ding!“ Sie war das einzige Kind des Wolfsbauern. Vier Geschwister waren schon im frühen Kindesalter gestorben. Er machte auf dem Absatz kehrt und eilte in seine Stube zurück. „Im Stall steht Julius“, rief er dem Diener zu, „geh und sattle ihn, während ich meine Stiefel schnüre.“
„Julius?“
„Mein Gaul! – Ach, und noch etwas!“
„Ja, Herr?“
„Sei vorsichtig! Julius beißt, wenn man ihn grob behandelt.“
„Mich hat noch nie ein Pferd gebissen“, erwiderte Dietrich selbstsicher.
Als Mathäus, geführt von Dietrich, am Leichenfundort eintraf, nickte er den beiden Dienern, die die Tote bewachten, stumm zu. Dann schwang er sich vom Gaul, der laut schnaubte und heftig den Kopf schüttelte, als würde der grässliche Anblick der Leiche ihn zutiefst beleidigen. „Tja, Brauner, so ist das Leben“, seufzte Mathäus, „die Erben Kains sterben niemals aus.“
Dietrich warf dem Dorfherrn einen seltsamen Blick zu. „Verzeiht, aber Euer Gaul … ich meine, versteht er denn-“
„Glaubst du etwa, er hätte kein Gespür hat für das, was hier vorgefallen ist? Natürlich hat er das.“
„Aha.“
„Auch Pferde sind Geschöpfe Gottes. Und Julius ist unserem Herrn besonders gut gelungen. Böses stößt ihn ab wie das Weihwasser den Leibhaftigen.“
Mathäus bemerkte den spöttischen Blick, den die Bewacher der Toten miteinander wechselten, zog es aber vor, sie vorläufig nicht wegen dieser Unverschämtheit zu maßregeln. Er war es gewohnt, dass man sich lustig machte über sein menschenähnliches Verhältnis zu seinem Gaul.
„Wer von euch Strolchen hat sie gefunden?“, fragte er die beiden.
„Keiner von uns, Herr. Benno, der Junge der Köchin Guta, fand sie hier beim Spiel.“
„Wie lange ist das her?“
„Etwa zwei Stunden. Der Junge hat sofort den Vogt informiert. Herr Paulus war schon hier. Er befahl, nach Euch zu schicken.“
„Hat man alles so belassen, wie man es vorfand?“
„Ich denke schon, Herr.“
„Du kannst denken? Tja, das ist immerhin etwas. Die Leiche – liegt sie wirklich noch so, wie sie gefunden wurde?“
„Äh ja, Herr!“
Blieb zu hoffen, dass dies der Wahrheit entsprach und dieser Hohlkopf von Burgvogt nichts durcheinander gebracht hatte. Mathäus beugte sich über die junge Tote. Ihre gebrochenen Augen und ihr verzerrter Mund zeugten von dem grausigen Schmerz, den sie durchlitten haben musste. Offensichtlich war Ihr Kehlkopf mit brachialer Gewalt eingedrückt worden. Die Leiche war noch nicht steif. Der Zeitpunkt des Verbrechens konnte nur wenige Stunden zurückliegen. Er wandte sich an die beiden Wächter. „Ihr werdet mir jetzt die Sibylle herholen.“
„Wir sollen … wen herholen?“
„Habt ihr was mit den Ohren?“
„Sibylle? Die alte Kräuterhexe?“
„Wenn sie nicht so eifrig Kräuter sammeln würde, dann hätte schon mancher von euch Eseln das Zeitliche gesegnet. Also, holt sie mir her. Hurtig!“
Die beiden bestiegen achselzuckend ihre Pferde und entfernten sich.
„Braucht Ihr mich noch, Herr?“ Dietrich war hinter den Dorfherrn getreten, der, auf dem Boden hockend, die Tote gründlich musterte.
„Ja, Dietrich. Wissen der Wolfsbauer und seine Frau bereits von dem Unglück?“
„Herr Paulus hat einen seiner Knappen geschickt, es ihnen mitzuteilen.“
Mathäus atmete erleichtert auf. Wenigstens dieser Gang blieb ihm erspart. Andererseits konnte er nur hoffen, dass der Todesbote mehr Einfühlungsvermögen und Feingefühl besaß als sein ritterlicher Herr, der Burgvogt.
