Caroline O’Donoghue

All Our Hidden Gifts – Die Macht der Karten

Aus dem Englischen von Christel Kröning

Maeve Chambers ist eine Idiotin – zumindest verglichen mit ihrer Familie voller Genies. Und weil sie ihre Kindheitsfreundin Lily vergrault hat. Erst als sie im Schulkeller ein Tarotkartenspiel findet, zeigt sich ihr wahres Talent. Denn quasi über Nacht macht sie den Mädchen aus ihrer Klasse beängstigend genaue Vorhersagen. Dann verschwindet Lily, nachdem Maeve ihr ungefragt die Karten legt. Schnell wird klar, dass übernatürliche Kräfte im Spiel sind. Und es braucht besondere Talente, um Lily zu retten. Zusammen mit Lilys Bruder Roe und Mitschülerin Fiona begibt sich Maeve auf eine gefährliche Suche.

Faszinierend, übersinnlich, unheimlich – diese Karten öffnen die Tür in eine dunkle Welt.

Wohin soll es gehen?

Buch lesen

Danksagung

Viten

Für meine Familie.
Danke, dass ihr so spannend seid.

Und für Harry Harris.
Danke, dass du die Mamsell
mit mir erweckt hast.

1. KAPITEL

Wie ich mir die Lochkarten-Tarotberatung aufgehalst habe, lässt sich in viermal Nachsitzen, drei Mitteilungen an meine Eltern, zwei miesen Zeugnissen und einem Dienstagnachmittag erzählen, der damit endete, dass ich in einem Wandschrank eingeschlossen war.

Ich beschränke mich hier auf die Kurzfassung.

Miss Harris verpasste mir Strafdienst, nachdem ich einen Schuh nach Mr Bernard geworfen hatte. Es fing damit an, dass er mich dumm nannte, weil ich meine Verben nicht draufhatte. Woraufhin ich sagte, Italienisch zu lernen sei ja wohl eh bescheuert, und wir sollten stattdessen lieber Spanisch lernen, weil das global gesehen viel mehr Leute sprechen. Woraufhin Mr Bernard wissen wollte, ob ich denn ernsthaft glaubte, dass ich mit Spanisch besser zurechtkäme, während ich mich bei Italienisch so schwertue? Dann drehte er sich zur Tafel.

Und ich warf den Schuh.

Der Schuh traf ihn nicht. Das möchte ich betonen. Er knallte lediglich neben Mr Bernard an die Tafel. Doch das schien für niemanden außer mir von Bedeutung zu sein. Wenn ich eine beste Freundin hätte – oder, na ja, überhaupt enge Freunde –, hätte sich vielleicht jemand für mich eingesetzt. Hätte gesagt, dass ich nur Spaß machen wollte und nie im Leben absichtlich einen Lehrer verletzen würde. Hätte erklären können, dass ich nun mal so bin. Weil Frust und Wut manchmal so heftig in mir hochkochen, dass ich nicht vorhersehen, geschweige denn kontrollieren kann, auf welche Art sie sich Luft machen.

Doch solche Freunde habe ich nicht, und ich bin auch nicht sicher, ob ich sie verdienen würde.

Für den Strafdienst bestellt Miss Harris mich am Dienstagmorgen in ihr Büro und geht dann mit mir in den Keller.

In den vier Jahren, die ich jetzt an der St. Bernadette’s bin, sind die Abwasserrohre der Schule schon zweimal durchgefroren und geplatzt, von den alljährlichen Überschwemmungen ganz zu schweigen. Das erklärt den grasgrünen Schimmel und den penetranten Modergeruch in den zwei winzigen Klassenzimmern hier unten. Da die Lehrer es möglichst vermeiden, in dieser Gruft Unterricht abzuhalten, werden die Räume hauptsächlich fürs Nachsitzen und Klausurenschreiben benutzt, oder einfach als Abladeplatz für Kram und Gerümpel, auf dessen ordentliche Entsorgung niemand Lust hat.

Der Heilige Gral dieses Ensembles ist »Das Loch« – ein enger, tunnelartiger Wandschrank, der einen sofort an die Folterkammer aus dem Kinderbuch Matilda erinnert.

Mit ausladender Geste weist Miss Harris auf ebendiesen Schrank. »Ta-daa!«

»Ich soll das Loch aufräumen?« Entsetzt schnappe ich nach Luft. »Das ist unmenschlich.«

»Unmenschlicher, als jemanden mit Schuhen zu bewerfen, Maeve? Bitte achte darauf, dass du alles, was recyclebar ist, vom Restmüll trennst, ja?«

»Ich habe ihn doch gar nicht getroffen«, protestiere ich. »Sie können mich nicht ernsthaft da reinschicken, Miss, nicht ganz alleine. Da sind vielleicht tote Ratten drin.«

Miss Harris drückt mir eine Rolle Mülltüten in die Hand. »Die gehören dann wohl in den Restmüll.«

Und mit diesen Worten lässt sie mich zurück. Allein. In einem gruseligen Keller.

Ich habe keinen blassen Schimmer, wo ich anfangen soll. Während ich an den erstbesten Sachen herumzupfe, schimpfe ich auf die St. Bernadette’s, die nun mal so ist. Nicht wie andere, normale Schulen. Lange Zeit war die viktorianische Stadtvilla einfach nur ein Privathaus, bis Sister Assumpta sie irgendwann in den 1960ern erbte. Also, wir nennen sie nur Schwester, eigentlich ist sie gar keine. Sie war Novizin, so wie Julie Andrews in The Sound of Music, und hat dann das Kloster sausen lassen, um hier eine Schule für »kultivierte junge Damen« zu eröffnen. Damals, als es vielleicht ein Dutzend »kultivierte« junge Damen in der Stadt gab, war das auch sicher eine schöne Idee. Aber mittlerweile platzen an die vierhundert von uns aus allen Ecken und Enden dieses bröckeligen Gemäuers. Der Unterricht findet in zugigen Fertiganbauten oder ehemaligen Dienstbotenschlafzimmern statt. Trotzdem kostet die Schule ein Schweinegeld. Ich muss also aufpassen, dass ich mich vor Mum und Dad nicht zu sehr darüber beschwere. Bei ihren anderen vier Kindern brauchten sie eine solche Einrichtung schließlich nicht zu finanzieren. Die waren alle schlau genug, um an der staatlichen Schule klarzukommen, ganz ohne Sonderbehandlung.

