ISBN: 978-3-96586-180-0
1. Auflage 2020, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2020 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de
Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag mit einem Foto von abobe stock.
Es handelt sich bei dem Ostfrieslandkrimi »Krabbentod in Greetsiel« um eine frei erfundene Geschichte. Eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen, Firmen, Gesellschaften, Behörden, Vereinen oder Örtlichkeiten sind daher grundsätzlich rein zufälliger Natur. Lediglich einige Orte der Handlungen wie zum Beispiel die Polizeiinspektion Aurich sowie andere konkret benannte Behörden, die Fechtabteilungen des TV Norden und des Emder Turnvereins und das Restaurant Captains Dinner in Greetsiel sind real, aber im Zusammenhang mit der frei erfundenen Geschichte ausschließlich fiktiv eingebunden. Dies gilt ebenso für das real existierende Saunabad Oase in Greetsiel sowie die Sparda-Bank Hessen eG in Kassel.
Diesen ersten Band meiner zweiten Ostfrieslandkrimiserie »Kommissarin Femke Peters ermittelt« widme ich meiner lieben Frau. Sie geht nicht nur seit über fünfzig Jahren mit mir durch dick und dünn, sie erduldet auch meine geistigen Abwesenheiten, wenn ich beim Schreiben meiner Bücher in den Geschichten unterwegs bin. Sie ist meine erste Leserin und ich danke ihr von Herzen für ihre Anregungen und ihre konstruktive Kritik.
Es war Samstag und versprach, ein besonders schöner Spätsommertag zu werden. Strahlend blauer wolkenloser Himmel begrüßte heute Ostfriesland und die Nachsaisongäste des Weltnaturerbes Wattenmeerküste. Vor den Kassen der Inselfähren hatten sich bereits kleine Schlangen gebildet. Das sprach dafür, dass sich nicht nur Urlaubsgäste spontan für einen Inselbesuch entschieden hatten. Die Autokennzeichen aus der Umgebung und den angrenzenden Landkreisen auf den Parkplätzen der Fähren zeigten, dass auch viele Einheimische einen der letzten Sommertage für einen Inselbesuch nutzen wollten. Andere verbrachten den schönen Tag zur Aufbesserung der Urlaubsbräune am Strand oder mit einer Radtour auf dem gut ausgebauten Radwegenetz Ostfrieslands.
Fenno Büürma, selbstständiger Versicherungsmakler aus dem beliebten Urlaubsort Greetsiel, genoss mit seiner Frau Gesa die Morgensonne beim Frühstück in seinem großen Wintergarten. Es war noch recht früh und draußen noch etwas frisch. Aber die Sonnenstrahlen sorgten im geschlossenen Wintergarten für ein angenehmes Raumklima.
»Gut, dass ich gestern Nachmittag noch den Rasen gemäht habe, denn jetzt wäre das Gras durch den Morgentau noch viel zu nass«, sagte Fenno. »Dann kann ich mich gleich auf den Weg machen. Bin mal gespannt, ob die Fische bei dem Wetter überhaupt beißen.«
»Dann bleib doch da. Kannst es dir ja nach dem Frühstück auf der Terrasse gemütlich machen«, schlug Gesa vor. »Es soll nach dem Wetterbericht heute nochmal ganz schön warm werden.«
»Könnte ich. Aber du weißt doch, Wochenende ist für mich Angelzeit. Da zieht es mich einfach raus in die Natur. Ich brauche diese Stille, um den Bürostress der vergangenen Woche abzubauen«, erwiderte Fenno.
Gesa glaubte, ihren Mann und seine Anglerleidenschaft zu kennen. Allerdings hätte ein objektiver Beobachter anzumerken gehabt, dass man gerade Fenno deswegen noch lange nicht als leidenschaftlichen Petrijünger bezeichnen könnte. Seine Angelleidenschaft bezog sich nämlich mehr auf das andere Geschlecht als auf den Fischfang.
Eigentlich hätte seine Gesa in vielen Ehejahren misstrauisch werden müssen, dass er nur ganz selten einen geangelten Fisch mitbrachte. Selbst wenn er mal einen im Auto hatte, pflegte er diesen in der Nachbarschaft zu verschenken, noch bevor er ihn ins Haus brachte.
Das tat er allerdings wirklich nur ihr zum Gefallen. Seit sie in ihrer Kindheit wegen eines verdorbenen Fisches sogar ins Krankenhaus gebracht werden musste, verursachte selbst Fischgeruch bei ihr schon Übelkeit. Sie bevorzugte daher auch eher die nicht maritimen Köstlichkeiten der alten traditionellen ostfriesischen Hausmannskost wie zum Beispiel Sniertjebraten, Grünkohl, Updrögt Bohnen oder Speckendicken, je nach Jahreszeit. Fisch oder Granat standen bei ihr nicht auf der Speisekarte. Wogegen Fenno grundsätzlich auch nichts einzuwenden hatte. Erinnerten ihn Gesas Speisepläne doch immer an die Kochkünste seiner Oma und seiner Mutter. Obwohl Fenno eigentlich ein Gourmet war, der sich auch schon mal gerne ohne Gesa in einem der unzähligen Restaurants der Küstenregion so manches kulinarisches und maritimes Highlight gönnte. Und da stand fangfrischer Granat bei ihm ganz oben auf der Liste.
