Clankriminalität
Phänomen – Ausmaß – Bekämpfung
Von
Prof. Dr. Dorothee Dienstbühl
www.kriminalistik.de
Impressum
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-7832-1051-4
E-Mail: kundenservice@cfmueller.de
Telefon: +49 6221 1859 599
Telefax: +49 6221 1859 598
www.kriminalistik.de
www.cfmueller.de
© 2020 C.F. Müller GmbH, Waldhofer Straße 100, 69123 Heidelberg
Hinweis des Verlages zum Urheberrecht und Digitalen Rechtemanagement (DRM)
Der Verlag räumt Ihnen mit dem Kauf des ebooks das Recht ein, die Inhalte im Rahmen des geltenden Urheberrechts zu nutzen. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Der Verlag schützt seine ebooks vor Missbrauch des Urheberrechts durch ein digitales Rechtemanagement. Bei Kauf im Webshop des Verlages werden die ebooks mit einem nicht sichtbaren digitalen Wasserzeichen individuell pro Nutzer signiert.
Bei Kauf in anderen ebook-Webshops erfolgt die Signatur durch die Shopbetreiber. Angaben zu diesem DRM finden Sie auf den Seiten der jeweiligen Anbieter.
Vorwort
„…und wenn Verwandte
Ums Mein und Dein gefühllos hadern, trifft
Den Fremden, der sich eingemischt, der Haß
Von beiden Teilen, und nicht selten gar,
Weil ihm der strengere Beweis nicht glückt,
Steht er zuletzt auch vor Gericht beschämt.“
Johann Wolfgang von Goethe[1]
Seit einigen Jahren wird das Thema Clankriminalität verstärkt in den deutschen Medien wahrgenommen. Dabei ist es zu einem Politikum avanciert: Während sich die öffentliche Diskussion in extreme Ansichten zwischen „alle rausschmeißen!“ und der Wertung „rassistischer Polizeikontrollen“ verhaftet, schafft Kriminalität Fakten: Gewalt, Drohungen, Betrugsmaschen, die die gesamte Bundesrepublik betreffen, Paralleljustiz und Menschen, die wegen der gelebten Prinzipien im Clan sterben müssen. Gleichzeitig darf man die faktische Kriminalität nicht als generelles Merkmal aller Menschen in den betrachteten großfamiliären Strukturen sehen, stets muss differenziert und ohne Vorurteile mit dem Phänomen umgegangen werden.
Jede Behörde hat einen eigenen Blickwinkel auf das Phänomen Clankriminalität und eigene Kompetenzen. Aus der gewonnenen Überzeugung, dass die Bewältigung der Kriminalität und der dafür ursächlichen Probleme eine gemeinschaftliche Aufgabe ist, die längst nicht nur von der Polizei gelöst werden kann, sollen die vorliegenden Ausführungen auch einen Beitrag zur interbehördlichen Zusammenarbeit sein.
Das vorliegende Handbuch soll wichtige Fragen zum Wesen sogenannter arabischer Familienclans, der Kriminalität von Mitgliedern und Methoden der Verbrechensbekämpfung klären und somit einen Beitrag zur Handlungssicherheit im Umgang mit kriminellen Akteuren leisten. Dabei muss stets darauf verwiesen werden, dass es sich beim Phänomen Clankriminalität um ein hochgradig dynamisches Feld handelt: Familienmitglieder, die sich heute gegenseitig bekämpfen und den Tod androhen, feiern morgen zusammen; Kriminalitätsfelder und Verbindungen, die heute aufgeklärt werden, können morgen bereits einem anderen Geschäftsmodell gewichen sein, usw. Diese Dynamik steht Behördensystemen gegenüber, die aus ganz anderen Strukturen bestehen und natürlich stets geltendes Recht anzuwenden und auch zu berücksichtigen haben. Damit sind die gegenwärtigen Ansätze und Überlegungen auch eine Chance für die Behördenlandschaft in Deutschland, insbesondere für die Polizei, moderner zu werden und gerade den Herausforderungen sämtlicher Gruppierungen der Organisierten Kriminalität ganz anders zu begegnen.
Clankriminalität mit all seinen problematischen Aspekten zu bekämpfen, ohne dabei in einen Generalverdacht gegen Menschen mit einem bestimmten Namen oder gar ganze Ethnien zu verfallen, stellt somit eine weitere Herausforderung dar und dies längst nicht nur für die Polizei. Denn dieser Kriminalitätskomplex stellt Politik und Gesellschaft vor brennende Fragen, die zu lange umgangen worden sind: Was verstehen wir unter Integration und wie integrieren wir Menschen? Welche Werte sind uns wichtig und wie wollen wir sie vermitteln? Was tun wir mit Menschen, die den deutschen Staat, unsere Werte und jeden, der sie vertritt, ablehnen? Das Thema Clankriminalität bewegt die Menschen auch deswegen so sehr, weil es immer wieder kriminell auffällige Mitglieder sind, die ihre Haltung dazu kundtun, sei es in sozialen Netzwerken, in Dokumentationen oder in Texten und Videos z.B. von Rap-Songs. Damit halten sie uns den Spiegel vor und stellen die Frage nach unserer Identität, welche Werte wir eigentlich haben und wie wir diese durchsetzen wollen. Darauf gilt es Antworten zu finden.
In den begleitenden Diskussionen unter Artikeln oder Dokumentationen zum Thema Familienclans und in sozialen Netzwerken wird immer die Frage gestellt bzw. auf Meinungsbasis beantwortet, ob dieses Problem tatsächlich noch vom Staat gelöst werden kann, oder ob es dafür nicht längst zu spät ist. Ja, es kann gelöst werden. Dies aber nur mit einer guten interbehördlichen Zusammenarbeit, großer Ausdauer, grundlegenden Kenntnissen zum Phänomen und dem entsprechenden Willen auf allen Seiten – und das bedeutet in der Gesellschaft und bei den Menschen mit Migrationshintergrund.