Jedes Trimester an der St. Bernadette’s kostet so zweitausend Euro, und wo immer dieses Geld landet, Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen werden damit jedenfalls nicht bezahlt. Bevor ich überhaupt richtig ins Loch hineinkomme, muss ich erst mal die ganzen kaputten Pulte und Stühle wegschaffen, die die Tür versperren. Jedes Mal, wenn sich ein Möbelstück aus dem Berg löst, weht mir von drinnen ein Hauch Fäulnis und Staub entgegen. Zuerst versuche ich noch, die Teile eins nach dem anderen in eine Ecke des Klassenzimmers zu tragen und dort ordentlich aufeinanderzustapeln, doch als dabei dann Stuhlbeine abfallen, mir gegen die Beine schlagen und meine Strumpfhose aufreißen, werde ich rabiater. Ich ziehe den Schulpullover aus und fange an, Gerümpel durchs Zimmer zu schleudern wie eine Speerwerferin bei Olympia. Nach einer Weile fühlt sich das glatt befreiend an.

Als alle Möbel draußen sind, merke ich erst, wie geräumig das Loch eigentlich ist. Ich war immer von einem simplen Wandschrank ausgegangen, doch jetzt wird mir klar, dass es früher eine Vorratskammer oder so gewesen sein muss. Hier würden locker drei oder vier Mädchen gleichzeitig reinpassen. Eine wertvolle Erkenntnis. Verstecke kann man nie genug haben. Nur fehlt hier drin eine Glühbirne. Die Tür ist so schwer, dass ich sie mit einem der alten Stühle offen halten muss, trotzdem arbeite ich fast im Dunkeln.

Die Möbel waren allerdings nur der Anfang. Im Loch gibt es stapelweise Papiere, Zeitschriften und Schulbücher. Ich stoße auf Klausuren aus dem Jahr 1991, Bunty-Comics aus den 1980ern und ein paar Ausgaben einer Zeitschrift namens Jackie, die ich ein bisschen durchblättere. Bei den Ratgeberseiten und den schräg bebilderten Seifenopern-Fotostorys bleibe ich hängen. Letztere sind lächerlich altmodisch und tragen Titel wie »Millies großer Fang!« oder »Ein Rendezvous mit Fortuna!«.

Ich lese »Ein Rendezvous mit Fortuna!«. Wie sich herausstellt, ist Fortuna ein Pferd.

Als ich in den hinteren Bereich der Kammer vordringe, wird es richtig interessant. Hier lehnt ein Stapel Kartons an der Wand, der von einer dicken, kreidigen Staubschicht bedeckt ist. Ich ziehe die oberste Box herunter, öffne sie und finde drei Sony-Walkmans, ein Päckchen Superkings-Zigaretten, eine halb leere Flasche eingetrockneten Pfirsichschnaps und eine Schachtel Spielkarten.

Heiße Ware. Alles, was sie den Schülerinnen irgendwann mal abgenommen haben, ist offensichtlich hier gelandet.

Auch eine einzelne Haarspange mit einem kleinen silbernen Engel liegt im Karton und sieht neben den Kippen und dem Alkohol ausgesprochen unschuldig aus. Kurz probiere ich sie an, doch dann kriege ich Bammel vor Läusen und werfe sie schnell in die Mülltüte. In einem der Walkmans steckt eine Kassette. Ich setze mir die Kopfhörer ein und drücke Play. Verblüffenderweise funktioniert das Gerät noch. Das Kassettenband setzt sich in Bewegung. Heilige Scheiße!

Eine verspielt dahindümpelnde Bassline dringt an mein Ohr, dudum-di-dum-di-dum, und eine kindliche Frauenstimme flüstert mir zu. Sie singt über einen Mann, den sie kennt, und der Zähne hat, die weiß wie Schnee sind, was mir irgendwie blöd vorkommt. Welche Farbe sollten sie sonst haben?

Trotzdem bleibe ich dran, klemme den Walkman an meinen Rock. Fast keiner der Songs kommt mir auch nur bekannt vor. Alle klingen sie nach Grunge und künstlerischem Anspruch. Lieder, denen man den fetten schwarzen Lidschatten anhört. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal Musik gehört habe, von der ich nicht genau wusste, welche es war. Vielleicht will ich es hier gar nicht wissen. Ist irgendwie cool. Ich spiele die Kassette mehrmals hintereinander. Ausschließlich Männer mit sehr hohen und Frauen mit sehr tiefen Stimmen singen die insgesamt elf Titel. Als ich die Kassettenklappe öffne, sehe ich, dass es sich um ein selbst gemachtes Mixtape handelt. Der einzige Hinweis ist ein weißes Klebeschildchen, auf dem »FRÜHJAHR 1990« steht.

Ich mache die Klappe wieder zu und will den nächsten Karton herunterheben, doch sein feuchter Boden zerreißt und der Inhalt kracht mir ins Gesicht. Im Zurückweichen muss ich irgendeine Kettenreaktion ausgelöst haben, denn der Stuhl an der Tür fällt um und das Loch knallt zu.

Schlagartig versinke ich in stinkender Schwärze. Panisch taste ich nach einem Türgriff und stelle fest, dass da keiner ist. Vielleicht also doch keine Vorratskammer. Sondern schlicht ein Schrank.

Mit einem Mal klingt die Musik in meinen Ohren gar nicht mehr so fröhlich und beschwingt. Sondern vielmehr scheißgruselig. Gerade singt Morrissey über Friedhoftore, vor denen er sich mit jemandem trifft: »So I meet you at the cemetery gates.« Als ich gegen die Tür schlage, bleibt die Kassette bei »gates« hängen und verfällt in eine Art Schluckauf.

»Hallo?«, rufe ich. »HALLO, HALLO! ICH STECKE HIER FEST. ICH STECKE IM LOCH FEST

»… cemetery GATES, cemetery GATES, cemetery GATES, cemetery GATES …«

Nachdem der Schrank sich vor wenigen Minuten noch so geräumig angefühlt hat, komme ich mir jetzt vor wie in einer Streichholzschachtel, die jemand ins Feuer geworfen hat. Ich hätte mich nie für klaustrophobisch gehalten, doch die Wände rücken immer näher und immer deutlicher wird mir die staubige, abgestandene Luft hier drin bewusst. Schon in Kürze könnte ich erstickt sein.