Jedenfalls verteilte Fenno sein Anglerglück meistens großzügig noch am Gewässer vor Ort an seine Vereinskollegen. Schon manche Petrijünger-Ehefrau, die von Gesas ›Fischallergie‹ wusste, hatte sich telefonisch bei ihr dafür bedankt. Für Fenno das beste Standard-Alibi. Eine ahnungslose Ehefrau wäre daher auch sicher nicht auf die Idee gekommen, dass manches Angelvergnügen ihres Mannes statt an einem Gewässer des Vereins im Bett einer anderen Frau stattfand.
Fenno hatte für sich selbst die Rechtfertigung darin gefunden, dass sein Testosteronüberschuss schließlich dazu diente, mancher Frau zu einem Besuch in vielleicht sogar noch völlig unbekannten himmlischen Sphären zu verhelfen. Diesbezüglich hatte er auch seiner Gesa bisher nie einen Grund zur Klage über eine Vernachlässigung gegeben. Hinzu kam, dass ihm die holde Weiblichkeit, wie er sich auszudrücken pflegte, quasi zu Füßen lag. Es widerstrebte seinem Mitgefühl, nun mal eine Frau zu enttäuschen oder gar zurückzuweisen. Insofern war er mit sich und seinen Eskapaden auch völlig im Reinen.
Bei seinen Vereinskollegen erfreute er sich aufgrund seiner humorvollen Art und seiner Großzügigkeit auch mit Vereinsspenden großer Beliebtheit. Er war einfach ein Sonnyboy, immer hilfsbereit und hatte für jeden ein offenes Ohr. Was ihm als selbstständigem Versicherungsmakler ebenfalls sehr zugutekam. Auch sein smartes Auftreten öffnete ihm manche Tür.
Irgendwann hatte mal jemand in einer Runde gesagt, dass er die rustikale Ausgabe des britischen Fußballstars David Beckham sein könnte. Das hatte ihm mächtig geschmeichelt und seitdem versuchte er das auch in seinem Style umzusetzen. Dabei war ihm nicht entgangen, dass dies seine Wirkung auf Frauen offensichtlich noch beförderte. Und in Bezug auf Fußball erinnerte sich noch mancher seiner gleichalterigen Vereinskollegen an seine Erfolge in jüngeren Jahren in der örtlichen Fußball-Amateurliga.
Im Gegensatz zu dem britischen Fußballidol beschränkte sich aber seine Tattooleidenschaft auf eine einzige, aber äußerst intime Stelle seines Körpers. Ein rotes Herz mit dem goldenen Pfeil Amors prangte mitten über seiner gut proportionierten Männlichkeit. Dieses Tattoo war ein gegenseitiges Hochzeitsgeschenk von Gesa und ihm gewesen. Für ihn als regelmäßigen Saunagänger und FKK-Anhänger gehörten Körperpflege und Enthaarung zur Selbstverständlichkeit. Und insgeheim genoss er in solchen Örtlichkeiten die verstohlenen Blicke seines Umfeldes. Auch und vor allem dann, wenn er mit Gesa gemeinsam die gemischte Sauna besuchte oder am Strand in der Sonne badete. Sie hatte zwar keine Modelfigur, war aber mit weiblichen Attributen sehr gut ausgestattet. Das Tattoo, welches ihren enthaarten Venushügel bedeckte, war nicht nur für männliche Badegäste ein Augenmagnet.
Für Freunde stand fest: Wenn jemand auf der Sonnenseite des Lebens geboren war, dann war es Fenno. Sein beruflicher Erfolg ermöglichte ihm so manches Extra, sei es ein tolles Haus mit gepflegtem Garten oder auch ein Oldtimer-Porsche-Cabrio. Bei den Büürmas schien alles rundzulaufen. Sein erwachsener Sohn Momme war inzwischen beruflich als Kompagnon mit in die Firma eingestiegen. Was wollte sich ein Vater mehr für den Fortbestand seines Lebenswerkes wünschen?
Fennos Geschäftserfolg beruhte aber auch darauf, dass er sich sehr für seine Kunden einsetzte. Seine Agentur arbeitete mit Vergleichsportalen für Versicherungen und Finanzinstituten. Dadurch war es ihm möglich, für jeden Kunden ein optimales Preis-Leistungs-Verhältnis herauszuholen. Und manchem hatte er schon durch geschickte Formulierungshilfe bei einer Schadensregulierung durch Versicherungsgesellschaften zum Erfolg und anderen zu einer günstigen Eigenheimfinanzierung verholfen.
Nur seine engsten Freunde und Verwandte wussten, dass er quasi als Sahnehäubchen auch noch in den Genuss einer großen Millionenerbschaft aus Kanada gekommen war. Der ehe- und kinderlos gebliebene Bruder von Fennos Vater war vor Jahren nach Kanada ausgewandert und dort zu großem Reichtum gekommen, den er seinem einzigen Patenkind Fenno in Deutschland vermacht hatte.