„Na schön. Reite zurück und sorg dafür, dass man die Leiche der jungen Anna in spätestens einer Stunde abholt. Bis dahin hoffe ich, hier fertig zu sein.“
Als das Hufgetrampel verklungen war, verspürte Mathäus mit einem Mal Leere in seinem Kopf. Was konnte das Leben doch für ein Jammertal sein. Noch gestern um diese Zeit war Anna ein Wesen aus Fleisch und pulsierendem Blut gewesen, eine junge Frau mit Bedürfnissen und den üblichen Wünschen für die Zukunft. Dem Wunsch nach einem liebenswerten Mann und seiner Liebe, dem Wunsch nach Heirat, nach Kindern, nach Glück, dem Wunsch, in Frieden alt zu werden und so selten wie möglich Hunger zu leiden. War Anna nicht verlobt gewesen? Mit dem Ältesten des Bauern Rudolf? Richtig, Mathäus erinnerte sich. Vor wenigen Monaten hatten die Eltern der jungen Leute die Heirat ihrer Kinder beschlossen. Jetzt war alles vorbei. Kein Unfall, keine Krankheit und keine Schwergeburt hatte ihrem Leben ein Ende gesetzt. Sondern ein Mensch. Ein Meuchler und Todsünder.
Mathäus kippte nach vorn, als ein sanfter Stoß ihn in den Rücken traf. „Hast ja Recht, Brauner. Trübsal hilft nicht weiter.“ Er beschloss, die nähere Umgebung in Augenschein zu nehmen.
Das Körbchen mit den Beeren fand er in etwa fünfzig Schritten Entfernung. Anna schien vor ihrem Mörder geflohen zu sein. Der Tod aber hatte sie unerbittlich eingeholt. Mathäus suchte nach Fußspuren, doch der Gewitterregen musste sie, sofern es auf dem sommerlich trockenen Waldboden welche gegeben hatte, weggespült haben. Wenigstens konnte Mathäus sich anhand geknickter Zweige und niedergetrampelten Farnes ein ungefähres Bild vom Verlauf dieser unheilvollen Jagd machen.
Gerade wollte er sich wieder zu der Leiche begeben, da fiel ihm etwas ins Auge: Am dornigen Zweig eines Strauches baumelte etwas Rotes. Zunächst dachte er an ein rohes Stück Fleisch, doch als er näher trat, entpuppte es sich als Stofffetzen.
„Wer sagt’s denn“, jubilierte Mathäus leise und nahm das Relikt in Augenschein. Roten Stoff gab es nicht allzu häufig, erst recht nicht von solch edler Verarbeitung. Eines war jetzt schon sicher: Wenn dieser Fetzen von der Kleidung des Mörders stammte, dann durfte es nicht schwer sein, ihn ausfindig zu machen. Vorsichtig löste der Dorfherr das Beweisstück aus dem dünnen Geäst.
Geschrei und Gezeter ließen Mathäus aufhorchen. „Sibylle!“, sagte er schmunzelnd. Zügig machte er sich auf den Weg.
Das Bild, das sich ihm bot, hätte ihn laut auflachen lassen, wäre der Anlass nicht so traurig gewesen.
„Als ob ich nichts anderes zu tun hätte“, tobte das alte Weib, das einer der beiden Diener wie ein Gepäckstück vor sich auf sein Pferd geladen hatte. Mühsam versuchte der Bursche, sich der Kratz- und Beißversuche seiner widerstrebenden Ladung zu erwehren. Der andere der Diener war abgesessen und rieb sich fluchend das Hinterteil.
„Euer Gaul ist ein Satan!“, rief er, als er den Dorfherrn erblickte. „Hat mir in den Arsch gebissen!“
„Dann hast du dich nicht so benommen, wie er’s von dir erwartet hätte“, erwiderte Mathäus ungerührt.
„Wie er’s von mir erwartet hätte? Bei allem Respekt, Herr, aber -“
„He, he! Sag jetzt nichts, was dir später leidtun könnte. Hilf lieber der Sibylle vom Pferd, ich muss mit ihr reden.“
Der Diener hob an, etwas zu erwidern, besann sich aber. Zähneknirschend kam er Mathäus’ Befehl nach. Gemeinsam mit seinem Kameraden zerrte er das sich sträubende Weib vor den Dorfherrn.
„Ich habt hoffentlich einen triftigen Grund, mir diese Idioten auf den Hals zu hetzen, Herr Mathäus“, giftete sie. Ihr Mund war fast zahnlos, ihre Sprache entsprechend verwaschen.
„Es tut mir leid, wenn die Strolche grob zu Euch gewesen sind, Sibylle“, sagte Mathäus beschwichtigend, „aber ich schätze Eure Erfahrung und brauche deshalb unbedingt Euren Rat.“ Mit einer barschen Geste befahl er den Dienern, in den Hintergrund zu treten. Die Alte grummelte etwas Unverständliches vor sich hin.
„Bitte, Sibylle. Nur Ihr seid in der Lage, ein paar wichtige Fragen zu beantworten. Und seid gewiss, dass mein Dank nicht zu bescheiden sein wird.“
„Um was geht’s denn?“ fragte Sibylle etwas versöhnlicher.