Ich werde nicht weinen. Ich werde nicht weinen. Ich werde nicht weinen.

Ich weine nie. Auch jetzt nicht. Stattdessen passiert etwas noch Schlimmeres. Das Blut steigt mir zu Kopf und obwohl ich in pechschwarzer Dunkelheit stehe, beginnen lila Punkte vor meinen Augen zu tanzen. Womöglich bin ich einer Ohnmacht nahe. Erneut taste ich panisch umher, diesmal auf der Suche nach Halt, da landet meine Hand auf etwas Kühlem, Schwerem, Rechteckigem. Auf etwas, das sich nach Papier anfühlt.

Dem Walkman geht der Saft aus. »… cemetery GATES, cemetery GATES, cemetery GAAAaaaaaaaaayyyyyy …«

Und dann nur noch Schweigen. Totenstille. Bis auf meine Stimme, die um Hilfe schreit, und meine Faust, die gegen die Tür hämmert.

Dann endlich Licht und Luft, Miss Harris hat die Tür aufgerissen und ich falle ihr mehr oder weniger entgegen.

»Maeve«, sagt sie und schaut mich erschrocken an.

Trotz meiner Panik bin ich sehr zufrieden über die Besorgnis in ihrem Gesicht. Geschieht dir recht, blöde Kuh.

»Was ist passiert? Geht es dir gut?«

»Auf einmal ist die Tür zugefallen«, sprudele ich los. »Die Tür ist zugefallen und ich konnte nicht mehr raus und –«

»Setz dich«, befiehlt sie, zieht eine Flasche Wasser aus ihrer Handtasche, schraubt sie auf und gibt sie mir. »Nimm kleine Schlucke. Nicht dass dir schlecht wird. Du hyperventilierst ja fast, Maeve.«

»Es geht mir gut«, sage ich schließlich. »Ich habe nur Panik gekriegt. Ist es schon Mittag?«

Jetzt guckt sie erst recht besorgt drein.

»Maeve, es ist vier Uhr nachmittags.«

»Was?«

»Hast du etwa gar nicht zu Mittag gegessen? Warst du ohne Pause hier unten?«

»Ja! Das wollten Sie doch so!«

Sie sieht mich kopfschüttelnd an, als wäre ich der Zaubertopf, der ohne Rücksicht auf Verluste immer weiter süßen Brei kocht und erst dann aufhört, wenn man den richtigen Spruch aufsagt.

»Weißt du, was?«, fragt sie und betritt den Schrank (worauf ich kurz versucht bin, die Tür hinter ihr zuzuschlagen). »Ich finde es ja erstaunlich, was du alles schaffen kannst, wenn du dir nur Mühe gibst. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Platz hier drin ist. Du bist eine wahre Zauberin. Gut gemacht.«

»Danke«, erwidere ich tonlos. »Mich erwartet wohl eine glänzende Karriere als Putzfrau.«

»Jetzt erst mal ab mit dir zum Waschraum und dann geh nach Hause«, sagt sie und mir wird bewusst, wie übel ich aussehen muss. Ich bin von Kopf bis Fuß mit Staub bedeckt, meine Strumpfhose ist zerrissen und am Hemd meiner Schuluniform kleben Spinnweben. »Geht es dir denn auch sicher wieder gut?«, fügt sie dann noch hinzu.

»Japp«, gebe ich etwas bissig zurück.

»Wir sehen uns morgen früh wieder. Dann überlegen wir uns, wohin mit den alten Möbeln.« Sie hängt sich ihre Handtasche wieder über die Schulter, geht zur Tür und wirft mir einen letzten Blick zu. Sie legt den Kopf schief. »Hm«, macht sie. »Hätte nie gedacht, dass du dich für Tarot interessierst.«

Ich habe keinen Schimmer, wovon sie redet. Dann schaue ich nach unten. Und bemerke: Fest zwischen meinen beiden Händen halte ich ein Tarotkartenspiel.

2. KAPITEL

Auf der Busfahrt nach Hause sehe ich mir die Karten genauer an. Mir will nicht recht einleuchten, wie sie sortiert sind. Auf manchen steht etwas wie »Die Sonne«, »Der Eremit« oder »Der Narr«, auf anderen sind nur Nummern und Symbole zu sehen. Statt der gewohnten Herzen, Piks, Kreuze und Karos sind es hier allerdings: Schwerter, eine Art Stöcke, Kelche und Sterne auf Scheiben.

Die meisten der in kräftigem Violett, Gold und Rot gehaltenen Bilder zeigen Menschen, die ganz und gar in ihre Beschäftigung vertieft sind. Hier zum Beispiel graviert jemand eine Tafel, aber mit Inbrunst. Nie hat sich jemand mehr Mühe gegeben als dieser Typ mit seiner Tafel. Die Karte trägt die Zahl Acht und gehört zu den Sternscheiben. Ich frage mich, was sie bedeuten soll. Du wirst heute eine Tafel gravieren?

Selbstverständlich bekomme ich hier nicht zum ersten Mal ein Tarotspiel zu Gesicht. Kennt man ja aus Filmen. Eine Wahrsagerin zieht eine Karte, sagt etwas Schwammiges à la »Ich sehe, Sie sehnen sich nach Veränderung« und wird natürlich erst mal nur belächelt. Aber dann weiß sie auf einmal doch total Bescheid und alle sind baff. »Und wie fühlt Ihr Ehemann Steve sich dabei?« Etwas in der Art.

Als ich die Karten sortiere, stelle ich fest, dass sie eigentlich doch fast wie normal funktionieren. Jedes Symbol hat ein Ass, dann Zwei, Drei, Vier, Fünf und so weiter bis Zehn. Auch die Adligen sind am Start, nur sind es hier König, Königin, Ritter und Bube statt Bube, Dame, König. Lily wäre Feuer und Flamme. Wenn wir noch beste Freundinnen wären, würde ich ihr die Karten sofort zeigen. Eines unserer ersten selbst ausgedachten Spiele hieß »Ritterinnen«. Dabei durchstreiften wir auf imaginären Pferden ihren Garten, besiegten Drachen und retteten Prinzen. Vielleicht spielt sie das Spiel manchmal noch in Gedanken. Ich weiß es nicht. Wir reden nicht mehr miteinander.

