Jörg Scholtz (Jahrgang 1961) lebt und arbeitet in Berlin.
Schon als Jugendlicher faszinierte ihn alles Technische, und daher glich sein Kinderzimmer immer einer chaotischen Werkstatt.
Amateurfunk war - neben der technischen Faszination - für ihn ein Weg, sich aus familiären und gesellschaftlichen Zwängen zu befreien und nicht zuletzt als DDR-Bürger trotz eingeschränkter Reisefreiheit den Kontakt zur „großen weiten Welt“ herzustellen.
Auch beruflich befasst er sich als Bühnentechniker an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin mit technischen Abläufen.
Freizeit und Reisen sind geprägt von seinem Hobby, das er intensiv und engagiert betreibt. Auf dem Dach eines Berliner Hochhauses besitzt er eine Funkanlage mit hoher Reichweite, außerdem baut er seine Antennen regelmäßig auf dem Hagelberg bei Bad Belzig auf, um gemeinsam mit anderen Funkamateuren bei internationalen Contests (Wettbewerben) teilzunehmen.
© Jörg Scholtz 2020
Umschlaggestaltung, Layout und Lektorat: Karola Porzel
Karten und digitale Bildbearbeitung: Mario Kacner
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Herausgeber: Edition Funkenflug/ Jörg Scholtz, Berlin
ISBN 978-3-7526-8148-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Für meine Frau Galina und Gennady A. Nikolajev,
ohne die meine Reise nicht zustande gekommen wäre
Amateurfunk (englisch: „ham radio“) ist kein abgehobenes Hobby für verschrobene Bastelfreaks, sondern eine wunderbare Möglichkeit, über alle Grenzen hinweg mit der Welt in Kontakt zu treten. Selbst im heutigen Kommunikationszeitalter mit Internet und sozialen Medien gibt es für den Amateurfunk durchaus eine Daseinsberechtigung, denn nicht alle Gebiete und Regionen der Welt sind online erreichbar, außerdem gibt es in vielen Ländern aus politischen Gründen Zugangsbeschränkungen und Restriktionen.
Für mich persönlich waren zwei Dinge dafür ausschlaggebend, mich damit zu beschäftigen: einerseits der technische Aspekt (Funkgeräte und Antennentechnik werden ständig weiterentwickelt und bieten Raum für eigene Ideen und Konstruktionen), andererseits die Möglichkeit, über alle Grenzen hinweg zu kommunizieren, fremde Gegenden zu erkunden und internationale Freundschaften zu schließen. Der völkerverbindende Aspekt war mir schon zu DDR-Zeiten wichtig und hat auch jetzt angesichts politischer Spannungen in der ganzen Welt nichts an seiner Bedeutung verloren.
Dieses Buch erzählt von meiner abenteuerlichen Reise durch Russland bis ins ferne Sibirien, meinen Funk-Erfolgen und nicht zuletzt von wunderbaren Begegnungen und russischer Gastfreundschaft.
Es soll auch andere Funkamateure dazu ermutigen, sich in unbekanntes Terrain zu begeben und sich an Orte zu wagen, von denen aus bisher selten oder gar nicht gefunkt wurde.
Und nicht zuletzt ist mein Buch auch ein Aufruf dazu, die eigene Bequemlichkeit aufzugeben und die heimische Umgebung zu verlassen, um neue Horizonte zu entdecken - und das meine ich ganz wörtlich, während ich voller Ehrfurcht an stille und eindrucksvolle Momente in den unendlichen Weiten Sibiriens denke, die mir ewig im Gedächtnis bleiben werden.
Geldautomat in Sewerobaikalsk:
Treffen mit den Funkern Orenburg Rufzeichen RC8SA, Andrey RU9SO, Sergey R9TO RC8SC, Yakov HAMradio UC0L, Oleg R9YU, Andrey RA1AGN, Soja RDA EA UA0DX, Sergey UA0DBX, und Leonid RL4F aus PS Arkaim.
Datenbestand:
32.506 Funkkontakte (QSOs),
insgesamt 275 RDAs (Funkgebiete) aktiviert,
davon allein am 17.06. sensationelle 77 RDAs.