Eigentlich hätte er sich mit dieser Erbschaft inzwischen zur Ruhe setzen können. Das wäre auch voll im Sinne seines Sohnes gewesen, mit dem er sich in der letzten Zeit nicht mehr so gut verstand, was die beiden aber nicht nach außen dringen ließen. Fenno konnte sich das distanzierte Verhalten seines Sohnes nicht erklären. Was er nicht wusste: Momme war dahintergekommen, dass Fenno seine Mutter Gesa seit Jahren nach Strich und Faden betrog. Er hatte es aber seiner Mutter nicht gesteckt, weil er nicht wollte, dass für sie eine Welt zusammenbrach. Zudem wohnte Momme schon seit einiger Zeit nicht mehr zu Hause, sondern bei seiner Freundin.
Natürlich blieben Fennos Eskapaden nicht unbemerkt. Aber es war ihm immer wieder gelungen, sich mit viel Charme und Ausreden aus der Affäre zu ziehen. Zudem, echte Beweise hatte noch keiner bei ihm finden können. Und so blieb es immer bei Vermutungen und Gerüchten. Ein Psychologe hätte ihn wahrscheinlich als einen notorischen Lügner eingestuft. Allerdings war er diesbezüglich nicht von der boshaften und hinterhältigen Art. Er gab lieber, als dass er nahm. Und auch in Bezug auf Frauen war er felsenfest davon überzeugt, mehr zu geben, als zu nehmen. Da hätte sich sicher auch manche Frau finden lassen, die dieser Selbsteinschätzung nicht widersprochen hätte.
Wie an den meisten Wochenenden machte sich Fenno nach dem Frühstück und einem herzhaften Abschiedskuss von seiner Gesa auf den Weg zum Angeln. Es war heute noch ein wenig früh für seinen ›angestammten Angelplatz‹. Außerdem hatte er noch etwas zu erledigen. Auch wenn der Grund für dieses Date für ihn nicht gerade ein Anlass für besondere Fröhlichkeit war, genoss er die Fahrt bei herrlichem Sonnenschein durch die ostfriesische Landschaft, ohne zu ahnen, dass dies heute fast zu so etwas wie einer Abschiedsfahrt von seiner geliebten Heimat werden sollte.
Gesa hatte den Abendbrottisch im Wintergarten gedeckt. Die Abendsonne spendete immer noch eine spätsommerliche angenehme Temperatur. Zudem gaben die verklinkerten Hauswände die gespeicherte Wärme ab. Die Seitenverglasungen waren aufgeschoben, damit die Nachmittagshitze entweichen konnte. Fenno hatte sich wie oft, wenn er vom Angeln kam, im Wohnzimmer auf die Couch gelegt. Er pflegte dann zu sagen: »Ich verstehe gar nicht, dass mich das Angeln immer so müde macht.«
Dafür hatte seine Frau zwar auch keine schlüssige Erklärung, aber sie wusste genau: Pünktlich Glockenschlag achtzehn Uhr würde Fenno frisch geduscht und hungrig am Abendbrottisch sitzen. Pünktlich war er auch heute und doch wirkte er irgendwie etwas anders.
»Wie war’s denn?«, fragte sie ihn daher etwas besorgt, als sie den Tee einschenkte.
»Hätte ich eigentlich wissen sollen bei dem schönen, warmen Wetter, null Biss. War auch ganz alleine am Wasser. Aber du weißt ja, wie das ist, die Hoffnung stirbt immer zuletzt«, machte er auch gleich seinem gespielten Ärger Luft. »Verstehe gar nicht, dass auch das Nichtstun so müde macht. Jedenfalls bin ich jetzt noch irgendwie schlagkaputt.«
»Dann hätten wir doch heute Nachmittag schön auf der Terrasse Tee trinken können«, bedauerte Gesa. »Lene war da und hatte sogar etwas von ihrer selbst gebackenen Ostfriesentorte mitgebracht. Die mit den vielen eingelegten Rosinen, die du doch immer so gerne isst. Für dich ist noch ein Stück im Kühlschrank.«
»Na, die Torte deiner Schwester wird sich ja sicher noch bis morgen halten. Hab im Moment eigentlich noch gar keinen richtigen Hunger«, sagte Fenno und biss lustlos in sein Käsebrot.
»Du hattest doch aber heute gar nicht so viel Brot dabei. Von was bist du denn noch so satt?«, wunderte sich Gesa, die eigentlich einen gesegneten Appetit bei ihrem Mann gewöhnt war. Fenno konnte nämlich Mengen verdrücken, ohne dass das seiner Figur geschadet hätte.
Er kommentierte entsprechende Gespräche im Freundeskreis immer mit dem Hinweis, dass er einfach ein schlechter Futterverwerter wäre. Wofür er von manchem Zeitgenossen mit Gewichtsproblemen insgeheim beneidet wurde. In einer Männerrunde nach einigen Bier- und Schnapsrunden gab er dann aber auch schon mal eine andere Begründung für seine schlanke, drahtige Figur ab: »Guter Hahn wird eben selten fett!«
»Ach, ich habe mit dem Angeln heute früher Schluss gemacht. Ein Versicherungskunde hatte gestern einen Schadensfall in seiner Firma und bat mich über Handy um Hilfe bei der Formulierung des Berichtes. Na, und da hat er mich zum Mittagessen eingeladen. Seine Frau hatte ein tolles Krabbengericht gemacht, da konnte ich natürlich nicht Nein sagen.«
»Wolltest du mir damit jetzt sagen, dass du fremdgegangen bist?«, fragte sie ihn mit einem verschmitzten Lächeln. Dabei hatte sie, wenn es um Krabben oder Fisch ging, durchaus Verständnis für ihn. Schließlich wurde ihr schon schlecht, wenn sie nur einen fischähnlichen Geruch in die Nase bekam.
