Galsan Tschinag
„OHNE DIE TAT IST ALLES NUR GEPLAPPER … “ HÄUPTLING, SCHAMANE, DICHTER UND WANDERER ZWISCHEN DEN WELTEN
im Gedankenspiel mit Andreas Burhorn. Mongolei, Mai bis Juni 2013
© Aurum in Kamphausen Media GmbH, Bielefeld
Autoren: Andreas Burhorn + Galsan Tschinag
Fotografie: Andreas Burhorn, Annegrat Ansah (S. 38, S. 39, S. 132), Arnd Pickhardt
Interviews: Andreas Burhorn
Lektorat: Hartmut Angermann, Evelyn Seidel
Layout: Kerstin Fiebig (ad-department.de)
Gesamtherstellung: Westermann Druck Zwickau
2. überarbeitete Auflage 2017
www.kamphausen.media | info@kamphausen.media
eISBN 978-3-95883-308-1
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Vorwort
Meine Wurzeln
Nomaden
Mongolei
Vaters und Mutters Segen
Meine Vorbilder
Visionen
Projekt: „Karawane“
BaumWesenSeelen
Seelenschmerz
Projekt : „Mongolei begrünen“
Projekt: „Regen bringen“
Vision ist Begeisterung
Vision braucht Kraft
Visionen kosten Geld
Galsan Stiftung
Gier
Häuptling sein
Berufsverbot
Mut und Demut
Eigensinn
Wahrheit
Liebe
Humor
Schamane
Pürwü – meine Schamanin
Den Felsen ansingen
Heilen
Vater im Himmel
Ekel überwinden
Angst überwinden
Scheitern
Planetenretter
Schreiben
Bilder
Zweifel
Spiel
Nicht gefallen müssen
Selbstbewusstsein
… eigentliche Initiation
Spinnerei
Sich wandeln
Alt werden
Spätjugend
Lernen
Glück
All in Einem
Noch drei Geschichten
Der Kinderschamane
Das eigene Pferd schlachten
Dolle Kerle
Im Herzen dieses Buches dreht sich vieles um den Mut:
den Mut – unverschämte Visionen zu entwickeln
den Mut – große Ideen in die Tat umzusetzen
den Mut – für eine bessere Welt zu kämpfen
den Mut – Menschen zu berühren
den Mut – sich selbst ins Auge zu schauen
den Mut – sich anderen zu offenbaren
den Mut – bei allen Erfolgen demütig zu bleiben
Galsan Tschinag ist für mich ein mutiger Mensch – ein Mensch, der mich von unserer ersten Begegnung an mit der Vielfalt seiner Facetten und Rollen, mit seiner Art im Leben unterwegs zu sein, begeistert hat.
Aus dieser ersten Begegnung erwuchs eine Freundschaft – und daraus jene Einladung, die mich in die Mongolei geführt hat. Dort hatten Galsan Tschinag und ich fast drei Wochen Zeit, miteinander Gespräche zu führen. Gespräche und Reflexionen, die sich oft der von mir vorgedachten Dramaturgie entwunden haben: „Andreas vergiss Deinen Regieplan, der macht Dich nur zum Knecht –sei einfach situativ und aufmerksam mit deiner Kamera dabei!“
Dieses Buch ist ein „Hörbuch“ im wahrsten Sinne des Wortes geworden. Durch die vorher nicht abgesprochenen Interviewfragen sind alle Texte O-Töne – durch die redaktionelle Nachbearbeitung nur ganz sanft „geglättet“. Es ist bewusst auch ein „Bilder-Buch“ geworden, weil für uns beide Bilder Unaussprechliches darstellen können und eine eigene Kraft und Aussage ausstrahlen und das Herz ansprechen – wo die Sprache allein nicht hinreicht.
Mongolei, Mai bis Juni 2013
»DU MONGOLIDER GERMANE UND ICH GERMANOIDER MONGOLE!«
Nicht zuletzt ist dieses Buch ein „Spiegel“. Es spiegelt uns „Westlern“ – im Kontrast zur Lebenswelt der Nomaden – unsere Form des „In-der-Welt-Seins“, unseren Kulturrahmen wider: Das, was wir gewonnen und verloren haben. Es macht uns nachdenklich über das scheinbar „Selbstverständliche“. Mit diesem Spiegel eröffnet uns Galsan Tschinag mehr Achtsamkeit und neue Möglichkeiten, das eigene Leben reicher zu machen: mit Liebe, Respekt, Mut, Achtsamkeit und Humor.