Das vorliegende Buch soll Basiswissen zur Lebenswelt und Kriminalität in abgeschotteten Familienstrukturen sowie einige Möglichkeiten und Handlungsfelder aufzeigen, ohne den Anspruch an Vollständigkeit und Generalität zu haben. Denn im Kontext Clankriminalität gibt es vor allem auch in der Kriminologie noch viel zu lernen. Das, was heute als status quo gilt, kann morgen schon wieder obsolet sein. Entsprechend stellen die hohe Komplexität und Flexibilität der Clankriminalität nicht nur die Sicherheitsbehörden und die Gesellschaft vor eine Herausforderung, sondern auch die erklärenden Wissenschaften und vor allem uns Wissenschaftler. In der gegenwärtig sehr reflexartig geführten Debattenkultur ist ein verständlicher und gleichzeitig solider Wissenstransfer wichtiger denn je.
Anhand des Problems und Wesens des Phänomens Clankriminalität die Schwachstellen in den behördlichen Abläufen herauszustellen und notwendige Möglichkeiten für mehr Handlungsfähigkeit zu erhalten, ist eine längerfristige kriminalpolitische Aufgabe – und nicht zuletzt eine Chance. Zu diesem Prozess einen Beitrag zu leisten, ist daher auch eine Chance für nötige Modernisierungsprozesse in den Behörden, aber auch für einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Diskurs.
Das Handbuch richtet sich an die Angehörigen der Polizei in der Aus- und Fortbildung sowie an alle Behördenangehörige, die in die Bekämpfung der Clankriminalität involviert sind.
Für Fragen und Anregungen stehe ich gerne zur Verfügung unter:
dorothee.dienstbuehl@hspv.nrw.de
Mülheim an der Ruhr, Dorothee Dienstbühl
im Oktober 2020
Johann Wolfgang von Goethe, Auszug aus: Die natürliche Tochter, 5. Akt, Zweiter Auftritt i.d.F. von 1948.
Danksagung
Das vorliegende Buch ist ein Resultat der wissenschaftlichen Begleitung[1] der BAO „Aktionsplan Clan“[2] des Polizeipräsidiums Essen, mit dem schon nach kurzer Zeit eine vertrauensvolle Atmosphäre und ein offener Austausch entstanden ist. Entsprechend gebührt mein erster Dank dem Polizeipräsidenten von Essen und Mülheim an der Ruhr, Herrn Frank Richter, der mir diesen Austausch ermöglicht und dessen Impulse Überlegungen zu diesem Buch maßgeblich beeinflusst haben. In der hervorragenden Zusammenarbeit mit der Polizei Essen sind namentlich vor allem Frau KOK´in Sandra Steinbrock, Herr KOK Patrick Rohde und Herr EKHK Thomas Weise hervorzuheben – einen ganz lieben Dank an Euch. Herzlich bedanken möchte ich mich zudem bei Frau Karin Franzen vom Ordnungsamt der Stadt Essen für ihre unverzichtbare Expertise und ihre gradlinige, erfrischende Art, sowie bei Herrn PKHK Thomas Keppke für sein Engagement, mit dem er mir die Brennpunkte und Gegebenheiten in Essen gezeigt und erklärt hat. Für den fachlichen und herzlichen Austausch bedanke ich mich zudem bei Herrn RD Dr. Marwan Abou Taam und Herrn ROR Aladdin Sarhan vom LKA Rheinland-Pfalz – es ist immer wieder schön mit Euch. Für seine Anregungen und den stets differenzierten Blick danke ich sehr Herrn Ahmad Omeirate von der Caritas des Bistum Essen, sowie Herrn Thomas Rüth von der AWO Essen. Für die Perspektive der Niederlande danke ich Frau Dr. Machteld Zee von der Polizei in Den Haag.
Ferner bedanke ich mich bei allen, bei denen ich hospitieren, die ich zwischendurch mit der einen oder anderen Frage behelligen durfte, und die mich mit fachkundigen Informationen versorgt haben – sei es seitens der Polizei, Staatsanwaltschaft, den Sozial- und Ordnungsbehörden oder der sozialen Arbeit.
Aus dem Arbeitsumfeld habe ich aber nicht nur in fachlicher Hinsicht Unterstützung erfahren, sondern auch durch gute Gespräche zwischendurch, aufbauende Worte oder der Tasse Kaffee zur richtigen Zeit. Dafür ein großes Dankeschön an Frau Simge Coskun, Herrn KD a.D. Burkhard Kowitz, Herrn EKHK Manfred Paxa, meiner Forschungspartnerin Frau Prof.´in Dr. Sonja Labryga, Herrn Prof. Dr. Stefan Piasecki, Frau Heike Lücking, Frau Petra Jackstien und das Team des KK 44 im PP Essen.
Für seinen krisenerprobten und gelassenen Umgang mit mir und meinen Schreibphasen zu Abgabezeiten danke ich sehr meinem Mann, Herrn Stephen Nickel.
Für die angenehme und unkomplizierte Zusammenarbeit bedanke ich mich bei Frau Susanne Lück vom Verlag C.F. Müller GmbH.
Sowohl im Unterricht als auch bei der Betreuung von Bachelorarbeiten lernt man selbst immer noch dazu. In der Auseinandersetzung mit dem Themenfeld in ihren Abschlussarbeiten danke ich dem Engagement von Herrn PK Dennis Homburg (EJ 15); Frau PK´in Aylin Uysal, Frau PK´in Nadine Hermanns, Herrn PK Dimitri Poredda, Herrn PK Niklas Ramrath, Herrn PK Jannik Bartsch, Herrn PK Yannik Hertog (EJ 16); Frau KK`in Anna Laria Ventura, Herrn PK Benedict Deffur, Herrn KK Robin Richard Meurer, Herrn PK Lukas Harbecke und Herrn PK Sebastian Grontzki (EJ 17). Für ihre Rückmeldungen, ihre Fragen und Anregungen in den Fächern Kriminologie und Soziologie im HS 2, die meine Überlegungen für das Buch beeinflusst haben, danke ich meinen Kursen MH P 17/01, 17/02, 17/03, 17/04, 18/07, 18/51 und 18/53.
Das Forschungsprojekt „Bekämpfung der Kriminalität durch subkulturelle Familienstrukturen – Das Essener Modell“ an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (HSPV) NRW behandelt die Fragestellung nach wirksamer Verbrechensbekämpfung im Kontext Clankriminalität und die interdisziplinär-wissenschaftliche Begleitung der Polizei Essen. Projektlaufzeit ist v. 1.9.2019-31.8.2022.
