Das Amulett der Fuggerin
Das Gold der Fugger
Der Teufelsvogel des Salomon Idler
Die Botschaft der Novizin
Die Brunnenmeisterin
Die Geliebte des Kaisers
Die Sterndeuterin
Die Tochter des Klosterschmieds
Fürstin der Bettler
Herrin der Schmuggler
Mir ist so federleicht ums Herz
Ein kühner Abenteurer, eine geheimnisvolle Frau und der Traum von Gold
Ulm 1529. Der junge Fuhrwerker Nicolaus Federmann erhält von einem Freund ein Amulett aus purem Gold. Stammt es aus der sagenumwobenen Goldstadt jenseits des Atlantik, von der die Legenden berichten? Als Nicolaus für seine Dienstherren in die Neue Welt reisen soll, um dort Bodenschätze zu erschließen, fasst er einen Entschluss: Er will die legendäre Stadt Eldorado finden! Zusammen mit der ebenso schönen wie geheimnisvollen Mayana macht er sich auf die abenteuerliche Reise …
eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.
Peter Dempf, geboren 1959 in Augsburg, studierte Germanistik, Sozialkunde und Geschichte für das Lehramt am Gymnasium. Der mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnete Autor schreibt neben Romanen und Sachbüchern auch Theaterstücke, Drehbücher, Rundfunkbeiträge und Erzählungen. Bekannt wurde er aber vor allem durch seine historischen Romane. Peter Dempf lebt und arbeitet in Augsburg, wo unter anderem seine Mittelalter-Romane »Die Brunnenmeisterin«, »Herrin der Schmuggler« und »Das Amulett der Fuggerin« angesiedelt sind.
Homepage des Autors: http://www.peter-dempf.de/.
PETER DEMPF
Der Traum
von
Eldorado
Historischer Roman
Digitale Neuausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2010 by Peter Dempf und Bastei Lübbe AG, Köln
Dieses Werk wurde vermittelt durch AVA international GmbH, München
www.ava-international.de
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Andrea Kalbe, Berlin
Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde
unter Verwendung eines Motivs von © Richard Jenkins
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-8698-1
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
»Gewinne nicht die Welt
und verliere deine Seele;
Weisheit ist besser
als Silber und Gold.«
Bob Marley, Zion Train
»Das Geheimnis ist der Liebling
der Geschichte.«
Oswald Levett, Verirrt in den Zeiten
Sie liebte niemanden, und sie hasste niemanden, aber sie würde jeden töten, der glaubte, sie besitzen zu können. Als eine Hand in ihren Bettkasten griff und sie nach draußen zerrte, biss Mayana, aus dem Schlaf gerissen, zu.
»Verflucht!«, polterte Joaquin. »Hör auf, um dich zu beißen! Du musst verschwinden!« Er zog sie mit einer Leichtigkeit aus dem Kasten, als wäre sie nur ein Heukissen, stellte sie auf die Beine und schob sie hinter die Tür des Abtritts. »Rühr dich nicht. Er ist es!«
Jetzt erst hörte sie das Krachen der rückwärtigen Tür zum Garten. Jemand brach sie auf und verschaffte sich so gewaltsam einen Zugang. Dann schloss der Bärtige die Tür, und sie saß im Dunkeln.
Joaquin fluchte leise. Sie lauschte auf die Geräusche draußen und wusste, dass er in sein Wams schlüpfte und sein Schwert umgürtete. Nur das Laden der Pistole gelang ihm nicht mehr. Gleichzeitig knarrten die Treppenstufen unter dem Gewicht eines Menschen. Der Eindringling kam die Treppe herauf. Auch er hatte bereits sein Schwert gezückt; Mayana hörte das leise Singen der sich biegenden Klinge. Auch Joaquin wusste vermutlich, dass der Einbrecher eine Waffe bei sich hatte.
Er hatte sie gefunden, obwohl sie beide um die halbe Welt geflohen waren.
Mayana war diesem Mann nicht freiwillig in dieses kalte und feuchte Land gefolgt. Sie hatte sich gesträubt, hatte um sich geschlagen und gebissen – und doch war sie mit dem Bärtigen in einer eiligen Zeremonie nach seinem Glauben verheiratet und gleich danach auf das Schiff gezerrt worden, das sie beide nach Westen in diese Kälte geführt hatte. Sie verfluchte Ulate, diesen Mönch, der sie an den Bärtigen verschenkt hatte. Sie verfluchte Joaquin, der sie mit Gewalt genommen hatte – aber sie hoffte, dorthin zurückkehren zu können, woher sie gekommen war, sobald sie nicht mehr gezwungen waren zu fliehen. Denn sie beide hatten ein Geheimnis mit an diesen finsteren Ort genommen, das sie in höchste Gefahr brachte. Joaquin hatte ihr den Sonnenstein abgenommen. Ihren Sonnenstein, den sie von Tayento erhalten hatte, damit er sie zurückführen sollte, ihre einzige Erinnerung an die Eltern, an die Heimat, an den Wald.