Ich danke Dir dafür – lieber Galsan! Ganz viel Spaß bei Ihrer Bilder- und Leseentdeckungsreise wünscht Ihnen
Mein Vater war Häuptling einer Sippe. Also Sippenhäuptling. War Dschingis Khans Vater auch. Häuptling, das ist der weltliche Führer einer Großfamilie. Dann hatten wir in der eigenen Sippe auch eine Schamanin, das muss sogar die ruhmreichste in den Gefilden zu der Zeit gewesen sein.
Das ahnten wir schon damals, wussten, sie war bei vielen gefürchtet und verehrt von fast allen. Wer, aus welchem Grund auch, von auswärts zu unserem Ail kam, konnte vor ihr, unserer Schamanin, schnell klein werden. Selbst große, erwachsene Männer bekamen im Gespräch mit ihr tiefernste Gesichter und leise, ja oft zittrige Stimmen. Und dann noch etwas vom Belang: Mein Vater war von Herkunft her reich. Seine Vorfahren waren es alle. Also gehörten hier drei Dinge zusammen: Häuptling, Schamanin, Reichtum. Doch was heißt da reich sein? Es ist gar nicht viel mehr als das, dass seine Vorfahren etwas mehr Tiere besaßen, also deutlich größere Herden als die anderen Familien hatten. Aber dennoch, in der sonst so ebenen Lebenssteppe des Nomadentums bildeten wohl diese zusammengefallenen drei Dinge schon eine Anhöhe, auf der unsereiner sicher und sichtbar zu stehen vermochte. Ich wurde in das Häuptlingstum, das Schamanentum und den Reichtum hineingeboren, und das waren mir wohl so kleine Starthilfen. Ja, das habe ich recht früh zu spüren bekommen. Und das muss mir von Anfang an eine gewisse Handlungsfreiheit verliehen haben. Zumindest halte ich es für den Grund, weshalb ich so früh habe anfangen können, zuerst auf die gewöhnliche und später auf eine ungewöhnliche Art und Weise wieder und weiter zu schamanen, das heißt zu dichten.
OHNEHIN MÖCHTE ICH IN DER REICHWEITE MEINER NABELSCHNUR BLEIBEN, WO ICH EINST HINGEFALLEN BIN.
Ich müsste doch zunächst ein ganz gewöhnliches Wesen gewesen sein, ein hilflos schwaches Kind. Dabei sehe ich mich genötigt, zu Protokoll zu geben, dass ich von den vier Kindern, die meine Mutter zuletzt geboren hat, als Einziges habe überleben dürfen. Und wie jedes andere Kindswesen werde ich wohl dann auf Schritt und Tritt gesehen und gespürt haben, wem ich da gegenüberstand: einer gewaltigen Natur und vielen Geschöpfen, die, verglichen mit mir, alle mächtiger waren. Ja, alle waren stärker, selbst die vor kurzem auf der Welt erschienenen Lämmchen erwiesen sich mir gegenüber als kräftiger, schneller und robuster.
Die Zivilisierten reden, wenn sie es gut mit uns meinen, von Naturkindern, die wir seien. Ich weiß und weiß es nicht, wie weit wir es sind. Denn auch wir sind längst beeinflusst von diesem und jenem, im Unterschied zu den Lämmern und Kälbern. Und selbst da muss ich einschränken, heutige Lämmer und Kälber sind nicht ganz zu vergleichen mit denen aus Zeiten der Vorfahren. Denn ich habe während meines Erdendaseins beobachten können, der Zeitstrom bearbeitet nicht uns, das Menschenvolk, einzig, sondern alles, alles – so auch die Völker von Schafen und Yaks, so deren Nachkommen.
Doch, was soll‘s, ich stelle mich auch den Erwartungen und Behauptungen anderer Leute geduldig hin. Ich kann schon mit dem leben, was sie mir zuteilen. Wobei das, was uns in dem Falle zufällt, nichts weiter als eine edle Rolle ist.
Ohnehin möchte ich in der Reichweite meiner Nabelschnur bleiben, wo ich einst hingefallen bin. Dort liegen meine Wurzeln. Und ohne die würde ich schnell einem abgebrochenen und vertrockneten Ast gleichen. Und ich bin eigentlich immer bei den Wurzeln geblieben. Also, ich lebe gerne in der Welt, die mich von Anfang an umgeben hat. Auch, wenn ich seit langem hier in der mild beheizten Stube zu hocken und vor einem PC zu schwitzen pflege, sind meine Gedanken dauernd in der kargen, kahlen, kalten Höhensteppe des Altai.