6 Schlauchwechsel, 13 Radwechsel, 2 Tonnen Benzin verbraucht,
28.000 km Wegstrecke zurückgelegt.
Es war schon lange mein Traum, als langjähriger Funkamateur eine RDA-Reise durch ganz Russland zu unternehmen. Dabei werden an verschiedenen – möglichst bisher noch nicht aktivierten Orten – Funkkontakte etabliert, das heißt in der Funkersprache, es werden dort Stationen „gearbeitet“. Klingt für einen Außenstehenden vielleicht wenig reizvoll, aber für einen Funkamateur ist es das Höchste, von einem Ort aus zu funken, „wo nie zuvor ein Mensch gefunkt hat“, um es ähnlich wie bei Star Trek zu formulieren.
Durch einen kleinen Zufall lernte ich den russischen Funker Gennady A. Nikolajev (Rufzeichen R5QA) kennen. Er fiel im RDA-Cluster durch seine Aktivitäten auf – und das rief mich auf den Plan.
Fast zwei Jahre vergingen für die Vorbereitung dieser speziellen RDA-Expedition. Unzählige Mails, Telefonate und die Schwierigkeit der Übersetzung erschwerten alles, und manchmal war es kompliziert, einzelne Wünsche zu erklären. Meine Frau Galina, die aus Weißrussland stammt, hat mich aber sehr unterstützt. Zum besseren Verständnis und zum Kennenlernen lud ich Gennady schließlich nach Berlin ein. Die Tage vergingen wie im Flug. Neben den Ausflügen wurden die Touren und Stationen für die Reise festgelegt. Viele Informationen wurden benötigt, um in Sibirien und Fernost ein reibungsloses Vorankommen zu ermöglichen. Es blieb Gennadys Aufgabe, mit Bekannten und Freunde telefonisch Kontakt herzustellen und alles zu besprechen.
Noch schwieriger war es, einen geländegängigen Bus zu organisieren. Gennadys Schwiegersohn würde dafür sorgen, dass uns ab Novosibirsk zwei Busvarianten zur Verfügung standen. Als weiteres Problem erwies sich, vom Nord-Baikal nach Jakutien und weiter zum Amur zu gelangen - abgesehen von Wetterproblemen, schlechten Straßen, Waldbränden und Fahrzeugpannen, die uns dort erwarteten. Gennady hatte dadurch, dass er gerade in Rente ging, viel Zeit.
Leider galt das nicht für mich, denn ich musste versuchen, möglichst viele Urlaubstage von meinem Arbeitgeber genehmigt zu bekommen, doch letztendlich gelang es mir, fast zwölf Wochen zur Verfügung zu haben - genug Zeit, um alle wichtigen RDAs ab der Region Irkutsk zu aktivieren. Voller Ungeduld zählte ich die Tage bis zur Abreise. Davor gab es noch jede Menge Vorbereitungen, einen Technik- und Antennentest auf dem Hagelberg (bei Bad Belzig), und natürlich durfte nichts vergessen werden.
Streckenabschnitt 1:
PKW Hyundai: Berlin – Warschau (Polen) –
Terespol (Grenzübergang ) – Minsk, Belarus (Weißrussland)
1.110 km
Das Auto wird beladen, und ich fahre mit Galina am 1. Juli 2019 um 18.00 Uhr los. Wir haben Glück: Die gesamte Strecke ist von schönem Sommerwetter geprägt, allerdings zieht sich die Fahrt ermüdend lange hin. Die Landschaft ist zum größten Teil nicht sehr abwechslungsreich, aber man muss trotzdem versuchen, aufmerksam zu bleiben, denn es sind viele Autos und LKW unterwegs, die nicht alle einen verkehrssicheren Eindruck machen. Wir wollen am nächsten Tag versuchen, noch vor dem Berufsverkehr Warschau zu durchfahren. Warschaus Straßennetz ist schwierig, ohne Navi geht da nichts.