Während ich an Lily denke, fällt mir eine der Karten ins Auge. Eine, die ganz anders aussieht als der Rest und von der ich ein Schiffschaukelgefühl im Magen bekomme. Auf einmal sieht alles so verschwommen aus, als wäre ich gerade erst aufgewacht. Ist das ein Frauengesicht? Als ich mir die Karte näher ansehen will, werde ich von lautem Gegröle abgelenkt. Eine Jungsmeute von der St. Anthony’s. Warum sind Jungs immer dermaßen laut im Bus? Sie reichen etwas zwischen sich hin und her und brüllen vor Lachen. Kein nettes, fröhliches Lachen. Ein gemeines. Was da herumgezeigt wird, ist tatsächlich auch ein Kartenspiel, wie ich jetzt erkenne.

Hm, das ist seltsam. Just an dem Tag, an dem mir Tarotkarten in den Schoß fallen, finden auch die St.-Anthony’s-Jungs Gefallen an so was?

Rory O’Callaghan ist aufgestanden und durchquert den Gang, obwohl es bis zu seiner Haltestelle – die auch meine ist – noch Ewigkeiten dauert. »Hi, Maeve«, sagt er und bleibt vor mir stehen. »Darf ich …?«

»Klar«, sage ich. Der Tag wird immer seltsamer. Kaum denke ich an Lily, schon kommt ihr großer Bruder angelaufen. Er und ich kennen uns, seit wir klein sind, waren aber nie befreundet. Wie ein Komet – Respekt einflößend und nur selten zu sehen – durchzieht Rory meine Kindheit.

Als er sich neben mich setzt, fällt mir auf, dass sein Gesicht ganz rot ist und seine Augen feucht glänzen. Ich frage nicht, was passiert ist. Rory hat irgendwie schon immer viel einstecken müssen. Mit seinen großen Augen, den weichen Gesichtszügen und seiner einzelgängerischen Art ist er an einer Schule wie der St. Anthony’s, an der jeder, der weder Fußball noch Hurling spielt, auch genauso gut tot sein kann, ein hoffnungsloser Außenseiter. Dass die O’Callaghans eine der wenigen protestantischen Familien in unserer überwiegend katholischen Stadt sind, hilft wahrscheinlich auch nicht gerade weiter. Dabei sind sie eigentlich gar nicht religiös. Wer ist das schon? Trotzdem verleiht es Rory eine gewisse englische Schwächlichkeit. Eine Aura aus Höflichkeit und Zurückhaltung, die für seine Schulkameraden wie eine Zielscheibe aussieht.

»Rory!«, schreit einer aus der Meute. »Hey! Rory! Roriana! Roriana Grande! Komm zurück!«

Rory blinzelt. Seine dunkelbraunen Rehaugen sehen tatsächlich ein bisschen wie die von Ariana Grande aus. »Und, wie gehts dir?«, fragt er mich.

»Gut«, sage ich und mische die Karten. Ich mag es, wie sie sich anfühlen. Tatsächlich habe ich am liebsten immer irgendwas in den Händen, weil ich nie weiß, was ich sonst mit ihnen machen soll.

Rory wird blass, als er die Karten sieht. »So ein Mist. Du hast sie auch?«

Ich bin verwirrt und zeige ihm die verschlungenen Zeichnungen. »Tarotkarten?«

In dem Moment kommt einer aus der Meute auf uns zu. »Hey, Roriana Grande, kennt deine Freundin die schon?«

Der Junge, dessen Namen ich nicht weiß, hält mir ein paar Karten unter die Nase, und da begreife ich, was so witzig sein soll. Das ist kein Tarot, das sind welche von diesen fiesen Pornospielkarten, die einem in ramschigen Souvenirläden unterkommen. Nackte Frauen mit riesigen Möpsen und Tangas, die so eng sind, dass man schon vom Hinsehen Scheidenpilz kriegt. Und alle tragen sie ein kopiertes Foto von Rorys Gesicht auf dem Hals. Rory guckt starr aus dem Fenster, weil er genau weiß, dass er dem Jungen nur einen Gefallen täte, wenn er nach den Karten schnappen oder sonst irgendwie reagieren würde.

Das hier ist schlichtweg der unangenehmste Augenblick, den ich je im Schulbus zurück nach Kilbeg erleben durfte.

»Warte mal«, sage ich schließlich in einem Tonfall, als würde ich mit dem Jungen über ein Schulprojekt fachsimpeln, und blicke ihm forschend ins Gesicht. »Dann hast du also sage und schreibe zweiundfünfzig Mal Rorys Foto kopiert, ausgeschnitten und es auf jede einzelne dieser Spielkarten geklebt?«

Er lacht und winkt seinen Kumpels auf eine Art zu, die wohl so etwas heißen soll wie: »Bin ich nicht der geilste Witzbold aller Zeiten?«

»Wow, du musst ja völlig besessen von Rory sein«, sage ich extra laut, woraufhin mir der Junge einen bitterbösen Blick zuwirft und sich verzieht. Rory und ich bleiben schweigend sitzen. Aus dem Augenwinkel fällt mir auf, dass er sich die Fingernägel rosa lackiert hat. Nicht knallpink, eher ballettschuhrosé. Seiner natürlichen Nagelfarbe so ähnlich, dass man es fast nicht bemerkt.

Als wir aussteigen, geht er mit einem kaum hörbaren »Tschüss« in seine Richtung davon.

Mein Zuhause liegt gute zwanzig Minuten von der Haltestelle entfernt, aber die Strecke ist schön, und an Tagen wie heute freue ich mich regelrecht drauf. Der Weg führt am Flussufer entlang. Links von mir das rauschende blaugraue Wasser des Beg, rechts von mir die Steinmauern der Altstadt. Vor einem groben Jahrhundert war Kilbeg noch das Stadtzentrum, weil hier der Hafen lag. Einer der wichtigsten Handelshäfen von ganz Irland, um genau zu sein, und einige der Marktplätze und Viehposten sind bis heute erhalten. Sogar der alte Trinkbrunnen, an dem die Leute früher ihre Pferde angebunden haben, steht noch an Ort und Stelle, obwohl er mittlerweile seit Jahrzehnten versiegt ist. In der Grundschule habe ich mal ein Geschichtsprojekt über die Aufstände erarbeitet, die hier während der Großen Hungersnot stattfanden, weil die englischen Grundbesitzer ihr Getreide ins Ausland verkauft haben, obwohl es für die Iren nichts zu essen gab. Dafür habe ich einen Preis bekommen. Meinen ersten und wahrscheinlich auch meinen letzten.