»So könnte man es auch bezeichnen, meine Liebe«, bestätigte Fenno ihre Frage mit einem hintergründigen Grinsen. Das mit dem Krabbengericht zum Mittag stimmte ja immerhin. Und seinem Kunden hatte er auch bei der Formulierung seines Schadensberichtes geholfen. Nur das Krabbengericht hatte nicht dessen Frau gekocht. Mit so einer kleinen Verbiegung der Realität konnten sowohl er als auch sein Gewissen ganz gut leben.
»Wer war denn der Kunde?«, wollte Gesa wissen.
»Ach, kennst du sowieso nicht. Ist ein Empfehlungskunde außerhalb der Krummhörn. Aber irgendwie habe ich heute überhaupt keinen Appetit. Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist. Am liebsten würde ich mir jetzt einen doppelten Korn nehmen und mich nochmal auf die Couch legen.«
»Mach das doch. Ich sag dir dann um acht Uhr Bescheid, damit du deine Nachrichten im Ersten nicht verpasst.«
»Ach, Gesa! Was würde ich nur ohne dich machen?«
»Manchmal hab ich das Gefühl, du kämst auch ohne mich ganz gut zurecht«, wimmelte sie bescheiden ab.
Am Anfang ihrer Ehe hatte sie Fenno noch beim Aufbau des Finanzkontors geholfen. So nannte er seine Versicherungsagentur, nachdem er nicht mehr nur für eine Versicherung als Vertreter tätig war. Sie hatten sich schon früh bei der gemeinsamen Ausbildung als Versicherungskaufleute bei derselben Versicherung kennengelernt. Fenno war ein charmanter und aufmerksamer Liebhaber und es war ihm nicht schwergefallen, Gesas Gefühle für sich zu gewinnen. Dann wurde ihr Sohn Momme geboren und sie hatte sich aus dem Geschäft zurückgezogen. Als der Kleine in der Kita und später in der Schule gut untergebracht war, blieb ihr mehr Zeit für ihr Hobby, die Malerei.
Eigentlich hätte Gesa Kunst studieren wollen, aber da war ihr Vater dagegen gewesen. »Lerne was Bodenständiges, dann kannst du zur Not auch mal auf eigenen Füßen stehen und bist nicht auf einen Mann angewiesen«, hatte er ihr dringend geraten, obwohl er ihr Talent kannte. Aber mit Kunst hatte er es nicht so. Und den Dachdeckerbetrieb, der vom Bauboom der letzten Jahre gut profitieren konnte, hatte inzwischen ihr Bruder übernommen.
Da sich Fennos Finanzkontor sehr dynamisch entwickelte und er inzwischen auch entsprechendes Personal eingestellt hatte, konnte Gesa aus ihrem Hobby der Malerei fast so etwas wie einen Beruf machen. Sie hatte inzwischen an verschiedenen Workshops von angesehenen Künstlern teilgenommen und sich in einem Anbau ihres Hauses ein kleines Atelier eingerichtet. In der hiesigen Gastronomie und in den Ferienvermietungen hatte sie Flyer ausliegen, die auf ihr Atelier aufmerksam machten. In der Saison fand ihre kleine Künstlerwerkstatt inzwischen auch regen Zuspruch. Wodurch sie es sich manchmal nicht verkneifen konnte, dies ihrem Vater unter die Nase zu reiben. Denn dass er sie nicht hatte studieren lassen, würde sie ihm wohl nie verzeihen.
***
Pünktlich um acht hatte sie für Fenno die Nachrichten eingeschaltet. »Ich glaube, ich brauche dringend noch einen Schnaps«, sagte dieser zu ihr. »Möchte wissen, was heute nur mit mir los ist. Irgendwie ist mir übel, so als hätte ich mir den Magen verdorben. Es wird ja wohl nicht die Magen-Darm-Grippe sein, die zurzeit überall hier grassiert.«
»Würde ich nicht ausschließen«, schloss sich Gesa seiner Befürchtung an. »Als ich diese Woche wegen meines Tennisarmes bei Gero war, war sein Wartezimmer rappelvoll. Er sagte mir, dass wir es diesmal mit einer besonders aggressiven und hochansteckenden Form der Magen-Darm-Grippe zu tun haben. Er empfahl mir ausdrücklich, besonders auf die Hygiene zu achten.«
»Wo du das sagst, da fällt mir ein, dass die Frau meines Kunden kaum etwas gegessen hat und dann auf einmal verschwunden war. Als ich ging, hat er sie entschuldigt, dass es ihr im Moment nicht so gut ginge. Und ich meinte, gehört zu haben, dass sich jemand in der Gästetoilette übergeben hat.«
»Wann ist das denn gewesen?