Die Besondere Aufbauorganisation (BAO) „Aktionsplan Clan“ wurde im Dezember 2018 im Polizeipräsidium (PP) Essen gegründet.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Danksagung
Abkürzungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
I.Einführung
1.Herausforderung für Sicherheitsbehörden, Verwaltung und Justiz
2.Zum Nutzen der Kriminologie
3.Aussagekraft von Statistiken und Lagebildern im Zusammenhang mit Clankriminalität
4.Zusammenfassung
II.Phänomenologie und Erfassung
1.Begriffe und Wesen
1.1Clan
1.2Clankriminalität
2.Herkunft und Migration
3.Familienstrukturen
4.Eigenes Rechtsverständnis und Paralleljustiz
5.Gründe für die hohe Kriminalitätsbelastung (Ätiologie)
6.Darstellung der Kriminalität
6.1Aufkommen und Tatverdächtige
6.2Verschmelzung mit (teil-)legalen Geschäftsfeldern
6.3Clankriminalität als Organisierte Kriminalität
6.4Kooperationen und Konkurrenzen
6.4.1Verhältnis Clans und Rockergruppen
6.4.2Verhältnis Clans zum Extremismus
6.4.3Verhältnis Clans zu Geflüchteten aus Syrien und dem Irak
6.4.4Vergleich Clans und italienische Mafia
7.Einordnung von Clankriminalität als gesellschaftliches Problem
7.1Wirtschaftlicher und sozialer Schaden
7.2Clans als Parallelgesellschaften
7.3Auswirkung auf Städteentwicklung und Kriminalitätsfurcht
8.Zusammenfassung
III.Kriminalität und Raum: Polizeiliche Bekämpfungsansätze
1.Null-Toleranz-Politik
2.Polizeiliche Kontrollmaßnahmen
2.1Fahrzeugkontrollen
2.2Kontrollen von Shisha-Bars
2.3Gefährliche Orte/Gefahrengebiet
3.Einziehung, Sicherstellung und Beschlagnahmen
4.Ermittlungsarbeit
5.Aufbau einer mittelfristigen BAO
6.Zusammenfassung
IV.Behördenübergreifende Zusammenarbeit zur Bekämpfung von Clankriminalität
1.Kontrollen als Verbundeinsätze
2.Finanzbehörden
2.1Zoll
2.2Finanzamt/Steuerfahndung
3.Kommunale Behörden
4.Jobcenter
5.Aggressions- und Gefährdungspotentiale als Reaktion auf die behördliche Intervention
6.Unterwanderung in Behörden
7.Diskussion um Racial Profiling
8.Zusammenfassung
V.Integration und Prävention
1.Integration in der Diskussion
2.Kriminalprävention
2.1Primäre Kriminalprävention
2.2Sekundäre Kriminalprävention
2.3Tertiäre Kriminalprävention
3.Zusammenfassung
VI.Kriminologische Analysemöglichkeiten und Forschungsbedarfe
1.Kriminologische Einzelfallanalyse (KEA)
2.Längs- und Querschnittsanalysen unter Berücksichtigung der Werteorientierung
3.Kriminalaktenauswertung (KAA)
4.Kriminologischen Regionalanalyse (KRA)
5.Forschungsbedarfe
VII.Schlusskapitel
1.Kriminalpolitische Maßnahmen in der Diskussion
2.Conclusio
Literatur- und Quellenverzeichnis
Sachverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
a.a.O. | an angegebenem Ort |
AAO | Allgemeine Aufbau- und Ablauforganisation (AAO) |
Abb. | Abbildung |
Abs. | Absatz |
AfA | Agentur für Arbeit |
AG | Amtsgericht |
a.g.O. | außerhalb geschlossener Ortschaften |
AK | Arbeitskreis |
Allg. | M. allgemeine Meinung |
Alt. | Alternativ |
AO | Abgabenordnung |
AQ | Aufklärungsquote |
Art. | Artikel |
AÜG | Arbeitnehmerüberlassungsgesetz |
AV | Ausnahmeverordnung |
AZ | Aktenzeichen |
AZR | Ausländerzentralregister |
BAMF | Bundesamt für Migration und Flüchtlinge |
BAO | Besondere Aufbauorganisation |
Bd. | Band |
BdK | Bund deutscher Kriminalbeamter |
BDSG | Bundesdatenschutzgesetz |
BePo | Bereitschaftspolizei |
BfV | Bundesamt für Verfassungsschutz |
BGB | Bürgerliches Gesetzbuch |
BGBl | Bundesgesetzblatt |
BGH | Bundesgerichtshof |
BGHSt | Entscheidungen des Bundesgerichthofes in Strafsachen (amtliche Sammlung) (zitiert nach Band und Seite) |
BGS | Bundesgrenzschutz |
BGSG | Bundesgrenzschutzgesetz |
BKA | Bundeskriminalamt |
BKAG | Bundeskriminalamtgesetz |
BMFSFJ | Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend |
BMI | Bundesministerium des Inneren |
BPol | Bundespolizei |
BPolG | Bundespolizeigesetz |
BtMG | Betäubungsmittelgesetz |
BT-Drucks. | Bundestagsdrucksache |
BUF | Beobachtungs- und Feststellungsbericht |
BZSt | Bundeszentralamt für Steuern |
Ebd. | Ebenda |
EHU | Einsatzhundertschaft |
EMA | Einwohnermeldeamt |
EMZ | Einsatzmehrzweckstöcke |
EU | Europäische Union |
EuG | Gericht der Europäischen Union |
EuGH | Europäischer Gerichtshof |
FAZ | Frankfurter Allgemeine Zeitung |
FDGO | Freiheitlich Demokratische Grundordnung |
f., ff. | folgende, fortfolgende |
Fn | Fußnote |
FVG | Gesetz über die Finanzverwaltung |
GAG | Gemeinsame Arbeitsgruppe Justiz/Polizei |
GdP | Gewerkschaft der Polizei |
G.i.V. | Gefahr im Verzug |
GVG | Gerichtsverfassungsgesetz |
GWG | Geldwäschegesetz |
GewO | Gewerbeordnung |
HG | Häusliche Gewalt |
h.M. | herrschende Meinung |
Hrsg. | Herausgeber |
HSA | Hauptschulabschluss |
i.d.F. | in der Fassung |
i.d.R. | in der Regel |
i.g.O. | innerhalb geschlossener Ortschaften |
i.S.(d.) | im Sinne (des) |
i.V.(m) | in Verbindung (mit) |
i.w.S. | im weitesten Sinne |
i.V.m. | in Verbindung mit |
JA/JÄ | Jugendamt/Jugendämter |
JC | Jobcenter |
Jg. | Jahrgang |
JGG | Jugendgerichtsgesetz |
