Fabian Lenk
World of E-Sports – Abgezockt

Mick und sein bester Freund Alex haben eine große Leidenschaft: Fifa zocken. Intensiv trainieren sie für die Weekend-League, zusammen mit Noel, der bei Online-Wettkämpfen schon oft gewonnen hat. Aber bald wird Mick misstrauisch: Im Training spielt Noel grottenschlecht. Was ist mit ihm los? Doch noch bevor Mick der Sache auf den Grund gehen kann, gerät er selbst gehörig in die Klemme …

Wohin soll es gehen?

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Vita

Rot in der 72. Minute

FASSUNGSLOS LÄSST MICK den Controller sinken.

»Das habe ich jetzt nur geträumt, oder?«, stammelt er. Sein bester Kumpel Alex hat es geschafft, den Ball aus vier Metern über das Tor zu semmeln. Aus VIER Metern. Über. Das. Tor.

Ein Kunstschuss.

Alex grinst nur. »Chill! Der Nächste sitzt.«

»Hoffentlich«, grollt Mick.

Sie sitzen in seinem kleinen Zimmer und zocken wie so oft FIFA. Mick und Alex spielen zusammen in einem Team und führen mit 2:1.

Mick will wie immer unbedingt gewinnen, denn für ihn ist FIFA mehr als ein Zeitvertreib. Er liebt dieses Game und kann Stunden damit verbringen, an seinen Dribblings zu feilen oder Flanken punktgenau in den gegnerischen Sechzehner zu schlagen. FIFA ist für Mick Leidenschaft. Aber vor allem ist es ein bisher unerfülltes Versprechen auf eine bessere Zukunft.

»He, aufwachen!«, ruft Alex lachend.

»Sorry!« Mick hat den blitzschnellen Abschlag des gegnerischen Keepers verpennt. Die andere Mannschaft überbrückt das Mittelfeld mit zwei Pässen, und Mick kommt immer einen Tick zu spät. Seine Finger fliegen über die Buttons, er bearbeitet den Controller, bis dieser knackt und ächzt, doch es nützt nichts.

Aber da lässt Alex einen bulligen Abwehrspieler förmlich heranfliegen. Mit ausgestrecktem Bein trifft der zwar von hinten den Ball, aber vor allem auch das Knie des Gegners, der nach einer hübschen Flugeinlage den Rasen küsst.

Ein Pfiff ertönt, und Mick ahnt Böses: »Das gibt Rot …«

Richtig, der Schiri stellt ihren Spieler vom Platz!

Alex rauft sich die Haare. »Das war doch nichts! Was für ein Schauspieler! Ich habe den höchstens gestreichelt.«

Jetzt muss Mick lachen. »Klar …«

Nun kommt die Zeitlupe. Es ist sehr gut zu erkennen, dass Alex den Spieler regelrecht niedergestreckt hat und die Rote Karte berechtigt ist. Das findet jedenfalls Mick.

Nicht so Alex. »Siehst du, das war eine absolut faire Aktion!«, beschwert er sich.

Mick schweigt und konzentriert sich lieber auf das Spiel. Die andere Mannschaft hat logischerweise Freistoß – und das in aussichtsreicher Position, etwa fünfundzwanzig Meter vom Tor von Mick und Alex entfernt.

Die Mauer steht gut, der Torwart lauert kurz vor der Linie. Jetzt kommt der Freistoß des gegnerischen Mittelfeldregisseurs. Aber es ist kein angedrehter Schuss auf den Kasten, mit dem Mick und Alex gerechnet haben. Es ist ein frecher Lupfer über die Mauer hinweg zum Stürmer, der etwa auf Höhe der Strafraumkante steht. Der nimmt den Ball mit der Brust an, dreht sich um die eigene Achse und schließt kraftvoll ab. Vorbei an Freund und Feind zischt die Kugel in die Maschen. Das ist der Ausgleich in der 72. Minute!

»So ein Mist!«, brüllt Mick. Am liebsten würde er den Controller aus dem Fenster werfen. »Und nur, weil du die riesige Chance vergeben und die Rote Karte bekommen hast.«

»Die unberechtigte Karte hätte ich nicht bekommen, wenn du nicht im Tiefschlaf gewesen wärst«, kontert Alex. »Ich habe doch nur versucht, deinen Fehler auszubügeln. Und tu doch nicht so: Du hast auch schon dicke Chancen versiebt.«

Mick drückt den kleinen Button mit dem Pluszeichen und unterbricht somit das Spiel.

Er seufzt. Ja, sein Kumpel hat recht. Natürlich macht auch er Fehler. Aber Alex nimmt FIFA schließlich immer zu locker, ihm ist es sonst ziemlich egal, ob er mal einen Fehler macht oder nicht. Manchmal denkt Mick, dass das vielleicht daran liegt, dass Alex auch sonst nie um irgendetwas kämpfen muss im Leben. Seine Eltern sind stinkreich und er wird später bestimmt mal ein erfolgreicher Manager.

»Wir sind in der Mitte zu offen«, grummelt Mick. »Vier Stürmer sind zu viel, vor allem wo wir jetzt einen Abwehrspieler weniger haben.«

Als Alex zustimmend nickt, wechselt Mick zum Team-Management, wählt mit der hinteren R-Taste »Formationen« und stellt vom sehr offensiven 4-2-4 auf die »flache Vier« um: Die beiden Außenstürmer spielen nun weiter zurückgezogen im Mittelfeld.

Über den Plus-Knopf gelangt er zurück ins Team-Management und klickt »Spiel fortsetzen« an: Die Kugel rollt wieder.