»Kurz nach dem Essen. Muss wohl so gegen eins gewesen sein.«
»Gero sagte mir, dass sich die Symptome einer Infektion schon in wenigen Stunden entwickeln. Das könnte ja passen. Es reicht, wenn Viren in das von der Frau gekochte Essen …«
»Ich glaube, es geht schon los«, unterbrach Fenno seine Frau und versuchte so schnell wie möglich ins Bad zu kommen. Dort konnte er gerade noch rechtzeitig den Toilettendeckel hochbekommen.
Einen Augenblick später brachte ihm Gesa einen Eimer mit etwas Wasser ins Bad. »Am besten setzt du dich gleich auf die Toilette. Du wirst beides brauchen. Manchmal ist es schon von Vorteil, wenn man einen Arzt zum Freund hat. Gero hatte mir geraten: ›Sollte es einen von euch erwischen, dann nehmt einen Eimer mit aufs Klo. Der außerplanmäßige Stoffwechsel entlädt sich vor allem am Anfang in beide Richtungen‹.« Es kam, wie sie es vorhergesehen hatte. »Ich werde gleich mal bei Gero anrufen. Er schreibt mir ein Rezept und ich kann es dann gleich bei der diensthabenden Apotheke holen. Das wird dir hoffentlich ein wenig Linderung verschaffen.«
»Ich bin dann mal weg. Kommst du im Moment alleine klar?«, fragte sie Fenno besorgt, nachdem sie mit dem Mediziner telefoniert hatte. Ihr Patient saß immer noch wie ein Häufchen Elend auf der gewissen Örtlichkeit und hielt krampfhaft den Eimer auf den Knien umklammert.
»Muss ja«, brachte er gerade noch raus, bis ihn der nächste Würgereiz übermannte.
»Eine Notapotheke hat in Norden auf. Das Rezept von Gero kann ich mir auf dem Weg abholen. Da werde ich hin und zurück gut eine Stunde brauchen«, sagte sie und stellte ihm eine Wasserflasche in Reichweite hin. »Du sollst reichlich trinken, hat Gero gesagt, auch wenn es wieder retour kommt.« Dann machte sie sich auf den Weg.
Da sie bei der Apotheke nicht der einzige Notfall war, brauchte sie mehr als eineinhalb Stunden, bis sie endlich Fenno die Medizin bringen konnte. Der saß schon wieder so da, wie sie ihn verlassen hatte, und wand sich vor Bauchkrämpfen. Bis weit nach Mitternacht quälte sich Fenno noch zwischen Bett und Örtlichkeit hin und her, wobei er den Eimer als ständigen Begleiter mitnahm.
Gesa war in eines der Gästezimmer umgezogen und nutzte auf Empfehlung von Gero auch die Gästetoilette. Noch in der Nacht hatte sie für ihren Mann eine Suppenbrühe aus dem Tiefkühler geholt und aufgekocht. Zum Frühstück bereitete sie ihm dann einen Haferschleim. Nicht gerade seine Lieblingsspeise, aber in diesem Fall vom Arzt empfohlen. »In ein paar Tagen wird es dir wieder besser gehen. Du sollst für die kommende Woche alle Termine absagen, hat Gero gemeint. Du bist nämlich auch dann immer noch ein wandelndes Virenmutterschiff.«
Der Krankheitsverlauf war bei Fenno wie von seinem Freund vorhergesagt. Am Donnerstag ging es ihm schon wieder besser, auch wenn er sich immer noch recht schlapp fühlte. Er war froh, dass er auf den Rat des Freundes gehört und alle Termine dieser Woche verschoben hatte. Im Büro war zudem Momme da und konnte sich um alles kümmern. »Eigentlich wollte ich ja am Samstag zum Angeln, aber darauf werde ich verzichten. Ich bleibe auch am Wochenende lieber noch zu Hause. Ich will ja schließlich niemand anstecken.«
Am nächsten Tag hatte ihm Gesa wieder Haferschleim zubereitet, den er widerwillig in sich hineinschaufelte. Auf einmal sagte er: »Gesa, mir wird ganz komisch. Ich glaube, ich muss mich mal einen Moment auf die Couch legen.«
»Brauchst du wieder einen Eimer?«, fragte sie besorgt und stützte ihn auf dem Weg ins Wohnzimmer.
»Nein, aber ich habe das Gefühl … keine Luft zu bekommen … und mein Puls rast.«
Fenno schaffte es gerade noch bis zur Couch, dann schwanden ihm die Sinne. Gesa wählte den Notruf und erklärte dem Bereitschaftsdienst höchstbesorgt die Situation ihres Mannes. Der versprach, sofort einen Notarzt und einen Rettungstransportwagen zu schicken.
Als endlich nach mehr als einer halben Stunde der Notarzt und die Sanitäter da waren, war Fenno inzwischen wieder etwas ansprechbar.
»Herr Büürma, haben Sie in der letzten Zeit selbst gesammelte Pilze gegessen?«, wollte der Mediziner wissen, nachdem er Fenno untersucht hatte. Die gelbe Hautfärbung in Verbindung mit den von Gesa beschriebenen Symptomen erinnerten ihn an einen Patienten aus seiner Klinikzeit, der an einer Knollenblätterpilzvergiftung gestorben war.