JGH | Jugendgerichtshilfe |
Jhd. | Jahrhundert |
JSchG | Jugendschutzgesetz |
JVA | Justizvollzugsanstalt |
KA | Kriminalakten |
KpS | Kriminalpolizeiliche personenbezogene Sammlungen |
KBZ | Kriminalitätsbelastungszahl (Zahl der ermittelten Tatverdächtigen pro 100000 Einwohner) |
KEEAS | Kriminalitäts- und Einsatzbrennpunkte geprägt durch ethnisch abgeschottete Subkulturen |
KFN | Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen |
KiTa | Kindertagesstätte |
KRA | Kriminologische Regionalanalyse |
KUG | Kunsturheberrechtsgesetz |
LG | Landgericht |
MiLoG | Mindestlohngesetz |
LKA/LKÄ | Landeskriminalamt/Landeskriminalämter |
NGA | No-Go-Area |
n.ö. | nicht öffentlich (Quellenangabe) |
NiSchG | Nichtraucherschutzgesetz |
OBG | Ordnungsbehördengesetz |
OK | Organisierte Kriminalität |
OLG | Oberlandesgericht |
OSINT | Open Source Intelligence |
OWiG | Gesetz über Ordnungswidrigkeiten |
PAG | Polizeiaufgabengesetz |
PKS | Polizeiliche Kriminalstatistik |
PD | Polizeidirektion |
PolDVG | Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei |
PolG | Polizeigesetz |
ProstSchG | Prostitutionsschutzgesetz |
PVB | Polizeivollzugsbeamte |
PVD | Polizeivollzugsdienst |
RdErl. | Runderlass |
Rdn. | Randnummer |
sog. | sogenannte(-s,-r) |
StA | Staatsanwaltschaft |
StGB | Strafgesetzbuch |
StPO | Strafprozessordnung |
StrÄndG | Strafrechtsänderungsgesetz |
StrRG | Strafrechtreformgesetz |
StVG | Straßenverkehrsgesetz |
StVO | Straßenverkehrsordnung |
StrVz | Strafvollzug |
StVStat | Strafverfolgungsstatistik |
StVzO | Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung |
SZ | Süddeutsche Zeitung |
TabStG | Tabaksteuergesetz |
TV | Tatverdächtige |
u.H. | unter Hinweis |
u.U. | unter Umständen |
u.v.m. | und vieles mehr |
VereinsG | Vereinsgesetz |
v. | vom |
vgl. | vergleiche |
vors. | vorsätzlich |
VS-NfD | Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch |
WaffG | Waffengesetz |
WED | Wohnungseinbruchdiebstahl |
WWD | Wach- und Wechseldienst |
z.B. | zum Beispiel |
zit. | zitiert |
ZFdG | Zollfahndungsdienstgesetz |
ZollVG | Zollverwaltungsgesetz |
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: | Optionales Analysemodell |
Tabelle 2: | Polizei und Wissenschaft |
Tabelle 3: | Tatphasen |
Tabelle 4: | Verwaltungsziffern türkischer Provinzen |
Tabelle 5: | Vergleich Clan und Rocker |
Tabelle 6: | Vergleich Clan und Mafia |
Tabelle 7: | Einziehungstatbestände |
Tabelle 8: | Clans als Unternehmen |
Tabelle 9: | Regelleistungen nach dem SGB II |
Tabelle 10: | Behörden und Maßnahmen |
Tabelle 11: | Vergleich Migration |
Tabelle 12: | Prävention nach Adressatengruppen |
Tabelle 13: | Kriminologische Einzelfallanalyse (KEA) |
Tabelle 14: | Exemplarische K- und R-Kriterien |
I. Einführung
1.Herausforderung für Sicherheitsbehörden, Verwaltung und Justiz
2.Zum Nutzen der Kriminologie
3.Aussagekraft von Statistiken und Lagebildern im Zusammenhang mit Clankriminalität
4.Zusammenfassung
Das Phänomen Clankriminalität ist kein neues Problem in Deutschland. Bereits 1998 titelte der das Nachrichtenmagazin Focus in einer Überschrift: „Rätselhafter Reichtum. Geldwäsche oder Sozialbetrug? In Celle erwarben anatolische Clans bereits 500 Häuser“ und thematisierte „dubiose Gelquellen“.[1] 2009 kündigte der Bremer Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) an, man werde mit „Null-Toleranz“ gegen die Clankriminalität vorgehen und das Problem „konkret angehen“. Sobald die mediale Präsenz nachließ, geriet das Thema jedoch wieder in den politischen Hintergrund.[2] Auch ist Clankriminalität längst nicht nur ein sicherheitspolitisches Problem in Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Berlin: Das Bundeskriminalamt (BKA) schätzt selbiges als „bedeutsam für das gesamte Bundesgebiet“ ein.[3] Dies ergibt sich aus dem Operationsraum, der ganz Deutschland umfasst. Dabei geht es nicht nur um den wirtschaftlichen Schaden, der nach ersten Schätzungen durch Clankriminalität verursacht wird.[4] Vielmehr birgt das Phänomen eine ungeheure deliktische Bandbreite, öffentlich ausgetragene Gewalt, offene Provokationen und eine Kampfansage an das in Deutschland geltende Recht in sich, die das Sicherheitsgefühl der Bürger beeinträchtigen. Einige Beispiele veranschaulichen den Gegenstand:
• | Spektakuläre Überfälle wie auf die Schmuckabteilung des KaDeWe im Januar 2009 und am 20. Dezember 2014, der ganze 79 Sekunden dauerte,[5] oder der Raub einer 100 Kilogramm schweren Goldmünze aus dem Berliner Bodemuseum im Jahr 2017[6] sorgten in Deutschland für Aufsehen. |
• | Clanfehden und exzessive Gewalt auf offener Straße: Immer wieder kommt es zu Massenschlägereien zwischen Clanmitgliedern im öffentlichen Raum, die mit Waffen ausgetragen werden,[7] aber auch in Gerichtssälen, wie im Essener Amtsgericht im Januar 2020.[8] 2018 führte ein Familienstreit zur Ermordung des Intensivtäters Nidal Remmo am Tempelhofer Feld in Berlin durch mehrere unbekannte Täter, die den 36-jährigen Mann mit acht Schüssen treffen.[9] |