SCHÖNHEIT IST GABE, ERFOLG IST WILLE. Nomade ist, wie manche Städter von uns denken mögen, nicht der Name irgendeines vor Schmutz starrenden Dürftigen, eines beliebigen schreib- und leseunkundigen, Fett und Fleisch fressenden, Milch und Schnaps saufenden Primitiven. Kein Simpler schlechthin. Gewiss gibt es auch unter den Nomaden nicht besonders Intelligente. Aber gerade in den Unscheinbaren steckt sehr oft eine verblüffend scharfe Intelligenz. Im Deutschen heißt es doch Bauernschläue. So können Nomaden oft erstaunlich schlau sein. Nomade sein heißt vor allem Standhaftigkeit und bei den Wurzeln bleiben. Die Hellsicht, den Wert des Ursprünglichen zu erkennen und den Weg zum tieferen Sinn des Daseins einzuschlagen. Der Mut, das Wahre zu vertreten und nach der Weisheit zu suchen.
Der Nomade ist das Kind, der Freund und der Hüter der Natur. So weiß er, mit ihr zusammen in die eigene Höhe, Breite und Tiefe gleichzeitig zu wachsen. Nicht allein Buddha ist erleuchtet worden. Nicht nur sind Mahatma Gandhi, Albert Schweitzer und andere groß gewesen. Zu großen Menschen mit göttlichen Zügen haben sich viele entfaltet. Und zu diesen gehören unbedingt unzählig viele Nomaden. Warum? Weil sie einfach richtig gelebt und so den Gipfel des menschlich Möglichen erreicht haben. Der Schöpfer erschafft uns eigentlich von Anfang an vollkommen. Wer nicht von der vorgezeichneten Bahn abspringt, hat jeden Grund, ein menschlich würdevolles Leben zu führen. Will man die nomadische Lebensphilosophie kennenlernen, hält man sich am besten an die Sprichwörter. Eines davon lautet: Schönheit ist Gabe, Erfolg ist Wille.
Wer etwas wirklich will, kann Schritt um Schritt wachsen. Wenn auch die Erleuchtung, die der Buddhist anstrebt, nicht für jedermann erreichbar ist, so können einige, die wir als winzige, schleimige Krümelchen die Menschengestalt annehmen, die dann als kleine, unscheinbare Klümpchen im Lebensfluss schwimmen, eines Tages sichtbar für alle auf einem Hügel stehen. Und manch einer, der sich ans Ziel besonders wacker gehalten hat, ragt am Ende aus der Menschenmenge heraus gleich einem Berg. Darum reden wir vom Menschenberg. Wie ein Kalb in einem Tiergehege ein Rind ist, bleibe ich innerhalb jeder Menschenmasse ein Nomade. Nun, wie ist dieser Nomade? Er ist sparsam. Er ist genügsam. Er ist strebsam.
Das ist er immer, wenn es um ihn selbst geht. Die Jurte ist kein zum Bersten gefüllter Speicher. Doch kommt es hin und wieder vor, dass sie doch recht voll steht von manchen Mengen Fleisch und manchen Kübeln mit Kumys und Schnaps. Auch da weiß der Nomade, dass er mit all dem sparsam zu verfahren hat. Er ist gehorsam. Er ist behutsam. Er ist lenksam. Und das alles ist er dort, wo er sich einer Übermacht wie dem Himmel, dem Staat, dem Fluss Homdu gegenübersieht. Sich seiner Grenzen bewusst und Maß haltend.
Auch in der Stadt hier, wo ich mich eines bescheidenen Wohlstands erfreuen darf, erlaube ich mir weiterhin nur zwei Mahlzeiten am Tag: einen Morgentee mit etwas Gebäck und ein warmes Fleischgericht, wie Nudeleintopf, am frühen Nachmittag. Manchmal meldet sich gegen Abend eine kleine Lust, etwas zu knabbern, doch ich negiere sie mit einem kleinen Lächeln nieder und erinnere mich schnell an die Worte des Dshirik Gulak: Gelingt es dir, dich selbst zu besiegen, dann bleibst du unbesiegbar. Dshirik Gulak, das war ein großer Weiser, der aus unserem Volk hervorging, ein wahrer Menschenberg. Es hat geheißen, er sei gestorben. Und das war vor gut vierzig Jahren. Aber ich selbst sah es nicht. Und mir ist, er hat in mir Wohnung bezogen. Denn sooft ich Rat brauche, höre ich seine unverwechselbare Stimme.