Die taktische Umstellung fruchtet. Ihre Mannschaft steht jetzt defensiv deutlich stabiler und kann die Attacken der Gegner früher abfangen oder sogar ganz unterbinden.

Aber es kommt noch besser: Kurz vor dem Ende der regulären Spielzeit wuchtet Mick eine gut getimte Flanke von Alex ins Tor der Gegner.

»Yes!«, jubeln Mick und Alex und geben sich die Fünf.

Eine Minute später ist das Spiel zu Ende. Die Freunde haben gewonnen, und das in Unterzahl.

»Nicht schlecht«, freut sich Alex.

»Ja, aber auch nicht wirklich gut«, erwidert Mick. Er legt den Controller auf die wacklige Schlafcouch, auf der er mit Alex hockt, und erhebt sich. Nach zwei Schritten hat er das Fenster erreicht und schaut hinaus. Sein Blick fällt auf die vergammelte Grünanlage, wo sich Gestalten herumtreiben, denen man noch nicht einmal tagsüber gerne über den Weg läuft.

Mick will raus aus dieser üblen Gegend, raus aus dieser armseligen Wohnung, in der er mit seinem Vater, dem meistens arbeitslosen Schlagzeuger Jo, und seinem älteren Bruder Raffael haust.

Und FIFA, so glaubt Mick jedenfalls, ist die Chance, dieser Welt den Rücken zu kehren. Als FIFA-Profi bei einem Bundesligaverein kann man richtig Geld verdienen. Mehrere Tausend Euro im Monat! Da will Mick hin!

Aber dafür muss man gut sein. Richtig gut. Und man darf nicht aus vier Metern eine tausendprozentige Chance vergeben wie Alex vorhin. Oder einen Abstoß verpennen wie er selbst.

Ja, ihr Spiel ist bestenfalls mittelmäßig gewesen. Mit so einer Leistung würden sie nicht weit kommen, schon gar nicht bei der Weekend League, einem Online-Turnier, das an jedem Wochenende stattfindet und für das er und Alex gerade trainieren.

Mick schließt die Augen, verbannt den hässlichen Park und das schwache Match von eben aus seinen Gedanken. Stattdessen sieht er herrliche Tore, blitzende Pokale und fette Prämien. Genau die warten nämlich bei der Weekend League auf die Teilnehmer, da kann man prima absahnen. Um sich für diese Liga überhaupt erst einmal zu qualifizieren, brauchen die Spieler allerdings 2000 FUT-Champions-Punkte, die man nach erfolgreichen Spielen im Division-Rivals-Modus bekommt. Das haben Mick und Alex zum Glück schon gepackt.

Jetzt gilt es, den nächsten Schritt zu machen und bei der Weekend League zu glänzen. Doch das ist alles andere als einfach, die Gegner sind bärenstark.

Die Weekend League beginnt immer freitags um 9 Uhr und dauert bis zum darauffolgenden Montag, ebenfalls 9 Uhr. In dieser Zeit kann man dreißig Spiele zocken, wobei man sich die Zeit frei einteilen kann. Ziel ist es selbstverständlich, möglichst viele Spiele zu gewinnen. Für nur einen Sieg gibt es 1000 Münzen, zwei Gold Sets und 250 FUT-Champions-Punkte. Der eine oder andere würde damit schon zufrieden sein. Leute, die es bereits als Ehre empfinden, überhaupt dabei sein zu dürfen.

Aber nicht Mick. Ein lumpiger Sieg? Das wäre lächerlich, das interessiert ihn nicht. Er will mehr.

Er öffnet die Augen wieder. Sein Blick wandert zurück zu seinem Kumpel, der unverwandt auf den Monitor starrt, wo gerade die Highlights des soeben beendeten Matches noch einmal gezeigt werden.

»Schau nur, wie ich den reinmache! Das ist hohe Kunst«, lobt Alex sich selbst, aber es ist ihm anzuhören, dass er es nicht ernst meint.

»Mega«, sagt Mick. »Du bist der Größte!«

Weekend League

»Nein, beim Sackhüpfen«, antwortet Mick und rollt mit den Augen. »Spaß beiseite«, fährt er dann fort und beginnt zu strahlen. »Mann, der Sieger erhält 250 000 Münzen, vier Jumbo-Sets mit seltenen Spielern und sogar ein Team of the Week-Set! Vielleicht habe ich dann Kylian Mbappé im Sturm. Und Lionel Messi! Im Mittelfeld Toni Kroos und hinten Sergio Ramos und Virgil van Dijk.«

Alex nickt. »Ein Traum! Und vergiss die zweitausend FUT-Champions-Punkte nicht.«

Mick setzt sich wieder neben seinen Freund. Er nimmt das Gamepad, dreht es nachdenklich in seinen Händen.

»Ja, ein Traum … Aber es wird nicht reichen. Jedenfalls dann nicht, wenn wir uns so einen Murks zusammenspielen.«

Alex stupst ihn von der Seite an. »Schlechte Spiele gibt es immer. Was soll’s? Dann machst du es das nächste Mal besser und gewinnst. Lass uns noch ein Match machen, diesmal gegeneinander.« Er lacht. »Dann brauchst du dich nicht über mich zu ärgern. Komm schon!«

Mick lächelt in sich hinein. Alex’ stets gute Laune ist ansteckend. Sie starten ein Match, und Mick haut seinem Kumpel die Kiste voll. 5:1 steht es am Ende. Ein so hoher Sieg ist ihm schon lange nicht mehr gegen seinen besten Freund geglückt. Jetzt fühlt sich Mick endgültig wieder richtig gut. Er ist bereit für das packende Turnier, das übermorgen beginnen wird. Mick brennt darauf, es allen zu zeigen.