• | Auch gegenüber Polizeibeamten zeigen sich Clanmitglieder äußerst aggressiv und gewalttätig: 2003 wurde der SEK-Beamten Roland Krüger durch ein Clan-Mitglied erschossen, als sein Team den Angehörigen nach einer Messerstecherei in einer Berliner Disco festnehmen wollten.[10] Im nordrhein-westfälischen Düren eskalierte 2016 ein Streit über falsches Parken zu einem Gewaltexzess und führt zu zehn verletzten Polizeibeamten.[11] In Niedersachsen musste eine Polizeibeamtin umziehen, weil sie von Clanmitgliedern bedroht wurde.[12] |
• | Verbindungen von Rappern in die Clan-Szene: Der zunächst sehr enge Kontakt und der später mitunter über öffentliche Medien ausgetragene Streit des Rappers Bushido zum Abou-Chaker-Clan erfährt besonders hohe Aufmerksamkeit und ist lediglich ein Beispiel für die symbiotischen Geschäftsbeziehungen zwischen sog. Gangster-Rappern mit arabischstämmigen Familienclans.[13] |
Weitere Beispiele sind Legende. Allerdings ist die Dimension der Alltagskriminalität das weitaus größere Problem: Die Bandbreite von den unterschiedlichen Betrugs-, Drogen und Gewaltdelikten ist immens, darüber hinaus machen es die familiären Strukturen den Ermittlern schwer. So zeigen sich Familienangehörige, die selbst nicht mit Straffälligkeit in Erscheinung treten, regelmäßig unkooperativ, verweigerten Zusammenarbeit und Aussage und lassen sich nach Flashmob-Prinzip instrumentalisieren, wenn beispielsweise eine Festnahme erfolgen soll. Den deutschen Rechtsstaat erkennen zu viele Mitglieder nicht an, sondern beugen sich stattdessen lieber dem Willen der Familie.[14] Zudem kristallisieren einzelne Beispiele immer wieder Bestrebungen der Unterwanderung durch Mitglieder mit kriminellem Interesse in Behörden heraus.[15]
Das Thema ist somit bereits seit vielen Jahren bekannt, es wurde jedoch lange Zeit politisch nicht behandelt. Zu groß war die Angst vor dem Vorwurf des Generalverdachts gegen ethnische Minderheiten und des Rassismus. Und tatsächlich liegt die Brisanz bereits in der Titulierung des Phänomens und in der Besonderheit der Ethnizität, die einerseits wichtig ist, um das Phänomen zu begreifen. Andererseits kann dieser Zusammenhang genau dazu führen, dass sämtliche Personen, die die gleiche Ethnizität oder auch einen bestimmten Nachnamen tragen, auch gesellschaftlich unter Generalverdacht gestellt werden. Gleichzeitig sind es Mitglieder der Strukturen selbst, die lautstark Territorialansprüche stellen und aus ihrer feindlichen Haltung gegenüber dem Staat keinen Hehl machen. Die Lebensweisen sog. Familienclans führt einerseits zu einem Kultstatus, der sich in filmischen Aufbereitungen wie „4 Blocks“ und der deutschen Rapper-Szene offenbart, gleichzeitig erhitzt er die Gemüter. Entsprechend groß ist das Medieninteresse und damit auch der Druck auf die Sicherheitsbehörden, insbesondere auf die Polizei.
Dabei ist es nicht nur die Polizei, die sich der Kriminalität der Clans widmet, sondern weitere Behörden wie u.a. der Zoll, Finanz- und Ordnungsämter arbeiten in Kooperationen zusammen und verfügen in der Kriminalitätsbekämpfung über ungemein wichtige Funktionen und Kompetenzen. Entsprechend relevant ist eine funktionierende Zusammenarbeit innerhalb der jeweiligen Befugnisse, Zuständigkeiten und der damit verbundene Austausch, der durch datenschutzrechtliche Regelungen normiert und zuweilen eingeschränkt ist. Diese müssen beachtet werden, da ansonsten Verfahrensfehler riskiert werden. Je besser die jeweiligen Möglichkeiten bekannt und die persönliche Zusammenarbeit vor Ort funktioniert, desto wirksamer sind sämtliche Ansätze zur Begegnung eines Kriminalitätsgefüges, das sich über Jahrzehnte etablieren konnte.
Die Wirksamkeit der Bekämpfungsmaßnahmen hängt nicht zuletzt von den Kenntnissen über die Strukturen der Clans, deren Regelwerke und Flexibilität in Kooperationen und Feindschaften ab. Erst, wenn diese verstanden werden, kann man die daraus entstehenden Probleme behandeln, damit sich nicht weitere Strukturen an dem Vorbild Clankriminalität orientieren und aufbauen. Auch Ansätze zur Prävention werden nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn die gelebte Rechtswirklichkeit in den Strukturen und ihre Auswirkungen auf die Mitglieder verstanden werden.
Özgenc, Focus Magazin Nr. 13/1998.
Vgl. Zigmann, Kriminalistik 12/2015, S. 758.
BKA (Hrsg.) 2020, S. 32.
Vgl. erstmalige Ausweisung im bundesweiten Lagebild OK des BKA 2019, vgl. BKA 2020, S. 34.
N.N., WDR v. 20.12.2019.
Vgl. Nibbrig, Berliner Morgenpost v. 12.11.2017.
Z.B. eine Schlägerei mit 20 Personen unter Einsatz von Stichwaffen im März 2020, vgl. N.N., WAZ v. 15.3.2020.
N.N., Welt v. 16.1.2020.
Rütten, Stern v. 11.9.2018.
Behrend, Berliner Morgenpost v. 20.4.2013.
Posener, Welt v. 16.11.2016.
N.N., Focus v. 29.5.2020.
N.N., Focus v. 2.1.2020.
Vgl. Einschätzung des Polizeipräsidenten Bremen, in: Michel, Weserkurier v. 18.3.2019.
N.N., Welt v. 8.10.2019.