Fenno schüttelte den Kopf und Gesa antwortete für ihn: »Nein, Herr Doktor, weder mein Mann noch ich sind Pilzsammler. Wenn ich beim Kochen Pilze verwende, dann nur aus dem Lebensmittelmarkt. Ich war auch schon lange nicht mehr auf einem Wochenmarkt.«
»Das wäre jetzt meine nächste Frage gewesen«, sagte der Arzt, während die Sanitäter Fenno, der inzwischen wieder das Bewusstsein verloren hatte, auf der Transportliege festschnallten. »Wir werden Ihren Mann sofort in die Klinik nach Aurich bringen. Ich würde vorschlagen, dass Sie Ihren Mann begleiten. Die Kollegen dort werden sicher auch noch Fragen an Sie haben.«
Die Sanitäter hatten Fenno bereits in den Ambulanzwagen gebracht und mit Infusionen versorgt, als Gesa zustieg.
Das Krankenhaus war durch den Notarzt informiert worden. Sie wurden in der Notaufnahme schon erwartet und Fenno sofort in einen Behandlungsraum geschoben. Gesa musste draußen im Gang warten.
Nach fast einer Stunde kam der behandelnde Arzt zu ihr. »Wir konnten den Kreislauf Ihres Mannes weitgehend stabilisieren. Allerdings befindet er sich immer noch im Koma und wir haben ihn auf die Intensivstation gelegt. Wir müssen jetzt auf die Laborwerte warten. So wie es aussieht, handelt es sich um ein akutes Leber- und Nierenversagen. Wir teilen die Auffassung unseres Kollegen, der bei Ihnen im Haus die Erstversorgung vorgenommen hat. Die Symptome deuten auf eine Pilzvergiftung durch Knollenblätterpilze hin und nicht auf eine Magen-Darm-Viruserkrankung. War Ihr Mann denn damit bei seinem Hausarzt in Behandlung?«
Gesa schilderte dem Arzt den Verlauf. »Mein Mann war sich sehr sicher, dass er sich bei einem Kunden angesteckt hatte, zumal dessen Frau durch plötzliches Erbrechen selbst gar nichts mehr von ihrem Krabbengericht essen konnte. Und auch unser Hausarzt war der Meinung, dass der von ihm geschilderte Ablauf typisch sei. Sonst hätte er mir ja gar nicht das Rezept ausgestellt. Und es wurde nach einigen Tagen ja auch schon besser. Genauso, wie unser Arzt es gesagt hatte. Und dann plötzlich dieser Zusammenbruch.«
»Wann war denn das mit dem Krabbengericht bei dem Kunden Ihres Mannes?«, wollte der Mediziner wissen.
»Das war am letzten Samstag. Wir saßen beim Abendbrot. Fenno schmeckte das Käsebrot schon nicht mehr so richtig und dann ging es plötzlich los mit dem Brechdurchfall.«
»Das passt vom Zeitablauf durchaus zu der hier gerade grassierenden Magen-Darm-Infektion«, führte der Arzt aus. »Allerdings sind bei einer Pilzvergiftung mit Knollenblätterpilzen auch nach sechs bis zehn Stunden ähnliche Symptome zu beobachten. Es bleibt uns im Moment leider gar nichts anderes übrig, als Ihren Mann zu stabilisieren und die Laborwerte abzuwarten. Andererseits, wenn wir unterstellen, dass Ihr Mann nicht alleine gegessen hat, dann müsste zumindest der Kunde Ihres Mannes genauso betroffen sein. Haben Sie den Namen und die Adressdaten?«
»Nein, Fenno sagte, das sei ein Kunde außerhalb der Krummhörn und ich würde den sowieso nicht kennen. Aber das können wir vielleicht über meinen Sohn herausbekommen. Der ist Juniorpartner im Finanzkontor meines Mannes. Wegen der Ansteckungsgefahr hatte Momme bisher auf einen Krankenbesuch bei uns zu Hause verzichtet. Aber vielleicht weiß er ja, um welchen Kunden es sich gehandelt haben könnte. Er müsste eigentlich jeden Moment hier sein, denn ich habe ihn in der Zwischenzeit informiert, dass sein Vater in der Klinik eingeliefert wurde.«
Der Arzt wollte gerade in den Behandlungsraum zurückgehen, als Momme eintraf. Nach kurzer Begrüßung fragte Gesa ihn nach dem besagten Kunden. Aber auch er hatte keine Ahnung, bei wem sein Vater gewesen sein könnte. Er hatte in der abgelaufenen Woche auch keinen Schadensbericht auf dem Tisch gehabt, auf den dies passen würde. Stattdessen hegte er im Stillen den Verdacht, dass sein Vater wieder einen seiner Seitensprünge auf diese Art kaschieren wollte. Das mochte er aber weder dem Arzt geschweige denn seiner Mutter sagen.