Von außen betrachtet wirkt unser Haus riesig. Das relativiert sich aber, wenn man bedenkt, dass mitunter sieben Leute gleichzeitig hier gewohnt haben. Ja, sieben. Mum, Dad, meine ältere große Schwester Abbie, meine großen Brüder Cillian und Patrick, meine jüngere große Schwester Joanne und ich. Die Leute fragen mich gern, wie es sich anfühlt, so viele Geschwister zu haben, vergessen dabei aber, dass zwischen Abbie und mir fünfzehn Jahre liegen, dreizehn zwischen Cillian und mir, zehn zwischen Patrick und mir, und auch Jo und ich liegen noch ganze sieben Jahre auseinander. Ich fühle mich eher, als hätte ich so viele Eltern.

»Hi«, ruft Jo aus der Küche. Sie backt mal wieder. Darauf steht sie momentan. Vor einer Weile hat sie mit ihrer Freundin Schluss gemacht, seitdem wohnt sie bei uns und schreibt an ihrer Masterarbeit. Wenn es nach mir ginge, kämen die beiden nicht wieder zusammen, Mum hält es aber für wahrscheinlich. Es ist so langweilig zu Hause nur mit Mum und Dad.

»Hi, du bist ja früh wieder da«, sage ich, lasse meine Schultasche im Flur auf den Boden fallen und gehe in die Küche. »Was backst du Schönes?«

»Vor der Bib hat so eine bescheuerte Christendemo stattgefunden. Die wollte ich mir nicht geben.« Sie leckt sich einen Klecks Teig vom Finger. »Das werden Mandel-Pistazien-Blondies.«

»Himmel! Wogegen wurde denn protestiert? Und warum musst du immer so salzige Sachen backen?«

»Die sind nicht salzig«, widerspricht sie und zerstampft die Nüsse mit dem Boden einer Weinflasche. Ständig beschwert sie sich, dass unser Haushalt über kein gescheites Küchengerät verfügt. Aber mit fünf Kindern plus Karriere fand Mum so was nie besonders wichtig. »Sie sind herzhaft. Und protestiert wurde gegen die Kate-O’Brien-Ausstellung. Die sagen, der Steuerzahler sollte nicht für Kunst von Nicht-Heteros berappen müssen. Als bliebe dann noch viel Kunst über.«

Mit hohlen Händen schöpft Jo die zerstampften Nüsse in eine Tasse. »Wie war der Strafdienst?«

»Der war … okay.«

»Hast du dich bei Mr Bernard entschuldigt, wie ich es dir gesagt habe?«

»Nein.«

»Maeve!«

»Ich habe ihn nicht getroffen

»Unerheblich. Entschuldige dich dafür, dass du ständig austickst und mit Absicht den Unterricht störst.«

Ich hasse das. »Austicken.« Verstehen die Leute keinen Spaß? Immer müssen sie einen direkt als Soziopathin abstempeln. Wenn ein Mädchen still ist, sagen sie doch auch nur: »Sie ist still. Das ist ihr Charakter.« Und eine absolute Streberin ist natürlich nur »ambitioniert«. So was hinterfragt keiner. Jo für ihren Teil war als Schülerin dermaßen überspannt, dass sie sich während der Abschlusstests stressbedingte Schuppenflechte eingehandelt hat, und niemand sagte etwas anderes dazu, als dass sie nun einmal sehr zielorientiert sei.

»Überhaupt«, fügt sie hinzu und streut die Nüsse in den Blondie-Teig, »begreife ich nicht, warum dir Sprachen so schwerfallen. Du kannst doch eigentlich gut mit Worten umgehen. Wenn du nur die wichtigsten Verben und Zeitformen auswendig lernst, ist der Rest ein Kinderspiel.«

Nur? Ich muss sie nur auswendig lernen?

Ist ihr nicht klar, was das für eine Unmöglichkeit ist?

Und doch, andere können es. Alle aus meinem Jahrgang, mit denen ich hin und wieder abhänge, haben im letzten Vokabeltest mindestens achtzehn oder neunzehn von zwanzig geschafft, und ich nur gerade so elf.

Kurz bevor ich an der St. Bernadette’s angefangen habe, hat Mum mich bei einem Spezialisten auf Legasthenie testen lassen. Meine ganze Familie hat wohl gehofft, dass es für meine Unfähigkeit wenigstens einen guten Grund gibt.

»Ich weiß einfach, dass Maeve verborgene Talente in sich trägt«, hatte Mum dem Spezialisten gesagt und dabei offenbar sich selbst mindestens genauso sehr überzeugen wollen wie ihn. »Von all meinen Kindern hat sie am frühesten zu sprechen angefangen. Mit elf Monaten. Ganze Sätze.«

Ja, alle sehnten sich nach einer Erklärung für meinen Leistungsrückstand. Besonders Cill und Pat mit ihrem Wissenschaftsfimmel. Jeden Tag kamen sie mit einer neuen Theorie um die Ecke, warum ich so schlecht mitkam in der Schule. »Könnte es an ihrem Gehör liegen?«, fragte Cillian einmal, als er übers Wochenende nach Hause gekommen war. »Vielleicht kriegt sie einfach nicht richtig mit, was die Lehrer sagen.«

Eine traurige Ironie, wenn man bedenkt, dass ich von seiner Idee nur weiß, weil ich das Gespräch vom Nebenzimmer aus hören konnte.

Ich bin weder legasthenisch noch taub oder blind, sondern zur allgemeinen Enttäuschung schlicht und einfach dumm.

Mit angelecktem Finger fahre ich über die Arbeitsplatte, lese Pistazienkrümel auf und stecke sie mir in den Mund.