EIN MENSCHENBERG IST EIN ERLEUCHTETER, UND SO HATTEN SIE IMMER DIE VORAUSSETZUNG, WACH UND FLINK ZU BLEIBEN, IN DER LAGE, GUT ZU ARBEITEN UND BEI GEFAHR SICH ZU ERHALTEN.
gelandet bei seiner möglichen Höchstleistung. Er kennt weder Angst noch Bitternis. Hat einen sonnenhellen Geist, ein milchweiches Gemüt und eine atemwarme Seele. Auch wenn er winterlich kalte Hände und Füße haben sollte, um sein inneres Wesen weht ständig eine sommerlich warme Brise. So einen Menschen soll und kann man nicht beleidigen, nicht kränken. Wenn ein Blöder über ihn Ungutes redet, tut der Gemeinte nichts eiliger, als ihm es schon zu verzeihen. Denn die Gabe zu verzeihen, gehört zu allen großen Wesen. So sind große Sieger schnell bereit zu verzeihen, aber nur kleine, dumme, giftige Wesen freuen sich, wenn sie einen unterm Knie spüren. So und ähnlich pflegen wir unsere Gedanken durch den Lebensalltag zu wälzen. Also ist der Nomade ein ewiger Schüler der Fachrichtung Philosophie an einer Universität, die Universum heißt, die Schöpfung heißt und die Dasein heißt. Und so denke ich, wenn es unter Sonne und Mond und den unzähligen Gestirnen immer noch im 21. Jahrhundert glückliche Menschen geben sollte, darunter sind unbedingt ein paar Steppennomaden.
Nomaden sind im Besitz vieler guter Eigenschaften – gewiss auch einiger hässlicher. Sie sind von ihrer Natur aus kindisch neugierig, was eigentlich etwas Positives ist.
Aber dies führt sie manchmal auch zu Verderblichem. So ahmen sie heutzutage vieles blindlings nach, was die Städter tun. Das vor allem in der Küche. Sie essen neuerdings zu viel, stopfen sich voll wie noch nie. Denn wir Nomaden haben von Jahrhundert zu Jahrhundert mit höchstens zwei Mahlzeiten gelebt, manchmal mit einer Mahlzeit, manchmal auch nur alle zwei, drei Tage. Aber keiner war deswegen verhungert. Und dafür sind sie gesund geblieben, schlank, sehnig und flink. Und so hatten sie immer die Voraussetzung, wach und flink zu bleiben, in der Lage, gut zu arbeiten und bei Gefahr sich zu erhalten.
ABER HEUTE: DIE ESSEN, ESSEN, ESSEN. SÜSSES ZEUG, UNGESUND, BILLIGFUTTER AUS CHINA, JUNK.
Und die trinken. Also wenn die einmal angefangen haben zu trinken, dann trinken die so lange, bis sie unten liegen, bewusstlos, völlig bewusstlos, ausgeschaltet, atmend, kotzende Fleischklumpen. Und dann das auch noch: Schaut man auf die rechte Türseite der Jurte, da sieht man ein Handtuch hängen, offensichtlich seit Tagen, Monaten nicht gewaschen. Die sehen so verdreckt aus und oft auch zerfranst. Wobei ein Handtuch nur einen Bruchteil von dem gesoffenen Wodka, dem gefressenen Fleisch kostet.
Über die Geschichte jedes Landes, so auch der Mongolei, lässt sich alles Mögliche sagen. Was genau das ist, hängt davon ab, wer da spricht und zu welchem Ziel er es tut. Also, über unser altes, geschichtsträchtiges Land ist in den letzten Jahren so viel Beifälliges wie auch Aussetzendes gesagt und geschrieben worden. Wobei das Erstere die dschingisisch blauen sieben Jahrhunderte und das Letztere die revolutionär roten sieben Jahrzehnte betrifft. Und jede dieser Behauptungen war auf eine Art einseitig. So kann das, was ich nun von mir geben werde, auch nicht ganz frei von jener Befangenheit sein, aber ich werde gleich auch den Grund nennen, wieso ich solches tun will:
In der letzten Zeit ist die rohe Gewalt, die Seele unserer früheren Geschichte, so sehr verherrlicht worden, und nun möchte ich dagegen den Geist stellen. Vom Winkel des Geistes also war die bevölkerungsarme, materiell schwache Mongolei im Begriff, zu einer Wohnstätte des Wissens zu werden. Jeder hatte zu lernen, zu lernen und nochmals zu lernen, wie der Revolutionsführer Lenin es uns ans Herz gelegt hatte. Und dafür musste man viel lesen. So war man leselustig, lesehungrig, lesewütig. Das war unsere Wirklichkeit vor 20 Jahren. Und davon ist immer noch etwas geblieben.
Ja, so manche älteren Menschen, darunter auch einfache Nomaden, haben in sich mehr Wissen gespeichert als Hochschulprofessoren, Philosophen an manchen anderen Ecken des Planeten. Wieso treten denn die Nomaden, diese einfachen Jäger, Schäfer, Wächter, mit solchem Wissen auf?
