Alva lag im Bett und kuschelte sich in ihre Bettdecke. Aufgeregt öffnete sie den Brief von ihrem Bruder, den sie heute Vormittag bekommen hatte. Im Schein der Leselampe faltete sie das Briefpapier auseinander und … starrte überrascht auf das Blatt. War das sein Ernst?
Carlos’ Schrift war nie einfach zu lesen. Aber das hier? Hieroglyphen wären leichter zu entziffern.
Mühsam kämpfte Alva sich durch den Buchstabensalat.
Okay! Das erklärte zumindest dieses Chaos auf dem Blatt. Aber warum schrieb Carlos heimlich?
Grinsend schaute Alva auf und blinzelte ein paar Mal. Dieses Gekrakel war schwer zu lesen, aber die Vorstellung, wie ihr kleiner Bruder ihren Vater zur Verzweiflung brachte, war sehr lustig!
Irritiert hob Alva den Kopf und rümpfte die Nase. Irgendwie stank es in ihrem Zimmer nach Mist. Oh nein, war das etwa ihre Jeans? Das konnte doch gar nicht sein. Sie war heute Nachmittag beim Talenttraining nicht mal im Stall gewesen, sondern nur draußen bei den Koppeln.
Seit ein paar Wochen besuchte Alva die SCHOOL OF TALENTS. Hier hatte jedes Kind eine ungewöhnliche Begabung. Manche konnten sich verwandeln, durch Wände gehen, ihre Körpergröße verändern … so was eben. Alva konnte Tiere reden hören, oder vielleicht auch denken hören. Da war sich niemand wirklich sicher.
Dafür gab es hier das Fach Talenttraining. Dort lernten alle, ihre Fähigkeiten zu steuern, was mal mehr und mal weniger gut funktionierte. Bei Alva eher weniger gut.
Alva seufzte. In ihrem Zimmer roch es nicht nur nach Bauernhof, es war auch tierisch laut. So laut, dass sie es kaum schaffte, sich auf den Brief zu konzentrieren. Vor ihrem Zimmerfenster tummelten sich jede Menge Tiere in der Dämmerung. Und Alva konnte sie alle verstehen. Sie wusste, dass die Fledermäuse um die Wette flogen, ein Igel vor sich hin jammerte,weil er sich verlaufen hatte, und die Siebenschläfer eine rauschende Party feierten, weil sie den Nussvorrat eines Eichhörnchens gefunden hatten.
Manchmal schaffte es Alva inzwischen mit großer Anstrengung, einzelne Stimmen in ihrem Kopf leiser zu kriegen.
Doch da draußen war einfach zu viel los.
Leider bestand Alvas Mitbewohnerin Friederike darauf, dass das Fenster geöffnet blieb. Alva hörte, wie sie im Nachbarbett eine Seite in ihrem Buch umblätterte und leise vor sich hin kicherte.
„Ist dein Buch lustig?“, fragte Alva. Lachen war sonst eher nicht so Friederikes Ding.
„Hmm“, brummte Friederike statt einer Antwort und zog die Bettdecke über die Schulter.
Alva presste die Lippen aufeinander und bereute, überhaupt etwas gesagt zu haben. Friederikes Brummeln zeigte mehr als deutlich, dass sie keine Lust hatte, sich mit Alva zu unterhalten. Ihre Mitbewohnerin und sie hatten sich von der ersten Minute an nicht leiden können. Deshalb herrschte meistens Funkstille zwischen ihnen.
Alva las ihren Brief weiter.
Onkel Thomas war der Bruder ihrer Mutter, aber auch der Direktor der SCHOOL OF TALENTS. Hier nannten ihn alle Direktor Franzen. Er hatte Alva angeboten, an die Schule zu kommen, damit sie lernen konnte, ihre Fähigkeiten zu steuern.
Alvas Ziel war es, keine Tiere mehr zu hören. Eigentlich hatte sie nur drei Wochen bleiben wollen, doch ein Talent zu beherrschen war ziemlich kniffelig. Also hatte sie verlängert.
Und manchmal war sie sich nicht mehr sicher, ob sie überhaupt wieder gehen wollte. Tagsüber fand sie es ziemlich lustig hier. Doch abends wäre sie viel, viel lieber in ihrem Zimmer zu Hause bei ihrer Familie. Onkel Thomas zählte da nicht wirklich, der war eben eher der Schulleiter.
Trotzdem wollte sie natürlich wissen, was Carlos über ihren Onkel erfahren hatte. Sie suchte die Stelle im Text, um weiterzulesen.
Zack!
Plötzlich ging das Licht aus. Im Zimmer wurde es dunkel.
„Was soll denn das schon wieder?“, murrte Friederike aus dem Nachbarbett.
„Ich war’s nicht!“, beeilte sich Alva zu sagen.
„Hab ich auch nicht behauptet“, antwortete Friederike sofort genervt.
Da hörten sie die Hauslehrerin Frau Molina von draußen rufen: „Mädchen! Mädchen! Kommt bitte alle aus euren Zimmern, aber pronto. Keine Panik! Wir haben nur einen Stromausfall.“
„Wie soll man wegen etwas Panik bekommen, das ständig passiert?“, murmelte Friederike.
Alva gab ihr insgeheim recht. Stromausfälle waren zurzeit fast an der Tagesordnung. Sie hatte sich schon total daran gewöhnt, dass es plötzlich dunkel wurde.