»Maeve. Bäh. Lass das. Ich will deine Spucke nicht in meinen Blondies.«

»Warum? Für wen sind die denn?«

»Für niemanden. Himmel, muss ich mich für den Wunsch nach spuckefreien Blondies rechtfertigen?«

»Sie sind für Sarra, hab ich reeeecht?«, ziehe ich sie auf. »Triffst du dich wieder mit ihr?«

»Halt die Klappe«, gibt sie zurück, wischt die Nusskrümel erst auf ihre Handfläche, dann in die Teigschüssel und rührt um.

»Wusst ich’s doch!«, triumphiere ich. »Glaub ja nicht, dass sie die Blondies zu würdigen weiß. Bestimmt behauptet sie, dass sie sie liebt, nur um sie dann mit ein paar Brownies zu betrügen.«

Joanne hört auf zu rühren. Ihr Gesicht läuft rot an. Oh Gott, jetzt hab ich’s geschafft. Manchmal denke ich einfach nicht dran. Obwohl wir schon so lange von Sarras Fremdgehen wissen, dass es sich längst anfühlt wie kalter Kaffee, ist Joanne für ihren Teil noch lange nicht darüber hinweg.

»Hey«, lenke ich ein. Wenn ich sie zum Lachen bringe, können wir den Gedanken an Sarra vielleicht über die Schulter werfen wie eine Prise Salz. Soll ja Glück bringen. »Brownies sind zum Kotzen. Sind vermutlich das am meisten überschätzte Gebäck auf der ganzen Welt. Und schmeißen sich an alle und jeden ran – total billig.«

Joanne kippt schweigend die Teig-Nuss-Mischung in die Backform.

»Wer auf Brownies steht, ist fast mit Sicherheit ein Arsch«, versuche ich es noch einmal und sehe zu, wie Jo die Form in den Ofen schiebt.

»Himmelherrgott, Maeve, lass es doch einfach!« Vor lauter Wut passt Jo nicht auf und verbrennt sich den Unterarm am Herd. Sie schreit, greift instinktiv nach der schmerzenden Stelle und lässt dabei die randvolle Backform fallen. Schnell schnappe ich mir die Küchenrolle und versuche, ein paar der klebrigen gelben Klumpen zu retten.

»Lass das!«, ruft sie und schubst mich weg. »Hau einfach ab. Hau ab, hau ab, hau ab! Geh auf dein Zimmer!«

»Ich will dir doch nur helfen, blöde Kuh«, sage ich und spüre schon, wie meine Augen anfangen zu brennen. Oh Gott, nicht weinen. Nicht weinen. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn man die Jüngste der Familie und eine Heulsuse ist. »Außerdem kannst du mich gar nicht auf mein Zimmer schicken. Du bist nicht Mum, also leck mich!«

Jetzt weine zwar nicht ich, aber Joanne laufen die Tränen übers Gesicht. Manchmal denke ich, dass eigentlich sie das Sensibelchen von uns ist, weil sie so lange Zeit die Jüngste war, bis dann ich geboren wurde. Ihr wurde der Status weggenommen, während ich ihn verzweifelt loszuwerden versuche.

Auf einmal steht Mum mit der aufgerollten Hundeleine im Zimmer und sieht so aus, als wäre sie schon gleich genervt von uns. K2 rast herein, stürzt sich auf den Teig und hat schon die Hälfte verschlungen, bevor Mum überhaupt Luft holen kann, um sich lauthals über seine anfällige Verdauung zu sorgen.

»HALTET K2 FEST!«, schreit sie. »Maeve, hol K2 DA WEG! K2, AUS! BÖSER HUND! Joanne, ist da Butter drin? Ich werde keinen ranzigen Butterdünnpfiff wegputzen. Habt ihr auch nur eine Vorstellung, wie das stinkt?«

Nachdem wir K2 ausgesperrt haben, putzen wir die Bescherung weg und Joanne berichtet tränenreich, was für eine herzlose kleine Schwester ich bin.

»Das glaube ich einfach nicht«, fahre ich sie an. »Weit über zwanzig und immer noch ’ne Petze.«

Dann sage ich noch alles mögliche Schlimme über sie und Sarra, was ich sofort bereue, wofür ich mich aber ebenso wenig entschuldigen werde wie für den Brownie-Witz. Wie zwei Geächtete verziehen K2 und ich uns wenig später in mein Zimmer.

Ich habe fünfzig ungelesene WhatsApp-Nachrichten, aber alle bloß aus Gruppenchats. Niamh Walsh und Michelle Breen wollen wissen, was ich an meinem ersten Strafdiensttag für Miss Harris machen musste.

Das Loch aufräumen, antworte ich und ernte einen Haufen entsetzter Emojis.

Das melde ich Amnesty International, schreibt jemand.

Was ich nicht alles für Krempel gefunden habe, tippe ich und poste ein Foto von dem Walkman samt Grunge-Mixtape.

Alle verleihen kurz ihrem Staunen Ausdruck, doch dann geht es schnell wieder um etwas anderes. Mindestens vierzehn Leute schreiben in dieser Gruppe, deswegen ist es schwierig, immer mitzukommen. Nicht zum ersten Mal ertappe ich mich bei dem Wunsch nach einer besten Freundin zum Reden.

Ich hatte eine, früher. Aber die Sache mit Lily ist vorbei. Seit fast anderthalb Jahren mittlerweile.

Da fällt mir das Tarotspiel wieder ein. Die satten Violett-, Gold- und Rottöne, die konzentrierten Gesichter und die seltsamen Symbole. Ich ziehe die Karten aus meiner Schultasche und gehe sie eine nach der anderen durch. Lege sie der Reihe nach auf meinem Bett aus.

1. DER NARR.
Ein Typ mit einem Hund und einer Flöte. Auf eine langhaarige Prinz-Eisenherz-Art sieht er irgendwie heiß aus.

2. DER MAGIER
Ein Typ an einem Tisch, der einen Trank zusammenrührt.

3. DIE HOHEPRIESTERIN
Eine Frau mit einem Mond auf dem Kopf. Mit ihrer strengen Schönheit erinnert sie mich an Miss Harris.