Sie hatte ihre Zeit der Flucht vor diesem gierigen spanischen Blutsauger aus Coro genutzt. Umgesehen hatte sie sich, die bleichen Menschen beobachtet, heimlich, ohne dass Joaquin es bemerkt hatte. Sie hatte sich die Bräuche abgeschaut und die Sprache Joaquins einigermaßen erlernt. Jedenfalls so, dass sie verstand, was die Menschen sagten. Letzteres war schwierig gewesen, denn ihre Sprache wechselte je nach dem Ort, an dem sie sich aufhielten, und zerfiel in ebenso viele Zungen wie in den Dörfern ihrer Heimat. Sie hatte zwar von Ulate, dem Mönch im Dschungel, das Spanische ein wenig gelernt, aber – immer mit dem Bärtigen mitreisend, der ihren Sonnenstein trug – so viel Land durchquert, wie kein Jäger ihrer Heimat jemals durchstreifen, und mehr Sprachen aufgeschnappt, als sie behalten konnte. Sieben ganze Monddurchgänge war ihre Reise nur immer weiter dem Sonnenaufgang entgegengegangen. Sieben Monddurchgänge lang hatte sie gefroren und gezittert, an Heimweh gelitten und geweint, war sie dem Bärtigen zu Willen gewesen. Doch es hatte auch gute Zeiten gegeben – es gab Momente, in denen sie lachen konnte, und sie lernte leicht und brauchte nur eine geringe Zeit, um zu verstehen.
Besonders gefährlich war es für sie jedoch geworden, wenn der Bärtige getrunken hatte, wenn er dieses scharf riechende Wasser hinuntergestürzt und dann lange wie taub für die Welt vor sich hin gestarrt hatte, um urplötzlich aufzustehen, wie wild um sich zu schlagen und schließlich – nach einem Anfall von Raserei – besinnungslos zu Boden zu stürzen und dort liegen zu bleiben. Während dieser Wahnzeiten verkroch sie sich unter Tisch und Bett, damit das wilde Tier in Joaquin sie nicht entdecken und aus ihrem Bau ziehen konnte. Wenn er dann dalag, elend, hilflos und beschmutzt, schleppte sie ihn ins Bett und legte sich neben ihn. Sie erzählte ihm von ihrer Heimat in der Hoffnung, ihm etwas von der Sehnsucht einzuträufeln, die sie befiel, wenn sie an die Wälder dort dachte. Das Einzige, was sie damit erreichte, war jedoch die Wiederkehr der Albträume, in denen er – verfolgt von dem spanischen Teufel persönlich – schrie, als würde dieser ihn bei lebendigem Leib häuten. Heiser erwachte er tags darauf immer, heiser, blass und voller Furcht. Danach waren sie meist weitergezogen.
Während all dieser Zeit betete sie für ihre Rückkehr. Inständig hoffte sie, der Gott ihrer Väter würde sie zurückrufen in das Land hinterm Horizont. Vergebens.
Sieben Monddurchgänge hindurch hatte sie gehofft – hatte in den Mond gestarrt, der rund und hell am Himmel stand – und war stattdessen mit dem Bärtigen immer weiter ins Land hineingeflohen.
Doch dann war in der letzten Nacht der weiße Streif einer Sternschnuppe über den nachtdunklen Himmel gerissen und hatte ihn für einen Wimpernschlag in zwei gleiche Hälften zerschnitten. Für Mayana war dies das Zeichen gewesen, dass ihre Flucht und ihre Ängste bald ein Ende finden würden. Es war die Antwort auf den Schmerz gewesen, der sie seit Langem zerriss. Wie der Himmel sich teilte, so teilte sich ihr Leben in das tatsächliche Leben hier in diesem Land und in die Erinnerung an ihr altes Leben jenseits des großen Wassers. Gleichzeitig war es eine Ankündigung gewesen, dass das Schicksal sich gegen sie beide wenden würde. Sie hätte Joaquin gern gewarnt – doch der hatte sich zwar täglich auf sie gelegt, aber nur wenige Worte mit ihr gewechselt; bis heute.
Und wie sich der Himmel hinter dem fallenden Stern wieder schließen und das Firmament sich auf beiden Seiten des Risses zu einem Ganzen zusammenfügen konnte, so, spürte sie, würde sich ihr eigenes Leben erneuern. Sie sah den Streifen der Sternschnuppe als Fingerzeig dafür, dass sie dorthin zurückkehren würde, woher sie gekommen war.
Mit einem Schlag sprang die Tür zum Schlafraum auf. Ein Schrei folgte, und dann trafen mit einem scharfen Klingen die Schwerter aufeinander und spielten eine tödliche Melodie.