Friederike öffnete die Zimmertür. Das Licht von Frau Molinas Taschenlampe aus dem Flur reichte Alva, um ihren Hoodie am Fußende des Betts zu entdecken. Sie schnappte ihn sich und steckte Carlos’ Brief in die Bauchtasche.
Leises Gemurmel empfing sie auf dem Flur. Alva kannte zwar alle Mädchen aus ihrem Wohnhaus, doch im Dämmerlicht war es schwer, sie zu erkennen.
„Keine bewegt sich!“, rief auf einmal ein Mädchen vor Alva. „Ich glaube, Tabea hat sich verwandelt!“
„In was?“, fragte Alva leise, als plötzlich etwas Kaltes über ihren Fuß kroch. Sie biss sich auf die Zunge, um nicht laut loszukreischen. „Sie tut dir nichts. Das ist Tabea. Sie tut dir nichts“, flüsterte sie leise vor sich hin.
„Iiiiiiih“, gellte ein Schrei etwas weiter hinten durch die Dunkelheit. „Frau Molina, Frau Molina, da war etwas Ekeliges an meinem Bein!“
Alva sah den Schatten eines Mädchens rumhüpfen. Und auch andere unterdrückten erschrockene Laute oder schüttelten sich angeekelt.
„He, bleibt stehen, das ist Tabea“, schimpfte das Mädchen vor Alva.
Am Ende des Gangs schwenkte Frau Molina ihre Taschenlampe wild hin und her.
„Wenn da mal nicht gleich ein Flugzeug landet, hab ich keinen Plan, was sie von uns will“, hörte Alva Mala hinter sich flüstern. Kichernd schob sie sich zu ihrer Freundin durch.
„Silenzio, meine lieben Mädchen“, rief Frau Molina. Das hieß „Ruhe“ und war italienisch. Frau Molina redete ständig in zwei Sprachen. Alva hatte sich daran fast schon gewöhnt. „Niemand tritt auf die Schlange. Nehmt sie bitte hoch!“, befahl die Lehrerin.
„Dazu müssten wir sie erst mal sehen“, brummte Mala.
„Kann sich mal jemand in ein riesiges Glühwürmchen verwandeln?“, rief eines der Mädchen.
Sofort zuckten kleine Funken über den Flur.
„Nein, Martha, nicht!“, hörte man wieder Frau Molinas Stimme. „Keine Feuerbälle schmeißen. Das ist zu gefährlich.“
Mala bückte sich und versuchte, die riesige Schlange hochzuheben, die sich mittlerweile fast durch den ganzen Raum schlängelte. „Meine Güte, Tabea, bist du schwer!“, stöhnte sie.
Alva blieb nichts anderes übrig, als mit anzupacken. Sie fand Schlangen echt unheimlich und hatte Angst vor ihnen. Und obwohl Alva sich ständig sagte, dass das hier keine echte Riesenanakonda war, ekelte sie sich total und hoffte, Tabea würde sich ganz schnell wieder zurückverwandeln.
Da erklang erneut Frau Molinas Stimme. „Ich rufe eure Namen und ihr meldet euch!“, erklärte sie den Schülerinnen auf dem Gang.
„Aber pronto, bitte!“, rief eines der Mädchen. „Tabea wiegt fast eine Tonne!“
„Also, leise sein. Allora, beginnen wir: Mala Bamadio!“
„Hier!“, rief Mala durch den Flur.
„Ist das nicht merkwürdig?“, flüsterte Alva leise in Malas Richtung, während um sie herum „Hier“ gerufen wurde. „Der wie vielte Stromausfall ist das eigentlich?“
„Der vierte in zwei Wochen“, antwortete Mala.
Alva schüttelte den Kopf. „Ist das früher schon passiert?“ Mala war schon viel länger auf der SCHOOL OF TALENTS als Alva.
Anstelle von Mala hörte Alva Lenni, Malas Zimmernachbarin, antworten: „Also ich kann mich nicht erinnern.“
Und auch Mala meinte: „Noch nie, seit ich hier bin.“
„Tabea Reinhard“, rief Frau Molina.
Stille.
„Tabea Reinhard?“, wiederholte die Lehrerin.
„Hier!“, hörte Alva ein Mädchen direkt vor sich rufen.
Alva musste sich beherrschen, nicht augenblicklich das Vieh in ihren Händen loszulassen. Wenn Tabea dort vorne stand, wen hielten sie dann fest?
Mala bemerkte offenbar ihre Verwunderung. „Emma hat für Tabea geantwortet, du Heldin“, kicherte sie.
„Sicher?“, fragte Alva.
„Ah, schön, die Schlange lässt für sich sprechen. Danke, Emma“, bemerkte auch Frau Molina und rief den nächsten Namen der Liste auf.
„Alva Schröder?“
„Hier!“, sagte Alva laut.
Neben ihr fragte Mala: „Sollten wir für solche Fälle nicht Taschenlampen in unseren Zimmern haben?“
„Schon, aber die meisten waren doch kaputt und mussten repariert werden“, wisperte Lenni.
„Ich habe gehört, dass alle Taschenlampen von der Insel verschwunden sind“, flüsterte eines der anderen Mädchen.
Das alles war irgendwie sehr merkwürdig.