Nach Zahlung der Autobahnmaut (80 Zloty) erreichen wir mit einer vollen Tankladung gegen 8.00 Uhr ohne Probleme Terespol, die polnisch-weißrussische Grenze. Der Grenzpunkt ist noch fast leer, aber die polnischen Beamten lassen sich trotzdem viel Zeit. Die Abfertigung ist wie immer kühl und distanziert. Der Spürhund wird angesetzt, ich muss die große Alubox öffnen, den Antennentuner zeigen und den Beamten erklären, was das ist. Man fühlt sich wie früher die Westdeutschen an einem DDR-Grenzübergang. Die weißrussische Abfertigung hingegen ist sehr freundlich, hilfsbereit und korrekt, wie in den Jahren davor - allerdings hat sich wieder etwas geändert. Zu unserem Pech hat das Terminal, an dem man mittels PC den Bürokratismus erleichtert hat, geschlossen, und so müssen wir viele Fragebögen per Hand ausfüllen. Da vor uns noch ein Reisebus mit Deutschen abgefertigt werden muss, hilft uns ein Zollbeamter dabei. Da mein Gepäck den größten Teil des Kofferraums einnimmt, erkläre ich, dass ich innerhalb von 48 Stunden in Russland zur Sibirienexpedition aufbrechen würde. Es werden keine weiteren Fragen gestellt, nur die Alubox soll ich wieder öffnen, die fällt besonders auf.
Wir sind noch aufgeregt und müde zugleich, als wir in Grodno ankommen. Wir tauschen Geld, tanken das Auto für 50 Cent pro Liter voll und mieten den Autobahn-Transponder. Nach einer kleinen Stärkung telefonieren wir mit Galinas Mutter und mit Gennady.
Der Wetter wird sehr warm, die Sonne meint es gut mit uns, und 300 Kilometer bis Minsk liegen noch vor uns. Das Navi geleitet uns sicher zu Galinas Elternhaus. Total durchgeschwitzt angekommen, entladen wir Galinas Gepäck. Die Schwiegermutter ist ganz aufgeregt, und die Freude ist groß. Gegen Abend wird viel erzählt und ein wenig gefeiert. Ich bin jedoch mit meinen Gedanken schon in Sibirien, die Erwartungen sind groß, und die Ungeduld wird immer größer. Galina bleibt bei ihrer Mutter. Besuche bei den Verwandten und ihrer Freundin stehen auf dem Plan. Sie wird später zum Treffen mit ihren Klassenkameraden in St. Petersburg erwartet. In Minsk hat sich seit meinem letzten Besuch viel verändert, etliche Bauvorhaben sind abgeschlossen, und es fällt auf, dass die Stadt einen sauberen Eindruck macht. Es wird ein Taxi für den Morgen bestellt. Unser Auto wird später sicher bei Galinas Freundin Olga auf dem Grundstück untergebracht.
Der Morgen bricht an, es soll sehr heiß werden. Das Taxi bringt uns sicher zum Hauptbahnhof. Das viele Gepäck wird auf die mitgebrachte Sackkarre geladen. Nach einigen Fehlversuchen finden wir den richtigen Bahnsteig. Es verbleiben wenige Minuten, bis der Adlerexpress Richtung Anapa (Schwarzes Meer) einfährt.
Mein Gepäck ist sehr umfangreich. Ich fasse mich in Geduld, bis die Fahrgäste eingestiegen sind. Die Waggonchefin stellt gleich fest, dass ich Übergepäck habe, ich hingegen ahne ein noch größeres Problem! Meine ganze Reise wird in Frage gestellt als mir gesagt wird, dass hier kein internationaler Grenzübergang ist: Die Grenze sei nicht für Ausländer, es werde Kontrollen geben. Ich erinnere mich, dass auf Einladung der russischen Behörden die Einreise über Moskau zu erfolgen hat. Das würde jedoch ein großer Umweg sein, und das erscheint mir unlogisch. Hoffentlich ist meine Reise nicht jetzt schon zu Ende, bevor sie richtig begonnen hat! Vielleicht bin ich doch etwas zu naiv an die Planung herangegangen, aber nun ist es zu spät, um noch etwas zu ändern.