Ein paarmal polterte ein Körper gegen die Tür zum Abtritt. Einmal wurde sogar die Tür aufgerissen, doch Mayana war längst schon in der Dunkelheit über das Gebälk hoch in den Boden hinaufgestiegen – und die Kammer für die Notdurft war leer.
»Gebt mir die Frau und die Karte!«, keuchte die Stimme, die Mayana nie würde vergessen können. »Die Frau und die Karte, und Ihr könnt leben!«
»Niemals«, erwiderte der Bärtige, und das Hacken der Klingen wurde lauter und heftiger.
Als der erste Sonnenstrahl sich über den Horizont schob, in die Spalte zwischen die Häuser stach und Mayanas Haar berührte, wusste sie, dass sich ihr Leben ändern würde. Sie würde zurückkehren.
Irgendwo unter ihr stöhnte Joaquin plötzlich tief. Ein Schwert polterte zu Boden, ein Körper wurde gegen die Fensterfüllung gestoßen.
»Karte und Gold, Joaquin«, zischte der Eindringling. »Und das Mädchen!«
»Du wirst nichts von alledem je bekommen. Niemals!« Der Bärtige lachte röchelnd, wie er lachte, wenn er betrunken war.
Geräuschlos ließ sich Mayana auf den Boden des Abtritts gleiten und spähte durch die Türöffnung. Der Fremde hatte Joaquin die Klinge durch die Lunge gestoßen und ihn so an der Fensterfüllung festgenagelt.
»Niemals!«, schrie der Bärtige noch einmal und kippte nach hinten. Mit einem hässlichen Knacken brach die Klinge, und der Körper stürzte auf die Straße hinunter.
Nicolaus Federmann folgte seiner Nase. Auf einer kleinen Brücke überquerte er die Blau und bog in die dahinterliegende Gasse ein. Der Geruch nach kaltem Flussfisch und der Jauche der Gerberbecken nahm ihm beinahe den Atem. Doch er wusste, dass die Nase diese Beleidigungen bald vergessen würde. Bereits in den frühen Morgenstunden, kaum, dass sich die Sonne über den Horizont gewagt hatte, herrschte ein geschäftiges Treiben in den Gassen. Und ein Lärm, der den eigenen Schritt unhörbar machte: Die Flussfischer riefen einander Warnungen zu, denn auf der Blau wurde es eng, wenn viele Boote gleichzeitig auf die Donau hinauswollten. Die Gesellen stampften die Tücher in gleichmäßigem Takt in den Färberkuhlen, die Gerber klatschten ihre nassen Felle auf die Tische und lösten Fleisch und Fettreste von den Häuten. Dabei unterhielten sie sich lautstark, lachten und riefen sich Scherze zu. Und die metallenen Reifen der ersten Karren, die durch den Morgendunst rumpelten, lärmten in den mit Flusskieseln übersäten Gassen.
Federmann trug einen kurzen Kittel und Hosen sowie geschnürte Schuhe. Auf ein Wams hatte er verzichtet. Der Himmel war wolkenlos – es stand ein heißer Tag bevor. Zwar fröstelte Federmann jetzt bei Sonnenaufgang ein wenig, während er durch die feuchten und dunklen Gassen an der Blau schritt, da sich hier die Kälte der Nacht länger hielt als in der Kaufleutestadt, doch schon bald würde sie einer drückenden Schwüle weichen.
Den Weg fand er, ohne sich groß orientieren zu müssen. Der Dekan des Münsters hatte ihm mitgeteilt, Joachim sei wieder in der Stadt, und er hatte sich sofort auf den Weg gemacht. Joachim! Sie hatten nebeneinander gewohnt, hatten zusammen mit Bertram, dem Dritten im Bunde, Kiesel auf die Flößer geworfen, die mit ihren langen Holzflößen auf der Donau an der Stadt vorüberzogen, und sich in der Blau getummelt, die Boote der Fischer losgemacht und sich von ihnen beschimpfen lassen wie Generationen von Bengeln vor ihnen. Joachim, der Kräftige, Grobschlächtige, der mit den Ellenbogen. Federmann blieb kurz stehen und betrachtete die Fachwerkbauten des Fischerviertels. Der Putz blätterte ab, die unteren Balken moderten, die Dächer waren undicht. In diesem Viertel hatten sie beide mit dem eher schlichten Bertram einen Traum geträumt, den Traum vom Reichtum. Dies hier war ihre Heimat gewesen. Die Blau, die Gerber und Fischer, die feuchten Gassenschluchten, die Armut der Männer und Frauen, die oft kaum etwas besaßen, das ihre Blöße bedeckte. Sie hatten ihnen einen Hunger eingepflanzt, den er noch heute verspürte. Wenn es günstige und weniger günstige Ausgangspunkte für einen Lebensweg gibt, so hatten sie drei den für ihren Traum ungünstigsten gewählt. Reich hatten sie werden wollen – und das hatte sie auseinandergetrieben. Joachim, Sohn eines Fischers, der Tatkräftigere und Abenteuerlustigere von ihnen, war bei Nacht und Nebel davongelaufen. Wie Federmann gehört hatte, war er zuerst nach Venedig gegangen, dann nach Genua und war schließlich als Steuermann in die Dienste der Spanier getreten, begleitet von Bertram, dem jüngsten Sohn des Netzflickers vom Nebenhaus. Die Väter hatten damals ihre beiden Söhne dafür verflucht, dass sie ihre Familien im Stich gelassen hatten.