I. Einführung › 1. Herausforderung für Sicherheitsbehörden, Verwaltung und Justiz
Das Thema Clankriminalität stellt die Sicherheitsbehörden in mehrerlei Hinsicht vor eine Herausforderung. Im öffentlichen Raum werden zum einen persönliche Auseinandersetzungen zwischen Familienkollektiven physisch und sogar mit Waffengewalt ausgetragen. Das schwächt das Sicherheitsempfinden der Bürger und suggeriert, dass der Staat und seine Exekutive zu schwach seien, dem Agieren der Clans entgegen zu wirken. Entsprechend hoch ist das öffentliche Interesse an dem Thema. Die aktuellen Diskussionen erzeugen dabei auch Druck: Die Menschen wollen schnelle und einfache Lösungen sehen, die teilweise weder realistisch noch rechtskonform sind, während andere in Berichtserstattung und polizeilichem Vorgehen eine Dramatisierung zulasten ethnischer Minderheiten sehen, die einem kollektiven Rassismus Vorschub leisten.
Auch die Justiz gelangt immer wieder an die Grenzen ihrer Handhabe, wenn Familienmitglieder oder (spontan) Verlobte vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen oder pünktlich zur Gerichtsverhandlung mit neuen Papieren erscheinen, nach welchen sie neuerdings beispielsweise aus Syrien stammen und jünger sind, als sie selbst dachten, oder sie drohen einfach schlicht Richtern und Staatsanwälten, noch häufiger aber den Zeugen,[1] die sich dann im Gerichtssaal an nichts mehr erinnern können bzw. keine Aussage machen wollen,[2] oder es handelt sich um Streit innerhalb der Community, wegen dem sie sich nach blutigen Auseinandersetzungen außergerichtlich geeinigt haben, und verweigern die Aussage.[3]
Clankriminalität betrifft längst nicht nur Sicherheitsbehörden: Betrugsmaschen zur Erschleichung von Leistungen richten sich mitunter gegen die Agentur für Arbeit (AfA), Jobcenter, Kindergeldstellen. So zeigt sich eine Variante des Leistungsmissbrauches im SGB II: Hier behaupten Paare, getrennt zu sein, leben jedoch zusammen. Der Vorteil liegt auf der Hand: Eine Mutter, die mit ihren Kindern eine Bedarfsgemeinschaft bildet, bekommt die vollen Leistungen aus Miete, den Regelhöchstsatz und alle notwendigen Bedarfe, die geltend gemacht werden können (z.B. wenn ein Haushaltsgerät kaputtgeht, etc.). Geht der Mann arbeiten, müsste sein Gehalt angerechnet werden. Ist der Mann erwerbsloser, bedürftiger Leistungsempfänger, stehen auch ihm der Regelhöchstsatz und die Miete für eine Wohnung im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben zu. Seine Wohnung könnte er dann beispielsweise vermieten. In beiden Fällen ergeben sich also widerrechtlich erwirtschaftete finanzielle Vorteile, um die der Staat und die Solidaritätsgemeinschaft bewusst betrogen werden.[4]
Ferner werden Mitarbeiter im öffentlichen Dienst zur Zielscheibe von Gewalt und Einschüchterungsversuchen,[5] wenn sie beantragte Leistungen aus tatsächlichen Gründen vorenthalten oder wie in einem oben dargestellten Fall Ermittlungen einleiten und Strafanzeige erstatten oder zu Unrecht ausgezahlte Gelder zurückfordern.
In dem Spannungsfeld des politischen Diskurses zwischen den Ansichten, ob es sich nun bei Clankriminalität um ein Problem handelt, das bereits zu mächtig geworden ist, als dass man es noch in den Griff bekommen könnte, oder ob es sich um ein willkürlich aufgebauschtes Problem handelt, hilft nur, vorhandene Probleme zu erkennen, Fakten als solche zu benennen und das Thema zu versachlichen. Um das zu können, muss man das Phänomen Clankriminalität und das soziologische Konstrukt Familienclan zunächst verstehen lernen.
Vgl. Henninger, Kriminalistik 12/2002 S.S. 714-729, Nachdruck Kriminalistik 5/2019, S. 282, Hermann, NZZ v. 6.5.2019.
Vgl. Spilcker, Kölner Stadtanzeiger v. 4.9.2019.
N.N., Berliner Morgenpost v. 15.1.2020.
Auf entsprechende Praktiken und Möglichkeiten zur Intervention wird unter Kapitel IV genauer eingegangen.
Vgl. N.N., Focus v. 30.9.2019.
I. Einführung › 2. Zum Nutzen der Kriminologie
Um das Problem Clankriminalität besser zu ergründen, kann die Kriminologie einen wichtigen Beitrag leisten. Die Wissenschaft der Kriminologie (von crimen und logos = Lehre vom Verbrechen) befasst sich mit sämtlichen Facetten kriminellen Verhaltens. Es gibt diverse Ansätze für Definitionen, die allesamt ihre Stärken und Schwächen haben.[1] Darauf, sie aufzuzählen, wird nachfolgend verzichtet, stattdessen kann aber der Charakter beschrieben werden.
Innerhalb der Kriminologie existieren unterschiedliche Richtungen:[2]
Kritische Kriminologie: Sie thematisiert Kontroll- und Kriminalisierungsprozesse, vor allem aber die zuständigen Instanzen (Polizei, Justiz). Diese Richtung ist in erster Linie sozialwissenschaftlich orientiert.
Kriminalpolitische Kriminologie: Diese Richtung befasst sich vor allem mit der Optimierung strafrechtlicher und gesellschaftlicher Kriminalprävention.
Angewandte Kriminologie: Als „Einzelfall-Kriminologie“ ist ihr Praxisfeld vor allem die Strafrechtspflege.