Ich starre jede Karte eingehend an in der Hoffnung, eine hellseherische Vision zu erhalten, wenn ich den abgebildeten Leuten nur tief genug in die Augen sehe. Nichts. Irgendwann klappe ich meines eigenen Unwissens müde den Laptop auf und suche: »Wie man sich Tarot beibringt.«

Und auf einmal scheinen die Stunden nur so dahinzufliegen.

3. KAPITEL

»Hi, Leute, willkommen zu Silver Magic. Ich bin Raya Silver, und heute lernen wir das einfache Legen mit drei Karten.«

Die Frau in dem YouTube-Video sitzt mit untergeschlagenen Beinen auf einem Korbsessel in ihrem Esoterikladen in New Orleans und sieht einfach umwerfend aus. Dieser Laden ist gleichzeitig ihr Zuhause, in dem sie mit ihrer ganzen Familie wohnt. Raya hat zwei Kinder, einen Hund, eine Katze und ein drittes Auge.

Seit ich vor zwei Stunden das erste Raya-Silver-Video angeklickt habe, kann ich gar nicht genug von ihr kriegen.

Sie hat mir beigebracht, dass die »Trümpfe« – wie »Tod«, »Magier« oder »Hohepriesterin« – quasi die Hauptdarsteller des Tarots sind, und dass man sie die großen Arkana nennt. Die Restlichen, die kleinen Arkana, sind wie beim normalen Kartenspiel in Farben aufgeteilt. Schwerter stehen für Verstand, Kelche für Gefühl, Stäbe für Lust und die Sternscheiben – oder Münzen – für Geld.

»Schwerter, Kelche, Stäbe, Münzen«, so steht es in Rayas E-Book, das ich mir gleich heruntergeladen habe. »Kopf, Herz, Lenden, Füße.«

»Zum Aufwärmen gönnen wir uns eine ausgiebige Runde Mischen«, erklärt sie und die Karten gleiten wie ein Seidenschal von ihrer einen Hand in die andere. Als ich ihre Bewegung nachahme, purzelt mir alles auf die Bettdecke. Muss an der Technik noch feilen.

»Wenn wir die Karten allerdings für jemand anderen legen, mischt er oder sie bitte selber. Die Karten atmen, sie sind Lebewesen, sie müssen die Energie des Menschen aufnehmen, für den sie gelegt werden. Dann die Karten schön auffächern, damit sie sich frei entfalten können.«

Ich tue wie geheißen.

»Jetzt mit der linken Hand drei Karten ziehen. Die erste steht für die Vergangenheit, die zweite für die Gegenwart, die dritte für die Zukunft.«

Ich pausiere das Video und lasse mir Zeit. Ziehe eine nach der anderen und decke eine nach der anderen auf. Der Mond, der Wagen und der Turm. Der Mond ist einfach der Mond – eine perlmuttweiß leuchtende große Kugel. Der Wagen ist ein Mann in einem zweispännigen Streitwagen, dem die Pferde durchgehen. Allein der Turm macht mir etwas Angst. Die Karte sieht übel aus. Ein mittelalterlicher Turm ist entzweigeborsten und orangefarbene Flammen lecken an den Steinen empor. Zwei Menschen stürzen von ihm herunter, ihrem Tod entgegen. Brrr, Gänsehaut. Doch ich vertraue Raya. Sie sagt, dass es keine schlechten Karten gibt, dass alles eine gute Seite hat. Und ich glaube ihr.

In Rayas E-Book schlage ich die Bedeutungen von Mond, Wagen und Turm nach. Rayas Erklärungen sind wohlwollend, haben die Länge einer Textnachricht, und statt abgehoben zu schwurbeln, formuliert sie ganz normal, als würde man mit einer Freundin quatschen. Deswegen ist mir ihre Art so sympathisch.

DER MOND: Der Mond ist eng mit unserm Menstruationszyklus verknüpft. Manchmal kann er mir deswegen echt den Buckel runterrutschen. Diese Karte steht für tief verborgene, unbewusste Energie, vielleicht sogar für Unterdrücktes. Denk dran, dass alles früher oder später ans Licht kommt!

DER WAGEN: Heieiei! Runter vom Gas! Du drohst aus der Kurve zu fliegen – oder bist du so schnell unterwegs, dass es bloß danach aussieht? Überleg mal, ob du die Situation im Griff hast.

DER TURM: Okay, ich weiß, das sieht übel aus. Richtig übel. Aber manchmal muss Altes einstürzen, damit du etwas Neues aufbauen kannst.

Ich mache Rayas Video wieder an, und sie erklärt, wie es jetzt weitergeht. »Vertrau auf deine Intuition«, sagt sie mit rauchiger Stimme. »Lass die Karten zu dir sprechen.«

Ich starre also auf den Mond, den Wagen, den Turm und frage mich, was sie mir sagen wollen. Der verschlossene Mond für die Vergangenheit. Passt. Das ganze letzte Schuljahr hindurch bin ich mehr oder weniger für mich geblieben. Die zwei letzten Schuljahre, um ehrlich zu sein. Alle scheinen mit ihrer Clique dicker als je zuvor und ich hinke ohne beste Freundin und ohne Freundeskreis, aber mit schlechten Noten hinterher. Dann der Wagen, der Typ, der ruhig zu bleiben versucht, während ihm die Pferde durchgehen. Mh-hm, klingt nach mir.

»Sprich die Wahrheit aus«, sagt Raya. Ihre Stimme ist nichts als ein Hauch, doch sie hat ihre schokoladenbraunen Augen fest auf mich gerichtet. »Sprich sie laut aus.«

»Ich fühle mich schon seit einer Weile ziemlich elend«, sage ich laut, und völlig überraschend sammelt sich eine kleine heiße Träne in meinem Augenwinkel. Schnell blinzle ich sie weg. »Ich tue so, als würde es mir gut gehn, aber das stimmt nicht.«

»Geh dorthin, wo die Angst sitzt«, sagt Raya Silver, als könnte sie mich hören. »Sprich aus, was dir Angst macht.«

»Wenn ich das nicht bald irgendwie geregelt kriege, wird es ein richtig verdammt übles Ende nehmen«, sage ich. Doch bevor ich darüber traurig werden kann, ruft Dad mich zum Abendessen.