„Nun, der Grund liegt direkt vor Euch.“
Sibylle kniff die Augen zusammen und sah angestrengt zu Boden. „Eine Tote, wie?“, stellte sie fest. „Wer ist das arme Ding?“
„Anna. Die Tochter des Wolfsbauern.“
„Anna, Anna“, echote Sibylle nachsinnend, „die Tochter des Wolfsbauern, natürlich! War keine leichte Geburt, ich erinnere mich genau.“
„Sibylle, ich möchte, dass Ihr die Tote untersucht. Vor allem will ich wissen, ob …“
„Ob was, Junge?“
„Also ich will wissen ob – nun ja …“
„Ob das Mädchen vor ihrem Tod mit einem Mann vereint war?“
Er nickte knapp.
„Warum sagt Ihr das nicht gleich? Dürfte nicht schwer sein, das herauszufinden, auch wenn meine Augen nicht mehr die besten sind. Aber eines kann ich Euch jetzt schon versichern, Herr Mathäus: Ein freiwilliger Beischlaf wird’s wohl kaum gewesen sein.“
„Da habt Ihr vermutlich Recht.“
„Geht jetzt. Ich will das arme Kind untersuchen.“
Mathäus gesellte sich zu den beiden Dienern, die ihre Unterhaltung abrupt einstellten. Eisiges Schweigen umhüllte die Männer.
„Tut mir leid, dass Julius dir in den Hintern gebissen hat“, sagte Mathäus nach einer Weile und legte versöhnlich eine Hand auf die Schulter des Lädierten.
„Tja“, sagte dieser zerknirscht.
„Zugegeben, sein Benehmen ist nicht immer vorbildlich.“
„Kann man wohl sagen.“
„Wo seid Ihr?“ Sibylles schrille Stimme drang bald durch die Baumreihen. Mathäus schritt der Alten entgegen.
„Habt Ihr etwas herausgefunden?“
„Wie Ihr’s vermutet habt. Jemand hat sich vor ihrem Tod an ihr vergangen.“
„Ich danke Euch.“ Er reichte ihr ein Geldstück und ermunterte sie durch ein Nicken, es anzunehmen. Angewidert betrachtete sie die Münze, ohne sie anzurühren.
„Was soll ich damit?“
„Ich dachte -“
„Sind denn die verrückten Sitten der Städte auch bei uns schon üblich? Zu meiner Zeit war das noch anders. Da bekam man, was man brauchte. Beißt in die Münze. Na los, macht schon, beißt hinein!“
Mathäus tat ihr den Gefallen.
„Und? Macht sie Euch etwa satt, he?“
„Nein. Ist ja nur ein Geldstück.“
„Seht Ihr?“
„Tja“, machte der Dorfherr noch einmal und hob hilflos die Schultern. „Soll einer der Diener Euch heimbringen?“
„Haltet mir bloß diese Schwachköpfe vom Hals. Ich finde allein zurück.“
Die Sonne versank bereits über den Wipfeln des Meroder Waldes, als sich die Burg im rötlichen Abendlicht vor Mathäus’ Augen erhob.
Die zweigeteilte Burg! Sooft Mathäus an diese Lösung denken musste, so oft missfiel sie ihm. Vor über fünfzig Jahren hatte Werner III. von Merode die umstrittene Idee gehabt, eventuellen Erbstreitigkeiten vorzubeugen, indem er eine Teilung des Besitzes vornahm. Seitdem gab es zwei Herren auf Burg Merode. Ein seltsamer Zustand, fand Mathäus, der immerzu achtgeben musste, es sich nicht mit einer Seite zu verderben. Seinen Vorgänger – sein Name war Wenzel gewesen – hatte man vor Jahren aus der Herrschaft vertrieben, obwohl er von Adel gewesen war. Wenzel hatte versucht, sich mit fragwürdigen Methoden bei beiden Herren lieb Kind zu machen, am Ende jedoch durch undurchsichtiges Taktieren sowohl den einen als auch den anderen verprellt. Schließlich verstrickte er sich in ein Netz aus Intrigen, das ein paar ritterliche Gefolgsleute der Meroder Herren – allen voran Paulus von Mausbach – säuberlich gewoben hatten. Wenzel wurde nicht nur aus dem Amt, sondern auch aus der Herrschaft verjagt.