In den vorliegenden Ausführungen geht es vor allem um die kriminalpolitische und die angewandte Kriminologie. In diesem Sinne sollen erfahrungswissenschaftlich fundierte Erkenntnisse der kriminologischen Forschung für die Praxis und für die Beurteilung des konkreten Einzelfalles nutzbar gemacht werden. Aus dem weiten Aufgabenfeld, Kriminalität und kriminelles Verhalten zu erforschen, ergeben sich vielfältige Untersuchungsgegenstände und Aufgabengebiete. Solche, insbesondere auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand von Clankriminalität fokussiert, sind beispielsweise
• | Ätiologie: Ursache für Entstehung von Clankriminalität auch unter Einbeziehung der Herkunfts- und Migrationsgeschichte, sowie den gelebten Normen und Werten. |
• | Phänomenologie: Erscheinungsformen und Beschreibungen zum Untersuchungsgegenstand; Unterschiede und Berührungspunkte zu andern Phänomenen. |
• | Erfassung: Zahlenmaterial (z.B. Mitgliederzahlen, Entwicklungen, Straftaten, etc.¸ Registrierte Kriminalität (Hellfeld) und nicht registrierte Kriminalität (Dunkelfeld). |
• | Kriminalprognose: Voraussage kriminellen Verhaltens und kriminalitätsrelevanter Entwicklungen (Kriminalprognose) unter Einbeziehung der kriminellen Zugkraft von Familie und Milieu. |
• | Kriminalgeografie: Deskriptive (Darstellung Auftreten) und ätiologische (Ursachen für Gruppenbildung an bestimmten Räumen) Verortung von Kriminalität, Tätern und Opfern/entstandenen Schäden. |
• | Viktimologie: Gegen wen richtet sich die Kriminalität? Was charakterisiert die Opfer, in welche Gruppen können sie unterteilt werden und wie kann man sie schützen? Was bedeutet es, wenn die Opfer gleichzeitig Täter sind? |
• | Tätertypologien/Täterprofile: Wer tritt in die Gruppen ein und verübt welche Form von Kriminalität (Motivation); ggf. Darstellung nach Rolle, Funktion und Hierarchieebene als Typologie oder individuelle Profilbeschreibung. |
• | Prävention: Gesamtheit aller Interventionsansätze zur Verhinderung von Kriminalität (primär, sekundär und tertiär), umfasst daher auch alle Arten der Intervention. |
• | Poenologie: Wirkung von Strafen, Kriminaltherapie (Forensik) und ggf. die damit verbundene (kritische) Institutionenforschung. |
Im Kontext der Kriminalwissenschaften bildet die Kriminologie optimaler Weise eine fundierte Basis, auf der Kriminalistik und Kriminalpolitik ansetzen können. Kriminalistik behandelt die methodische Bekämpfung von Kriminalität. Sie ist eine Wissenschaft mit hohem Anwendungsbezug. In dieser Fachdisziplin sind verbrechens-vorbeugende (präventive) und vor allem strafverfolgende (repressive) Maßnahmen eingeschlossen. Die Kriminalistik behandelt somit sämtliche Methoden, Taktiken und Techniken[3], die für den Einzelfall zur Anwendung kommen können. Ziel ist die Vermittlung, Überprüfung und Optimierung für die polizeiliche Ermittlung, die durch forensische (gerichtsfeste) Beweise erfolgen soll, sowie alle rechtlich zulässigen Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren und das Verhindern von Straftaten. Kriminalpolitik umfasst sowohl die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit staatlichen und außerstaatlichen Maßnahmen zum Schutz der Gesellschaft bzw. des einzelnen Bürgers vor Kriminalität als auch sämtliche Maßnahmen als Resultat auf kriminelle Phänomene selbst. Zum anderen kann sie als ein Teilbereich der Sicherheitspolitik verstanden werden.[4] Gerade der Diskurs über kriminalpolitische Maßnahmen, wie neue Möglichkeiten der Sicherheitsbehörden (wie z.B. die Vorratsdatenspeicherung)[5] oder der Umgang mit Kriminalität, z.B. Gewalt gegen Polizeibeamte, Gewalt durch Polizeibeamte, ist Gegenstand der öffentlichen Meinung.
Kriminologie muss als interdisziplinärere Forschungsdisziplin verstanden werden, da sie auf sämtlichen empirischen Wissenschaften basiert, die Erkenntnisse über das Zusammenleben und menschliches Verhalten bieten.[6] Solche Wissenschaften sind vor allem die Psychologie und die Soziologie. Doch gerade Kriminalitätstheorien sind auf vielen weiteren Wissenschaften aufgebaut, sie stellen medizinische, biologische oder mathematische Ansätze dar. Die Interdisziplinarität hat den Vorteil, dass komplexe Fragestellungen nach den Ursachen von Kriminalität aus diversen fachlichen Perspektiven und somit aus einem 360°-Blickwinkel untersucht werden können. Im besten Fall ergänzen sich die fachlichen Perspektiven und Untersuchungsmethoden zu einer Gesamtperspektive. In der Forschungspraxis stößt diese Idealvorstellung allerdings häufig an die Grenzen akademischer Eitelkeiten, in der die Fachdisziplinen und deren Vertreter nicht selten im Konkurrenzverhältnis zueinanderstehen. Dies zeigt sich bereits an den unterschiedlichen Ansätzen von Definition und auch Aufgabenbestimmung, was die Kriminologie sein und können soll. Polizeipraktiker kritisieren zuweilen die kriminologischen Lehren im Studium, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs als zu theoretisch und praxisfern. Die Lehre vom Verbrechen darf sich nicht an unterschiedlichen Streitpunkten zu Sichtweisen über den Verbrechensbegriff oder der Lehre von Kriminalitätstheorien erschöpfen. Kriminologie muss vielmehr Schritt mit aktuellen Entwicklungen halten und kriminelle Phänomene in diesem Kontext behandeln und erläutern.[7] Entsprechend eignet sich gerade die Kriminologie, um den Komplex Clankriminalität genauer zu untersuchen und jede wissenschaftliche Perspektive einzubauen, die nötig ist, um das Phänomen besser zu verstehen und damit zu einer sachorientierten Aufklärung[8] beizutragen.
In der Gegenwart zeigt sich das Phänomen Clankriminalität regelrecht mythenbehaftet, bedrohlich und schwer „von außen“ zu behandeln. Der Beitrag der Kriminologie muss an dieser Stelle sein, ein Basisverständnis auch in kultureller Hinsicht zu schaffen und die Entwicklungen von Migration und Kriminalität umfänglich darzulegen, damit die Probleme treffend beschrieben werden und auf dieser Basis Gegenmaßnahmen, sowohl polizeilicher als auch gesellschaftlicher integrativer Art, eingeleitet oder möglicherweise auch korrigiert werden können.
Dabei darf und soll es auch zu Überschneidungen der Fachbereiche und zu fächerübergreifenden „Verzahnungen“ kommen. Beispielsweise kann auf Grundlage kriminologischer Forschung ein Prognoseinstrument geschaffen werden, das in die Kriminalistik implementiert Anwendungen durch die Beamten im Polizeialltag findet.