Nachdem der Arzt gegangen war, gingen Mutter und Sohn zur Rezeption, um noch die Formalitäten zu erledigen. Der Mediziner hatte ihnen zugesichert, dass sie informiert würden, sobald die Laborwerte da wären oder falls sich Veränderungen bei dem Patienten ergeben sollten. Dann brachte Momme seine Mutter nach Hause. Da er an diesem Freitag keine Termine mehr hatte, blieb er zunächst bei ihr und ließ sich den Ablauf der letzten Woche noch einmal im Detail erzählen.
Gesa tat es gut, über alles mit einem Menschen ihres Vertrauens reden zu können. Es war schon nach sechzehn Uhr. Mommes Freundin, im Finanzkontor seine rechte Hand wie seinerzeit Gesa bei Fenno, war nach Büroschluss auch dazugekommen. Sie saßen gerade bei einer Tasse Ostfriesentee, als das Telefon ging.
Es war der Arzt aus dem Krankenhaus. »Frau Büürma, wir haben die Laborwerte da. Im Blut Ihres Mannes sind Phallotoxine und Amatoxine nachweisbar. Das sind Gifte, die sowohl der Weiße wie auch der Grüne Knollenblätterpilz enthalten. Die Amatoxine führen zu einer hochgradigen Leberschädigung, die durch die Gelbfärbung seiner Haut auffällig ist und auch den Schockzustand bei Ihrem Mann ausgelöst hat. Wir versuchen dem durch entsprechende medizinische Maßnahmen entgegenzuwirken. Und seien Sie versichert, wir tun alles, was in unserer Macht steht. Eine Magen-Darm-Infektion konnte jedenfalls ausgeschlossen werden. Das heißt, wir müssen davon ausgehen, dass Ihr Mann irgendwo giftige Pilze gegessen hat. Leider können wir ihn selbst nicht dazu befragen, denn er liegt immer noch im Koma.«
»Mein Sohn und ich haben uns schon den Kopf zerbrochen, aber wir können uns nicht vorstellen, wo und bei wem er Pilze gegessen haben sollte«, zeigte sich Gesa ratlos. »Können wir denn meinen Mann jetzt besuchen kommen?«
»Im Moment führen wir gerade eine Dialyse bei ihm durch, um die fehlende Funktionsfähigkeit seiner Nieren auszugleichen. Aber morgen im Laufe des Vormittags dürfte dem nichts im Wege stehen.«
»Vielleicht ist er dann auch schon wieder ansprechbar«, zeigte sich Momme optimistisch, der den Wortwechsel über den Lautsprecher mitverfolgt hatte.
»Es tut mir sehr leid, Herr Büürma«, erwiderte der Arzt, »aber davon gehen wir eher nicht aus. Wir können schon von Glück sagen, wenn Ihr Vater überlebt. Eine Knollenblätterpilzvergiftung ist deswegen so tückisch, weil die Wirkung in Schüben eintritt, die außerdem zu Beginn auch noch falsch gedeutet werden können wie im Fall Ihres Vaters. Dann sind im späteren Verlauf die Organschäden aber möglicherweise schon irreversibel weit fortgeschritten. Die Gelbfärbung der Haut ist ein äußeres Zeichen dafür. Wie weit das bei Ihrem Vater konkret der Fall ist, konnten wir noch nicht im Detail untersuchen, weil lebenserhaltende Maßnahmen im Moment den absoluten Vorrang haben. Die Ultraschalluntersuchungen lassen jedenfalls bereits Schlimmes befürchten.«
»Gibt es denn keine Medikamente, mit denen man diesen Prozess stoppen kann?«, wollte Momme wissen.
»Wir haben sofort mit einer auf Silibinin basierenden Medikation begonnen und hoffen natürlich, damit eine weitere Schädigung der Organe verhindern zu können. Das wäre zumindest schon mal ein Hoffnungsschimmer.«
Nach diesem Telefonat brauchten Fennos Angehörige eine ganze Weile, um die Schocknachricht zu verdauen. Die drei saßen wie erstarrt um den Esszimmertisch herum, bis Momme seine Worte wiederfand und sich von seiner Mutter nochmals den genauen Ablauf des besagten Samstages erzählen ließ. Dazu holte er sich aus dem Büro seines Vaters einen Schreibblock und notierte sich die Uhrzeiten, soweit sich seine Mutter noch daran erinnern konnte.
Dann beschäftigte er sich mit dem Smartphone seines Vaters, welches er auf dem Schreibtisch gefunden hatte. »An dem Samstag sind keine Telefonate gespeichert«, stellte er fest. »Hat er vielleicht noch ein zweites Handy?«, fragte Momme, obwohl er inzwischen genau wusste, dass sein Vater noch ein zweites Android-Smartphone besaß. Genau das hatte mal im Büro auf dem Schreibtisch gelegen, als sein Vater kurz austreten war. Bei einem Blick in den Timer hatte es ihm die Sprache verschlagen. Da standen Termine mit weiblichen Vornamen, die nicht mit dem gerade auf dem PC geöffneten Terminkalender übereinstimmten.