Das war jetzt gut fünf Jahre her. Seither hatte er nichts mehr von seinen Jugendfreunden gehört.
Er selbst war brav in Ulm geblieben und in die Dienste der Familie Ehinger getreten. Das war keine schlechte Entscheidung gewesen, gehörten die Ehinger doch zu den reichen Ulmer Patriziern und Fernhandelskaufleuten mit bestem Leumund und weitreichenden Geschäftsverbindungen bis nach Spanien und Venedig. Er hatte etwas werden wollen in der Stadt, was für den Sohn eines Reusenbauers eigentlich eine Unmöglichkeit war.
Seinen Ehrgeiz hatte er allerdings auf eine Lüge gründen müssen. Nichts konnte er – und damit alles. Die Wirren um die Glaubensfrage eines Martinus Luther halfen ihm bei seinem bescheidenen Weg zum Reichtum: Die immer wieder aufflammenden Kriegshandlungen zwischen Katholiken und Protestanten spülten viel Gesindel auf die Straßen, ausgediente Landsknechte, verkrüppelte Soldaten, Heimatlose und Reisläufer aller Art. Transporte, vor allem die reichen der Patrizierfamilie Ehinger, die von Ulm aus nach Augsburg und in die andere Richtung nach Stuttgart und Straßburg hin unterwegs waren, mussten gesichert werden.
Federmann war jung, fürchtete nichts und niemanden und log dem Werber der Familie, Heinrich Ehinger, vor, längst Reiten gelernt zu haben. Nur ein Pferd fehle ihm. Er war erst sechzehn gewesen und hatte bekommen, was er verlangt hatte. Mit Armbrust und Schwert hatte er die Transporte des Handelsunternehmens begleiten dürfen. Beim ersten Male hatte er, während die Rottfuhrwerke schwerfällig und hoch aufgeschnürt über die Zugbrücke gerasselt waren, sein Pferd am Zügel aus dem Tor hinausgeführt, damit er seine Unkenntnis im Reiten nicht hatte offenbaren müssen. Die Ochsen, langsam und gemütlich in der Gangart, hatten ihm reichlich Gelegenheit gegeben, es bis Augsburg zu erlernen.
Er musste den Kopf schütteln, da er längst erfahren hatte, dass Träume Träume blieben und die Wahrheit um ein Vielfaches komplizierter war, als es sich der Sechzehnjährige von damals ausgemalt hatte. Denn außer dem Reiten hatte er auf dem Weg nach Augsburg noch gelernt, dass einem Reichtum nicht einfach so in den Schoß fiel.
Mit einer Handbewegung wischte Federmann sich die Gedanken aus dem Kopf. Er wollte Joachim sehen, mit ihm reden, ihn fragen, wie es ihm auf der Suche nach dem himmelstürmenden Reichtum ergangen war, den sie sich beide hatten erobern wollen – und was war mit Bertram geschehen? Der Dekan des Münsters hatte gestern noch bedeutungsschwer gesagt, die beiden Teufelskerle seien sogar in der Neuen Welt gewesen …
Federmann schaute eine Gasse hinunter, an deren Ende ein Haus in schrägem Winkel ins Blickfeld ragte. Es war Joachims Vaterhaus, dort würde er den Jugendfreund finden. Entschlossen schritt er vorwärts, immer darauf bedacht, dem Kot auf der Gasse auszuweichen und die Fenster über ihm zu kontrollieren, damit ihn nicht unverhofft ein Guss aus einem Nachttopf überraschte.
Der Schrei traf Federmann wie ein Keulenschlag und ließ ihn abrupt innehalten. Als Begleiter von Warentransporten waren ihm in den letzten Jahren solche Schreie vertraut geworden. Wieder ertönte ein Aufschrei, der diesmal in ein Gurgeln überging. Er versetzte ihn in Bewegung, ließ ihn auf das Haus zuspurten. Dann vernahm er ein Krachen und das dumpfe Aufschlagen eines Körpers. Jäh stoppte Federmann, stand keine drei Fuß entfernt, starr vor Schreck. Ein Mann war ihm mitten in der Gasse direkt vor die Füße gefallen. Mit einem Seufzer wich alle Luft aus dem Unglücklichen.