Zur Systematik für die Einschätzung von Clankriminalität, den Straftaten und zu überlegenden Maßnahmen geht, bieten sich unterschiedliche Analysemodelle an. Dabei geht es weniger um dogmatische Vorgaben eines festgeschriebenen Modells, sondern vielmehr darum, eine für den Ermittler hilfreiche Systematik zu schaffen. Ein optionales Analysemodell kann nach dem Bestimmungsfeld und nach der strategischen oder operationalen Ausrichtung orientiert sein und sollte den Ist-Stand, eine Analyse zum Bedrohungs- und Entwicklungspotential und Ansätze für Bekämpfungsstrategien beinhalten. Solche könnten sein:
Analysefelder | Strategische Analysen | Operationale Analysen | ||||||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Straftaten |
|
| ||||||||||||
Straftäter |
|
| ||||||||||||
Maßnahmen |
|
|
Mit der Feststellung, dass Gesellschaften niemals statisch, sondern im dauerhaften Wandel existieren, muss auch Kriminalität als durch gesellschaftliche Akteure begangen stets im Wandel begriffen werden. Dies zeigt sich am Beispiel Clankriminalität besonders deutlich. Entscheidend für eine effektive und stets an aktuelle Gegebenheiten angepasste Polizeiarbeit ist daher der Transfer zwischen Polizei und einer umfassenden kriminologischen Wissenschaft, die neue gesellschaftliche und kriminelle Phänomene untersucht. Dabei ist das Verhältnis zwischen Kriminologie als Wissenschaft und Kriminalistik als polizeiliche Praxis nicht ganz einfach. Nach Thomas Ohlemacher gibt es unterschiedliche Erwartungen und Anforderung im Umgang mit Wissen innerhalb von Polizei und Wissenschaft, die teilweise konträr zueinander funktionieren.[9]
Polizei | Wissenschaft |
---|---|
Ausbilden | Erforschen/Bilden |
Komplexität reduzieren | Komplexität erhöhen |
Homogenität | Heterogenität |
Hierarchien einsozialisieren | Hierarchien imitieren (?) |
Bei diesen Unterschieden sollte es jedoch nicht bleiben. Vielmehr muss es darum gehen, einmal Polizei als Institution und polizeiliches Handeln einerseits wie auch Kriminalität auf der anderen Seite wissenschaftlich zu untersuchen und diese Untersuchungen der Polizei so zur Verfügung zu stellen, dass sie wiederum Nutzen für die eigene Arbeit daraus generieren kann. Als Anspruch an die Wissenschaft bedeutet dies, die Komplexität wissenschaftlicher Ergebnisse
• | auf notwendige, polizeirelevante Inhalte zu reduzieren, |
• | diese der Polizei zur Verfügung zu stellen und |
• | Übernahme und Anwendung dieses Wissens durch die Polizei zu evaluieren.[11] |
Der wissenschaftliche Transfer bedarf somit einer gleichen Sach- und Sprachebene sowie eines dauerhaften und gegenseitigen Austauschprozesses. Um Erkenntnisse aus der Kriminologie konkret für kriminelle Taten nutzen zu können, müssen ihre Ergebnisse in den jeweiligen Bezug zu den unterschiedlichen Phasen einer Tat gesetzt werden.
Zeitlicher Bezug zur Tat | Handlungsebene |
---|---|
vor | Risikoeinschätzung |
während | Einsatz |
während/nach | Ermittlung |
nach | Nachbereitung/Aufarbeitung |
nach/vor | Ergebnissicherung |
Anders zusammengefasst: Die Kriminologie beobachtet reale Phänomene (empirischer Zugang), wertet sie aus und bildet eine theoretische Basis. Die Kriminalistik lehrt daran angelehnt die praktischen Maßnahmen und die Kriminalpolitik nimmt gesellschaftliche Entwicklungen, kriminologische Forschung und kriminalistische Bedarfe auf, um die Maßnahmen stetig anzupassen. Zu den Kriminalwissenschaften zählen Juristen noch das Strafrecht als rechtlichen Umgang mit und Reaktion auf Kriminalität.[13]
Vgl. Pientka 2014, S. 146 ff.
Ebd.
Die Kriminaltechnik gehört ebenfalls zur Kriminalistik. Sie befasst sich als eigene Fachdisziplin mit der Anwendung und Nutzbarmachung wissenschaftlicher Erkenntnisse in Bezug auf kriminalistische Spuren (Spurenkunde). Ziel ist das Erstellen eines Spurenbildes, das die Tatumstände sowie die Beweislage aufzeigt.
Sicherheitspolitik soll als sämtliche Handlungen zur Verteidigung der Gemeinschaft verstanden werden, das auf aktivem Handeln und Gestalten zuständiger Akteure beruht; vgl. Böckenförde, in: Böckenförde/Gareis (Hrsg.) 2009, S. 12.
In der rechtspolitischen Debatte bezieht sich der Begriff der Vorratsdatenspeicherung (VDS) meist auf Telekommunikations-Verbindungsdaten. Anbieter von Telekommunikationsdiensten sollten damit zur Registrierung der Verbindungsdaten elektronischer Kommunikationsvorgänge auf einen bestimmten Zeitraum verpflichtet werden; zunächst ohne Anfangsverdacht oder dem Vorliegen einer konkreten Gefahr. Mit Vorliegen eines richterlichen Beschlusses könnte die Polizei dann auf diese Daten zurückgreifen. Aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) v. 21.12.2016 wurde die anlasslose Vorratsdatenspeicherung für illegal erklärt. Damit kann seit dem 1.7.2017 zwar gespeichert werden, die Kommunikationsanbieter müssen dies jedoch bis zu einer abschließenden Klärung nicht.
Schwindt 2016, S. 8 f.
Dienstbühl 2019, S. 52.
Vgl. Schöch, in: Lösel/Bender/Jehle (Hrsg.), S. 54.
Ohlemacher, in: Die Polizei 7/2013, S. 187 ff.
Dienstbühl 2019, S. 55.
Ebd.
Dienstbühl 2019, S. 56.
Ebd.
I. Einführung › 3. Aussagekraft von Statistiken und Lagebildern im Zusammenhang mit Clankriminalität