Als ich nach unten gehe, sitzt Dad allein am Tisch. Jo ist ausgegangen – vermutlich zu Sarra – und Mum hat sich das Essen mit in Abbies altes Zimmer genommen, um weiter Hausarbeiten zu korrigieren.

»Wie ich höre, machst du Joanne das Leben schwer«, sagt Dad vorwurfsvoll und schiebt mir einen Teller Lasagne hin.

»Das ist vielleicht ihre Version der Geschichte …«

»Du solltest netter zu deiner Schwester sein. Sie macht eine harte Zeit durch.«

»Ich bin nett«, sage ich. »Ich kann nett sein.«

»Du bist mehr als nur nett, Maeve. Du bist gütig. Da steckt so viel Güte in dir. Du musst sie nur zeigen.«

»Worin besteht der Unterschied?«

»Wenn nette Leute etwas Schlimmes erfahren«, sagt er und streichelt K2, der ihm bettelnd die Pfote auf den Schoß legt, »hören sie es sich an, nicken mitfühlend und sagen ›oh, wie schrecklich‹. Gütige Menschen tun etwas dagegen.«

Dad versteht mich besser als die anderen, weil auch er unter älteren Geschwistern aufwuchs. Andererseits ist er das Genie in einer Idiotenfamilie, nicht die Idiotin in einer Geniefamilie. Sein Verständnis hat also Grenzen.

Wir unterhalten uns ein bisschen. Er fragt mich, ob es in der Schule mittlerweile besser läuft, und ich lüge, dass ja.

»Wie geht es Lily?«, fragt er und schiebt das Essen auf seinem Teller hin und her. »Redet ihr noch miteinander?«

»Wir sind keine Freundinnen mehr, Dad«, sage ich, und um das Thema zu wechseln, ziehe ich die Tarotkarten aus der Hosentasche.

»Was ist das denn?«

»Tarot«, antworte ich. »Soll ich dir die Karten legen?«

»Ich weiß nicht recht. Sagst du mir dann irgendwelche Katastrophen voraus?«

»Die Tarotkarten sagen nichts voraus«, berichtige ich und imitiere Rayas ruhige, Guru-artige Stimme. »Sie lassen uns die Gegenwart begreifen.«

»Himmel! Bist du einer Sekte beigetreten? Kam ja im Radio, wie die sich heutzutage schon Teenies schnappen, aber dass du ihnen ins Netz gehst, hätte ich nicht gedacht.«

»Pff. Ich find nur die Karten spannend. Das Tarot hat eine lange Geschichte, weißt du? Geht bis ins fünfzehnte Jahrhundert in Italien zurück.«

»Dann interessierst du dich jetzt für Geschichte und für Italien? Diese Sekte gefällt mir.«

»Hier«, sage ich und drücke ihm die Karten in die Hand. »Misch die bösen Jungs einmal gut durch. Lass deinen Saft in sie fließen.«

»Meinen was?«, fragt Dad entsetzt.

»Deine Energie! Lass deine Energie in sie fließen! Karten sind aus Papier, Dad. Und Papier ist aus Bäumen. Sie haben ein Bewusstsein.«

»Mh-hm«, macht er, sichtlich verwirrt. »Und seit wann beschäftigst du dich mit so was?«

»Seit heute«, antworte ich, lasse ihn mischen und fächere die Karten auf, wie Raya es vorgemacht hat. »Drei ziehen.«

Er zieht. Die Zehn der Stäbe, die Zwei der Kelche und den Narren. Ich begutachte sie.

»Wie es aussieht, arbeitest du momentan besonders hart«, sage ich und zeige auf den Mann, der sich an einem riesigen Stangenbündel abschleppt. »Und es könnte sein, dass du Mum darüber vernachlässigst. Die Karten empfehlen, dass ihr zusammen in Urlaub fahrt oder sonst was Schönes unternehmt, um euch wieder, du weißt schon, verliebt zu fühlen.«

Die Miene meines Dads verfinstert sich. »So ein Quatsch«, sagt er. »Das steht da nicht.«

»Wohl!«

»Hat deine Mutter dich dazu angestiftet?«

»Nein!«, rufe ich aus und freue mich diebisch. »Wieso? Habe ich recht?«

»In Gottes Namen!«, stöhnt er und fährt sich mit beiden Händen durch die dünnen, sandblonden Haare. »Dann fliegen Nora und ich eben nach Lissabon.«

»Lissabon?«

»Deine Mum redet seit Tagen von nichts anderem. Die Flüge sind gerade im Angebot. Und ich habe in letzter Zeit geackert wie ein Verrückter.«

»Na dann los!«, rufe ich und bin ganz aufgeregt, dass ich tatsächlich recht hatte. »Auf nach Lissabon!«

»Und wer schickt dich morgens zur Schule?«

»Ich bin sechzehn! Ich kann mir selbst den Wecker stellen. Und Joanne ist ja auch noch da.«

Dad räumt unsere Teller ab und kratzt die Essensreste in den Mülleimer. »Himmel«, murmelt er, noch immer ganz benommen. »Dann gehe ich wohl schnell mal auf Ryanair.«

Hellauf begeistert von meinem Erfolg stecke ich das Tarot wieder ein. »Schon interessant«, sagt Dad noch, »dass du dir all diese Karten an einem Nachmittag merken kannst, aber immer noch nicht das große Einmaleins draufhast.«

»Halt die Klappe! Hab ich so was von drauf! Ich bin doch keine acht mehr, Dad, ich bin sechzehn!«

»Was ist sechzehn mal acht?«

»Eine Million und drei.«

»Hundertachtundzwanzig.«

»Oh, guck mal«, sage ich und zücke erneut das Tarot. »Die Todeskarte. An deiner Stelle würde ich mich beeilen mit den Flugtickets.«

Er geht und lässt mich mit meinen Lochkarten allein. Dads blöder Mathetest kann mich mal, aber es ist tatsächlich seltsam, wie schnell ich mir die Karten einprägen konnte. Irgendwie war das kein normales Auswendiglernen. Nicht wie bei Vokabeln oder so, von denen ich die erste sofort wieder vergesse, sobald ich mir die zweite zu merken versuche. Nein, die Tarotkarten blieben mir gleich im Kopf. Wie ein Liedtext. Wie ein Gedicht. Wie etwas, das ich schon lange gefühlt habe und jetzt endlich ausdrücken kann.