»Keine Ahnung«, antwortete Gesa. »Über sowas haben wir uns nicht unterhalten. Aber für was sollte er ein zweites Handy benötigen?«
Eher zur Beruhigung seiner Mutter als aus Überzeugung sagte Momme: »Na, wenn er am Samstag einen Termin hatte, der nicht im Kalender bei uns im Büro und damit auch in seinem iPhone steht, dann muss er ja irgendwie anderweitig dazu die Absprachen getroffen haben. Ich muss nochmal die gespeicherten Telefonnummern durchgehen. Vom Büro aus hat er jedenfalls keine entsprechenden Telefonate geführt, weil unser System automatisch jeden Anruf mit den verfügbaren Daten des Kunden speichert und Termine auch gleich im System hinterlegt. Diese Informationen wären auch über dieses iPhone abrufbar. Da sind aber keine.«
»Da fällt mir ein, er sagte was davon, dass ihn der Kunde beim Angeln angerufen und um Hilfe bei der Formulierung einer Schadensmeldung gebeten hat.«
»Dann müsste das Telefonat ja in der Anrufliste des Handys auftauchen. Es sei denn, er hat es gelöscht«, überlegte Momme laut. Für ihn stand fest, dass da ein intimes Date seines Vaters dahintersteckte. Aber das behielt er auch jetzt wieder für sich. Jedenfalls kamen sie damit im Moment nicht weiter.
Während Gesa sich mit Mommes Freundin um das Abendessen kümmerte, wollte sich ihr Sohn ein wenig im Garten die Füße vertreten. Allerdings führte ihn sein Weg nicht in den Garten, sondern in die Garage, wo das Porsche-Cabrio seines Vaters stand. Das Verdeck war seit besagtem Samstag immer noch offen. Aber trotz intensiver Suche an allen möglichen und unmöglichen Stellen im Wagen konnte er das zweite Smartphone seines Vaters nicht finden.
Nach dem gemeinsamen Abendbrot, welches sie mit wenig Appetit gegessen hatten, drehten sie sich mit ihren Überlegungen und Mutmaßungen immer mehr im Kreis. Weder brachte sie das einer Lösung näher noch beruhigte es sie.
Momme blieb mit seiner Freundin über Nacht bei seiner Mutter, damit er sie unterstützen konnte, falls eine Nachricht aus der Klinik kam. Es war aber alles ruhig geblieben, was die drei am nächsten Morgen beim Frühstück erst einmal als ein gutes Vorzeichen ansahen. Vielleicht war die Medikation doch nicht ohne Wirkung geblieben.
Nachdem sie sich mit den von Momme geholten Brötchen gestärkt hatten, machten sich Mutter und Sohn auf den Weg zur Klinik nach Aurich. Mommes Freundin wollte bei sich zu Hause nach dem Rechten sehen und dann ins Büro gehen.
Unterwegs auf dem Weg nach Aurich klingelte Gesas Handy. Nachdem sie sich gemeldet hatte, wurde sie kreidebleich und sagte: »Oh mein Gott! … Wir sind unterwegs.«
»Was ist?«, fragte Momme, der den Wagen fuhr, besorgt.
»Dein Vater ist tot«, stammelte Gesa und die Tränen rannen ihr die Wangen hinunter.
»Verdammt!«, fluchte Momme. »Wieso nur? Ich fasse es nicht! Gerade ihm muss sowas passieren. Ich kann es nicht glauben. Vor einer Woche hatte er noch alles im Griff und große Pläne. Wir wollten in Emden noch eine Zweigniederlassung gründen. Und jetzt soll er tot sein?!«
Als sie auf der Station ankamen, empfing sie der Arzt von gestern: »Mein aufrichtiges Beileid. Wir haben alles getan, was wir tun konnten. Aber es hatten schon innere Blutungen eingesetzt. Durch die Schädigung der Leber kam es auch zu einer Störung bei der Blutgerinnung, wodurch ein Schließen der Wunden verhindert wurde. Dieser Prozess war einfach nicht mehr zu stoppen. Ein leider sehr typischer Verlauf bei bestimmten Pilzvergiftungen. Es tut mir wirklich sehr leid.« Nach einer kurzen Pause fragte der Mediziner: »Konnten Sie denn inzwischen herausfinden, wo Ihr Mann die Pilze zu sich genommen haben könnte?«
»Leider nein«, antwortete Momme anstelle seiner Mutter, die immer noch mit ihrer Fassung rang.
»Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass kein ähnlicher Fall in den umliegenden Kliniken registriert wurde«, sagte der Mediziner. »Wenn das der Fall gewesen wäre, dann hätte man wenigstens einen Anhaltspunkt gehabt. So ist nicht auszuschließen, dass Fremdverschulden vorliegt. Vielleicht hat Ihr Vater auch gar kein Pilzgericht gegessen und die Pilze waren beispielsweise nur der Soße zur Verfeinerung – quasi wie ein toxisches Gewürz – beigefügt worden.«
»Wie er meiner Mutter sagte, hätte er ein Krabbengericht bei seinem Kunden gegessen.«
»Es könnte durchaus sein, dass jemand auch ein solches Gericht zu einer Giftmahlzeit gemacht hat. Aus diesem Grund haben wir bereits die Polizeiinspektion Aurich und die Gerichtsmedizin in Oldenburg informiert, die die Ermittlungen aufnehmen und die rechtsmedizinischen Untersuchungen durchführen werden.«