Der Mann war tödlich verletzt, daran bestand kein Zweifel. Aus seiner linken Brust ragte noch die abgebrochene Spitze eines Schwerts. Nicolaus Federmann sah nach oben. Der Kerl war aus einem Fenster des Hauses vor ihm gefallen. Ein Kopf erschien darin, geschmückt von einem Hut mit zwei weißen Straußenfedern und halblangen, beinahe schwarzen Haaren. Federmann selbst stand noch im Schatten des Nachbarhauses, von oben wohl nicht zu sehen.
Das Haus kannte er gut. Nur wenige Fachwerkbauten kragten so weit über, dass das zweite Stockwerk bis über die Gasse ragte. Keines stand so schräg in den Weg hinein. Federmann unterdrückte das Bedürfnis, einfach davonlaufen zu wollen. Stattdessen wartete er, bis der Kopf oben sich zurückgezogen hatte, und trat dann an den Mann heran. Er betrachtete dessen Antlitz. Die Gesichtszüge erschienen ihm vertraut. Wenn er sich die Barthaare wegdachte, dann glich das Gesicht …
»Joachim?«, flüsterte er, nachdem er das bärtige, aber hagere Gesicht lange gemustert hatte. Joachim besaß eine kleine Narbe am Nasenflügel, die ihn unverkennbar machte – und die hatte Federmann gerade entdeckt. »Joachim!«, schrie er auf und kniete sich neben seinem Jugendfreund nieder. Der stank gewaltig nach Schnaps.
In diesem Augenblick schlug der Mann die Augen auf. Federmann wusste nicht, ob Joachim ihn erkannte. Dennoch begann Joachim zu flüstern. Federmann musste sich mit dem Ohr dem Mund des Freundes nähern, damit er ihn verstehen konnte.
»Rot…locke! Such … das Mäd… Ma…nya…! Such …ertram«, flüsterte Joachim. »Nimm … es!«, sagte er noch und nestelte mit schwächer werdenden Bewegungen an seiner Brust herum. »Gold … Gold …«, hauchte Joachim, riss die Augen weit auf und starrte ihm ins Gesicht. »Gold … Karte!« Dann verstummte er. Doch mit einer Kraftanstrengung, die ihm die Augen aus dem Kopf trieb, brachte er noch ein Wort hervor: »U… Ulate!«
Federmann, verwirrt von dem, was er hörte, achtete nur oberflächlich auf die Worte des alten Freundes, der ihn Rotlocke genannt hatte wie in früheren Zeiten. Er verstand aber sehr wohl, dass er nach Bertram suchen sollte. »Ist Bertram wieder zurück in Ulm?«
Die Augenlider schlossen sich kurz. Dann öffneten sie sich wieder mühsam. Ohne die Miene zu verziehen, starrte Joachim Federmann an, sagte aber nichts.
»Wer war das?«, fragte Federmann und deutete auf die Schwertspitze. Unaufhaltsam quoll Blut aus der Wunde, die sie geöffnet hatte. »War das dieser … Ulate? Wer ist Ulate?«
Joachim schüttelte leicht den Kopf. »Vor…sicht!«, bildeten die Lippen das Wort – und Federmann hörte, worauf der Jugendfreund ihn aufmerksam machte. Er vernahm, wie im Inneren des Hauses jemand die Treppen hinablief und -sprang. Sicher war es der Fremde, dessen Kopf er im Fenster gesehen hatte. Federmann richtete sich auf. Dem Freund konnte er ohnehin nicht mehr helfen. Dessen Augen brachen, und sein Kopf rutschte haltlos beiseite. Die linke Hand glitt zurück und gab einen platten, narbigen Stein frei, der flach und so groß war wie seine Handinnenfläche und an einem starken Lederband hing. Er glänzte in reinem Gold. Im ersten Moment zuckte Federmann zurück, dann handelte er rasch und zielsicher. Er nahm den erstaunlich schweren und soliden Stein und zog das Lederband über Joachims Kopf. Dann hängte er ihn sich um und steckte ihn sich unters Hemd.
Federmann erhob sich. Der Kerl im Haus musste jeden Moment aus der Tür stürmen. Ihm wollte er nicht begegnen. Jetzt zahlte es sich aus, dass er hier aufgewachsen war. Er wusste sofort, wohin er sich wenden, wo er sich verstecken konnte. Mit einem Satz war er auf, lief nach schräg gegenüber, riss ein Gatter zwischen zwei Häusern auf und war schon in der Lücke zwischen den beiden Gebäuden verschwunden. Aus Kinderzeiten hatte er den Spalt zwischen den beiden Häusern breiter in Erinnerung und musste sich jetzt mühsam halb schräg hineinzwängen, doch er schaffte es gerade noch rechtzeitig, das Gatter hinter sich zu schließen.
Er hörte einen Kerl aus der Tür stürmen und auf Joachim zueilen. Die Enge in der Lücke hinderte ihn daran, sich ganz umzudrehen und nach draußen zu schauen. Er wandte dem Geschehen die Seite zu, sodass er oft nur hören konnte, was geschah. Er vernahm, wie der Kerl mit fliegenden Händen die Taschen des Toten durchsuchte. Er hörte das Hemd reißen, als der Mann Joachims Hals abtastete, und er vernahm sein fremdartig bellendes Fluchen – der Mann war offensichtlich Spanier.