Hinzu kommt, dass unsere Menschen auch noch von alters her erzählen und zuhören können. Dieser vom kommunistischen Weltexperiment be-einflusste nomadisch-mongolische Hintergrund erschafft ein für viele europäisch-amerikanische Geister unglaubwürdiges Spielfeld. Nämlich, ich werde von so manchen meiner Lektoren schnell kritisiert, unrealistisch mit dem Leben zu verfahren: Wieso treten denn die Nomaden, diese einfachen Jäger, Schäfer, Wächter, mit solchem Wissen auf? Wo sie doch in ihrer Abgeschiedenheit zu so feinen Urteilen über fern liegende Dinge unmöglich gelangen könnten!
Die Wahrheit aber ist: Das Nomadenvolk ist von seiner Natur her aufgeschlossen, wissbegierig und handlungslustig. Und hinzugekommen ist dann der Lese- und Lernzwang, der ihnen der allmächtige, rechthaberische Staat auferlegt hat. Also war ein nahrhafter Boden für den Dilettantismus erschaffen. Und es gehörte einfach zum guten Ton, dass ein jeder sich auf Schritt und Tritt Wissen, so aber auch manche praktischen Fertigkeiten beizubringen trachtete. Das Ergebnis: ein Volk von lauter Dilettanten, die an Fachleute bis zu einer gewissen Nachbarschaft zu rücken vermochten, ohne es freilich zu schaffen, sie gänzlich zu ersetzen. In jener Ära der Geschichte hatte alles Russische einen himmelhohen Wert. Das Sinnwidrige dabei war, dass das Wort „russisch“ selbst außerhalb der Sprache mit der Zeit politisch nicht weniger salonfähig wurde. Denn besser passte da „sowjetisch“. Der Sowjetmensch war de facto der Übermensch. Die hervorragende Besonderheit dieses zeitgebundenen Übermenschen sollte die vielseitige Belesenheit sein, was auf Russisch krugasor hieß. Jeder in der Mongolei, der sich für wen hielt, pflegte damals beim Sprechen wie auch beim Schreiben die Rede und den Text mit möglichst vielen Russizismen auszuschmücken wie heute mit Anglizismen. Also war das Erlangen eines breiten „Krugasor“ das Endziel der lesewütigen Mongolen. Ich bin einer, der diesen heroisch-komischen Werdegang mit eigenem Körper hat auskosten müssen, ja auch dürfen. Und was soll ich verheimlichen, dass ich in der ersten Phase meiner Berührung mit der westlichen Welt, sosehr ich gewisse Schläue und Geschicklichkeit der dortigen Bevölkerung bewunderte, über ihre Nichtbelesenheit und Unerfahrenheit jedoch auch erschrak. Und später, als ich in so manchen Verlagsräumen mit so manchen Lektoren verhandelte, spürte ich, dass die angelesenen Kenntnisse und angeeigneten Fertigkeiten des Dilettanten in mir mein Gegenüber störten. Da verfluchte ich wohl ein- oder zweimal im Stillen meine sozialistisch-nomadische Vergangenheit samt dem angeborenen Fleiß in mir, die mich in ein Arbeitstier verwandelt haben. Da war mir, als sehnte ich mich nach einem anderen Leben, das dann möglicherweise ein nach Herzenslust freies gewesen wäre – vielleicht so, wie Außenstehende sich das Leben der Naturkinder vorstellen.
Öfters aber pflegten meine Gedanken in die Gegenrichtung zu gehen. Ich bedauerte die Ahnungslosen und war dem Schicksal dankbar, dass mir gerade dieses Leben beschieden war. Und wer so denkt, der bleibt natürlich höflich. Nur einmal drohte ich, unhöflich zu werden. Und dies, als mein Gegenüber eine Bemerkung machte, die in meinem Ohr verdächtig dumm und auch noch überheblich erklang. Da schälte sich meiner Hirnrinde ein ebenso dummer und überheblicher Gedanke ab. Zum Glück sprach ich ihn nicht aus. Doch schlimm genug, dass ich es gedacht habe – nach Buddhas Lehre sündigt man nicht nur mit Körper und Zunge, sondern auch mit Gedanken.
Und der Gedanke lautete: Oh, versucht doch, ihr eingebildet blöden europiden Hirne, zu Hunderten und Tausenden gegen ein einziges mongoloides Hirn anzukommen! Nun gut, jedwedes zu seiner Zeit. So ging auch unsere Ära zu Ende.