Danach hatte man ernsthaft überlegt, das Amt mit zwei Männern zu besetzen, einen im Dienste der Scheiffarts, den anderen im Dienste der Werners, aber Markgraf Wilhelm von Jülich, unter dessen Lehenshoheit die Meroder standen, erhob Einwände gegen diese Lösung. Wohl zu Recht befürchtete er, sie könnten im Dienste der Edelmänner zu Marionetten werden, ähnlich wie der Schultheiß und die sieben Schöffen zu Echtz, die ihr Amt für die gesamte Herrschaft bekleideten. Eine unkontrollierte Machtfülle seiner Vasallen lag freilich nicht im Interesse des Markgrafen, also schlug er vor, einen seiner Dienstmannen in das Amt einzusetzen, einen jungen Kaufmannssohn, der sich zunächst als Gardesoldat, später auch als Beamter glänzend bewährt hatte. Zumindest bis zu jenem Zeitpunkt, wo er eine Verwandte des Markgrafen als dummes Sumpfhuhn bezeichnet hatte.
Um den Jülicher nicht zu verärgern, erklärten die Meroder sich mit dem Vorschlag einverstanden. Dass der neue „Aufpasser“ kein Adliger war, begrüßten sie sogar, hatte man doch mit Wenzel schlechte Erfahrungen gemacht. Seit nunmehr fünf Jahren kam Mathäus seinen Pflichten nach. Niemand hatte bislang ernsthafte Einwände gegen seine Amtsführung gehabt. Allerorten nannte man ihn den „Dorfherrn“.
Mathäus hatte inzwischen den Wassergraben der Burg erreicht, lenkte Julius auf die hölzerne Brücke und brachte ihn dort zum Stehen.
„Na, was ist?“, rief er dem Burschen im Torbau zu, „lässt du die Zugbrücke runter, oder muss ich warten, bis mein Gaul Flügel kriegt?“
Augenblicklich begann das Holzportal sich unter lautem Kreischen zu senken, sodass Julius den Kopf schief legte und seine Ohren wackeln ließ.
„Was hältst du eigentlich davon, die Eisen mal gründlich einzufetten?“, raunzte Mathäus den Knappen an, der das Pferd des Dorfherrn in Empfang nahm. Die bedächtigen Bewegungen des Burschen ließen erkennen, dass er bereits mit Julius’ Launen vertraut war.
„Werde das bald erledigen, Herr“, versprach der Knappe.
Auf dem Burghof scheuchte eine Magd drei aufgeregte Hühner in ihre Stallung.
„Wohin darf ich Euch führen, Herr Mathäus?“, fragte ein älterer, gesetzter Mann, der plötzlich vor ihm stand. Er hatte lichte Haare und graue Bartstoppeln. „In den Westflügel des Herrn Konrad oder in den Ostflügel des Herrn Rikalt und seines Vormundes, des edlen Ritters Paulus?“
„Paulus ist nicht der Vormund Rikalts, mein lieber Friedrich“, korrigierte Mathäus den Alten zuckersüß, „Rikalts eigentlicher Vormund ist sein Schwager, der Ritter Gerhard von Wedendorp. Paulus vertritt ihn nur, das wisst Ihr doch, verehrter Kastellan.“
„Ihr bracht mir das nicht jedes Mal zu sagen, Herr Mathäus.“
„Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass Ihr es eines Tages fehlerfrei aufsagen könnt.“
Friedrich spreizte die Hände. „Also, zu wem?“
„Zu beiden!“
„Ach, Herr Mathäus, manchmal glaube ich, Ihr wollt mich mit Absicht in Verlegenheit bringen. Wenn ich Euch nun in den Ostflügel Rikalts bringe und dann dem Herrn Konrad Bescheid gebe, lässt er seinen Zorn darüber wieder an mir aus. Umgekehrt wird mir der Herr Paulus -“
„Na schön, mein Guter“, seufzte Mathäus, „ich will Euch die Entscheidung abnehmen. Sagt, wo bin ich denn beim letzten Mal eingekehrt?“
„Beim jungen Rikalt, Herr.“
„Stimmt. Also werdet Ihr mich diesmal in den Westflügel führen. Dann werdet Ihr dem Herrn der anderen Seite gütigst ausrichten, dass ich Bericht erstatten möchte. Zufrieden?“
„Ihr wollt ihnen jetzt noch Bericht erstatten? Es ist bereits spät, und -“
„Ihr habt doch sicherlich gehört, was heute geschehen ist, oder?“
„Ja, der Mord. Es ist wirklich entsetzlich.“
„So entsetzlich, dass es mit der Nachtruhe für die hohen Herrschaften noch ein wenig dauert.“
Das sah Friedrich ein. Ohne weiteres Geplauder führte er den Dorfherrn in einen großen, dunklen Saal des Westflügels, wo er sogleich eine Fackel entzündete. Die kleinen Fensteröffnungen waren bereits verhangen, sodass auch das letzte Tageslicht ausgeschlossen blieb. In einer Ecke quiekten Mäuse.