Offenbar suchte er den Goldbatzen, den Federmann unterm Hemd stecken hatte.
Als er das Klirren einer Klinge hörte, vermutete er, dass der Unbekannte das Schwert in der Hand hielt, mit dem er den Freund erstochen hatte.
Die Untersuchung des Leichnams brachte ihm offensichtlich nicht den gewünschten Erfolg. Verwünschungen ausstoßend erhob sich der Fremde und schien sich umzusehen. Er rannte in der engen Gasse hin und her, und Federmann vernahm zu seinem Entsetzen, wie der Kerl entschlossen an den Gattern der Zwischenräume zwischen den Häusern rüttelte und, wenn diese sich nicht öffnen ließen, das Schwert in die Lücken zwischen den Latten stieß. Einmal konnte er aus dem Augenwinkel durch eine Lücke im Gatter den breitkrempigen Hut mit den zwei weißen Federn ausmachen. So wirbelte der Mann von einer Straßenseite auf die andere und rumorte mit seinem Schwert, immer begleitet von fremdländischen Flüchen, die er hart und heftig hervorstieß. Federmann zog sich vorsichtig noch einen Schritt zurück, durfte jedoch die Gattertür nicht aus der Hand geben, was äußerst schwierig war, da er sich dabei sehr verrenken musste. Doch wenn der Fremde daran rüttelte und die Tür sich nach außen aufziehen ließ, war er verloren. Er selbst trug außer einem Messer keine Waffe. Niemand durfte in der Stadt eine Waffe offen tragen.
Plötzlich wurde heftig am Gatter gerüttelt, dann stieß das Schwert durch eine der Lücken zwischen den Latten und stoppte um Haaresbreite vor Federmanns Gesicht. Vor Schreck hätte er beinahe das Gatter losgelassen. Wäre die Spitze nicht abgebrochen gewesen, hätte sie ihm das rechte Auge durchbohrt. Das Unglück des Freundes bewahrte ihn vor dem Tod.
Im ersten Stock im Haus nebenan öffnete sich ein Fenster.
»He, was ist dort unten los?«, hörte Federmann eine tiefe Männerstimme rufen. Dann ergoss sich der Inhalt eines Nachttopfs über den Angreifer.
Das Schwert wurde zurückgezogen, der Fremde knurrte noch etwas, stieß einen endlosen Fluch aus und hastete davon. Die Stimme über ihnen hatte den Fremden vertrieben. Federmann erhaschte noch einmal einen Blick auf die langen, dunklen Haare, die lockig und wirr unter dem breitkrempigen Hut hervorbrachen, und auf ein leinenes, farbiges Wams. Dann war der Unbekannte verschwunden. Er selbst blieb noch eine ganze Zeit in seinem Versteck. Erst jetzt bemerkte er, wie durchgeschwitzt er war.
Doch die Gefahr war noch nicht vorüber. Wenn sich der Mann über ihm aus dem Fenster beugte, würde er unweigerlich Joachims Leiche entdecken. Dann würde es Zeter und Mordio geben, und die Stadtschergen würden auftauchen. Ihnen in die Hände zu fallen, auch wenn man unschuldig war, sollte man tunlichst vermeiden.
Er hatte keine Zeit, sich den schweren, metallenen Stein zu betrachten, der an seinem Hals hing und die Brust kühlte. Er musste hier weg – und gleichzeitig hielten ihn die Worte Joachims zurück, die in seinem Kopf nachklangen. »Gold!«, hatte der Jugendfreund geflüstert. »Gold, Gold, Gold.«
Wie das Klopfen der Ulmer Steinmetze, die seit Jahrhunderten am Dom bauten, hallten die Worte in ihm nach: »Gold, Gold, Gold.« Federmann biss sich auf die Lippen. Hatte Joachim etwas von diesem unbeschreiblichen Reichtum gefunden, von dem sie in ihrer Jugend geträumt hatten? Offensichtlich. Der flache Stein zeugte eindeutig davon. Joachim hatte den größten Golf überquert, von dem die Menschen je gehört hatten – und hatte offenbar Gold gefunden.
Und jetzt war der Freund tot. Erstochen. Folglich würde es niemanden stören, wenn er sich in dessen Haus einmal umsah. Der Fremde hatte sich nicht ins Haus zurückgezogen. Sicherlich fürchtete auch er die Schergen.