Die Abfahrt verzögert sich um sechs Minuten. Wir gehen das Risiko ein, dass an der Grenze Kontrollen sind und ich mit dem ganzen Gepäck am Grenzbahnhof aussteigen muss. Zudem habe ich schon die Fahrkarte bis nach Liski bezahlt, zwischendurch muss ich mit dem Taxi zu einem anderen Übergang kommen, um später mit dem Zug weiterzufahren.
Galina hat die rettende Idee: Sie wird mich bis zur Grenze begleiten, vielleicht haben wir ja Glück. Wir telefonieren mit Gennady, er versteht den Sinn der Anordnung ebenfalls nicht. Wir verabreden: Wenn es eine Verzögerung gibt, wird er uns 24 Stunden später am Grenzpunkt mit dem PKW abholen.
Stunden später sind wir am Grenzpunkt, es finden Kontrollen statt und die Pässe werden eingesammelt. Ein Offizier erklärt uns freundlich, dass wir aussteigen müssen. Mir läuft es kalt über den Rücken: Alles umsonst? Es kommen noch drei Grenzer dazu, und es entwickelt sich ein Gespräch. Galina spricht auf Russisch, ich bekomme wenig mit. Die Stimmung ist auf dem Nullpunkt. Galina erklärt den Grenzern, dass ich auf Expedition nach Sibirien sei und Leute mich in Liski erwarten. Die Augen der Grenzer leuchten auf, und sie erkennen, was alles davon abhängt, dass sie mich durchlassen. Ein Grenzer im Trainingsanzug ruft seinen Vorgesetzten an um zu prüfen, ob ich „sauber“ bin. Die Bestätigung ist positiv, man drückt ein Auge zu, ich bedanke mich herzlich. Wir haben gewonnen! Ein riesiger Stein fällt mir vom Herzen. Das hätte ja wirklich schiefgehen können!
Ich verabschiede mich von Galina. Sie hat mit ihrer weißrussischen Art gute Arbeit geleistet und damit mein Vorhaben gerettet. Von nun an bin ich mit meinem dürftigen Russisch auf mich allein gestellt. Ganz sicher werde ich meine Frau nicht nur aus diesem Grund vermissen!
Ich fahre die Nacht durch und bin allein im Abteil, eine ältere Dame wird später noch gegenüber Platz nehmen. Ich bin endlich in Russland, allmählich erhole ich mich von dem Schreck und komme mit der Dame ins Gespräch. Sie möchte ans Schwarze Meer fahren. Sie holt ihren Reiseproviant hervor, ihre Reisetasche fällt schon fast auseinander. Ich überlege mir, wie ich sie reparieren könnte, in meiner Zarges-Box habe ich gleich das Nötige zur Hand. Die alte Dame hat mich sofort ins Herz geschlossen, das Gesicht verrät, dass sie ein bewegtes Leben hinter sich hat. Sie gibt mir ihr Kopfkissen und bietet mir etwas von ihrer Verpflegung an. Ich gebe ihr noch ein paar nützliche Dinge mit und versuche dann zu schlafen.
Streckenabschnitt 2:
Eisenbahn
Minsk, Belarus - Gomel (Grenzort) - Kursk (Russland) -
Woronesch - Liski
1.168 km
Gegen 13 Uhr steige ich in Liski aus. Ich verabschiede mir von der alten Dame und vom Waggonpersonal, das mich freundlich unterstützt hat.
Gennady steht „Gewehr bei Fuß“. Die Begrüßung ist herzlich, aber kurz. Er staunt über das viele Gepäck. Ich komme mit der Sackkarre nicht durch die Personenschleuse. Gennady sagt etwas zu den Sicherheitsbeamten, und schon darf ich einen Umweg machen. Es geht alles schnell, gleich rollen wir durch Liski, vorbei an vielen goldenen Kuppeln. Es ist eine quirlige Kleinstadt, alles wirkt sauber, und es herrscht ein normaler, entspannter Sommeralltag.