Mühsam drehte sich Federmann in der Lücke um und spähte durch einen Spalt im Gatter hinaus. Der Fremde war tatsächlich nicht mehr zu sehen, und der Fischer über ihm im Haus hatte den Leichnam entweder nicht gesehen oder ignoriert. Jedenfalls hatte er den Lederrahmen wieder vor die Fensteröffnung gezogen. Federmann drückte das Gatter auf und schlüpfte ins Freie. Seine Schuhe waren mit dem Kot besudelt, der sich im feuchten Zwischenraum zwischen den Häusern sammelte. Er streifte sie an einer Grassode ab und beobachtete dabei unauffällig die Gasse. Seine Hose hatte sich am Saum mit übelriechender Feuchtigkeit vollgesogen. Niemand war zu sehen. Langsam, als ginge ihn die Leiche und das Geschehen nichts an, schlenderte er über die Gasse. Dabei lugte er zum Fenster im zweiten Stock hinauf, aus dem Joachim gefallen war.
Er glaubte kurz, dort oben eine Bewegung auszumachen, und schielte aus den Augenwinkeln hinauf. Doch nichts rührte sich. Womöglich hatte er sich geirrt. Wenn sich im Haus des Freundes noch jemand aufhielt, würde er das bald erfahren, denn sein Entschluss stand fest, als er die Leiche Joachims passierte. Er musste hinein und nachsehen.
Mayana duckte sich unter dem Geschrei und versuchte, mit dem Holz des Oberbodens zu verschmelzen. Dann verstummte kurzzeitig alles und machte einem Poltern Platz. Sie zog den Kopf ein. Diese lauten und lärmenden Menschen würde sie niemals verstehen oder ertragen können. In ihrer Welt bedeutete Stille Leben und Lärm Tod. Nur wer sich geräuschlos durch den Dschungel zu bewegen vermochte, würde das Ende seiner Reise erleben. Tayento, ihr Vater und zugleich der Schamane ihres Dorfs, hatte sie das gelehrt. Mit leiser Stimme hatte er den Dorfbewohnern von den Ohren der Dunkelheit erzählt, die trotz ihrer Eindringlichkeit leiser war, als die Hellgesichtigen atmen konnten.
Mayana kroch aus ihrem Versteck. Sie musste den Sonnenstein finden, bevor der Fremde ihn in die Hände bekam. Nichts anderes trieb den Kerl an, als in den Besitz der Sonnensteine zu gelangen. Seit sie das Schiff in Sanlúcar verlassen hatten, war er hinter ihnen her gewesen. Und Mayana wusste, dass nur diese gelben Kiesel ihr die Rückkehr nach Westen über den großen See ermöglichen konnten.
Sie kletterte zurück in den Abort, öffnete vorsichtig die Tür, huschte in den Wohnraum und spähte vorsichtig aus dem Fenster. Dort draußen lag Joaquins Körper mitten auf der Gasse – der Bärtige war tot. Wams und Hemd hatte ihm der Fremde aufgerissen, die Brust lag frei. Sie war durch einen breiten Riss gespalten, aus dem noch immer Blut quoll. Seine Augen starrten leer gen Himmel. Das Schlimmste war jedoch, dass das Geschenk ihres Vaters fehlte. Er hatte es immer mit einem Lederriemen um den Hals getragen. Der Fremde musste es ihm abgenommen haben!
Sie konnte sich nicht rühren, musste immerfort auf den Leichnam des Bärtigen starren. Hatte er den Sonnenstein vielleicht weggelegt, als der Fremde aufgetaucht war? Hatte er ihn versteckt?
Nur langsam gelang es ihr, wieder Herrin über ihren Körper zu werden, die Gliedmaßen wieder zu bewegen. Plötzlich behinderten sie die Kleider, die sie trug. Sie musste handeln, musste sich bewegen – und war doch in dieses Stoffkorsett gezwängt. Am liebsten hätte sie sich Rock und Hemd vom Leib gerissen, nur um schneller durchs Haus eilen zu können, doch sie wusste nur zu gut, wie die Menschen hier auf Nacktheit reagierten.
Sie musste die restlichen Goldkörner finden. Das schmale Ledersäckchen, das sie für den Bärtigen bis hierher geschmuggelt hatte. Sie sah sich im Zimmer um. Der erste Stock interessierte sie nicht, denn sie wusste, dass sich Joaquin aus Angst vor nächtlichen Besuchern in den zweiten Stock geflüchtet hatte. Die Sonnensteine mussten also irgendwo hier im Raum liegen. Auf nackten Sohlen hastete Mayana durchs Zimmer. Der Raum war kahl. Nur ein Bett, ein einsamer Stuhl und eine Seemannskiste beherbergte der Schlafraum des Bärtigen. Sein Schwert lag so, wie er es eben verloren hatte, in der Ecke. Das Fenster stand offen. Blutflecken, der geöffnete Truhendeckel und das völlig zerrissene Pergament, mit dem der Fensterladen verschlossen gewesen war, erzählten ihr von dem Geschehen, das sie hatte mitanhören müssen.
Nach dem Kampf hatte der Fremde offensichtlich hektisch das Zimmer durchsucht, dabei die Truhe geöffnet, aber nichts gefunden. Der Bärtige hatte das Geschenk offenbar um den Hals getragen und mit nach unten genommen. Die restlichen Sonnensteine lagen – Mayana bückte sich, langte unter die Truhe und tastete deren Boden ab – gut verborgen nicht in, sondern unter der Holzkiste. Sie holte das etwas über daumenlange und ebenso starke Lederetui darunter hervor und atmete tief durch. Damit würde sie in ihre Welt zurückkehren können. Sie hockte sich kurz hin und verbarg das Etui dort, wo nur Frauen es verstecken konnten und niemand es suchen würde.
»Das Geschenk liegt im Schmutz!«, war ihr nächster Gedanke. Vielleicht hatte Joaquin den Sonnenstein verloren, und sie musste ihn nur suchen. Sie drehte sich um und betrat die Treppe. Der große Sonnenstein rief sie unerbittlich nach unten. Sie hatte die erste Hälfte zurückgelegt, als die Tür zur Diele geöffnet wurde. Sofort hielt sie inne. War der Fremde zurückgekommen? Die Tür schloss sich wieder, und Mayana traute sich keinen einzigen Schritt mehr vorwärts oder rückwärts zu tun. Die Stufen würden knarren und sie verraten. So verharrte sie mitten auf der Treppe und hoffte, der Fremde würde sich wieder entfernen. Eine ganze Zeit blieb es unten ruhig, und ihre Hoffnung nährte sich von der Stille. Nur ihr flacher Atem füllte den Raum im Treppenaufgang.
Dann hörte sie Schritte. Jemand betrat die Treppe. Es knackte und knarzte.
Wäre sie im Dschungel gewesen, hätte sie lautlos verschwinden können, so lautlos wie Tayento, der Schamane, oder ihr Tier, der Jaguar. Es wären ihre Gesetze gewesen, nach denen sie sich hätte richten müssen, ihre Welt, in die sie sich hätte einpassen können, als würde sie mit ihr verschmelzen. So war sie den Gesetzen dieser Welt ausgeliefert. Hier tappte sie unbeholfen durch den Tag.
Schon nach dem ersten zaghaften Schritt wusste sie um ihren Fehler. Der Fremde auf der Treppe hatte sie gehört, war stehen geblieben und lauschte jetzt dem Rascheln ihres Kleides. Barfuß huschte sie die Treppe hinauf und in den Schlafraum zurück. Die Seemannskiste stand noch offen. Sie stieg hinein, zog den Deckel auf sich herab und schloss ihn sanft. Ihr war, als würde sie von einer Welt in eine andere gleiten. Das Helle verschwand und machte einer dunklen Stille Platz, die sie nur vom Meer kannte. In den Nächten, in denen das Schiff über die sanfte See hinweggeglitten war, hatte diese dunkle Stille Besitz von ihr ergriffen und sie getragen. Sie war unter dem Dach der Sterne dahingeflogen wie die lautlosen Adler ihrer Heimat und hatte manchmal das Gefühl nicht niederkämpfen können, mit der Luft und dem Wasser und den Sternen eins sein und sich in ihnen auflösen zu wollen.
Das Schlagen der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Der Fremde betrat den Raum. Sie hörte ihn hin und her gehen, horchte auf die Laute, die er von sich gab. Männer hatten die Eigenschaft, ihre Gefühle durch Schnauben und Schniefen und Atmen auszudrücken. Sie hörte Unmut aus dem Geblase heraus. Der Fremde war verärgert, weil er den Verursacher des Raschelns nicht entdecken konnte. Mayana horchte auf die Schritte, die sich wieder entfernten, den Raum verließen – und plötzlich an der Schwelle innehielten. Mit einem scharfen Knirschen drehte sich der Mann um.
Erst jetzt erkannte sie, welch entscheidenden Fehler sie gemacht hatte. Die Truhe hatte offen gestanden. Der Fremde hatte sie beim Durchsuchen vermutlich geöffnet. Jetzt war sie verschlossen – und die einzige Erklärung dafür würde für den Fremden sein, dass jemand diese Truhe geschlossen haben musste. Mayana kauerte sich zusammen. Sie dachte an das Schwert, dessen Spitze sie eben noch aus Joaquins Brust hatte ragen sehen. Sie stellte sich vor, wie dieses Schwert sich durch die schmale Öffnung bohren würde, die zwischen Deckel und Truhe entstand. Sie erwartete einen brennenden Schmerz – sie erwartete ihren Tod. Mit zitternden Lippen begann sie leise zu beten, flehte die Sonnenscheibe an, sie zu retten, den Mann zu verscheuchen.
In diesem Augenblick flog der Deckel der Seemannskiste auf, und Mayana entfuhr ein schriller Schrei, als sich ein dunkler Schatten über sie beugte. Sie duckte sich, kauerte sich zusammen wie ein Bündel und wartete auf den Tod.