Robert Ludlum (1927—2001) zählt zu den erfolgreichsten Autoren der Welt, seine Thriller faszinieren seit vierzig Jahren ein Millionenpublikum. Seine beispiellose Schriftstellerkarriere nahm im Jahre 1971 seinen Anfang, als sein Debütroman sozusagen aus dem Stand Platz Eins der Bestsellerliste erreichte. Dieser Erfolg erlaubte es Ludlum, sich fortan nur noch dem Schreiben zu widmen. Inzwischen wurden viele seiner Romane, allen voran die Bestseller um den Agenten Jason Bourne, erfolgreich verfilmt. Allein im deutschsprachigen Raum wurden über 7 Millionen seiner Bücher verkauft.
Robert Ludlum wurde am 25. Mai 1927 in New York City geboren. Mit vierzehn Jahren verlässt er sein Elternhaus, um zur Bühne zu gehen. Nachdem er von seiner Mutter nach Hause zurückgeholt wird, schafft er drei Jahre später den Absprung und geht zunächst zum Militär. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs beginnt er eine Karriere als Schauspieler. Trotz seines Erfolges am Theater, im Fernsehen und auch als Produzent beschließt er mit vierzig, diese Karriere an den Nagel zu hängen und studiert Kunstgeschichte. Seine »vierte« Karriere als Schriftsteller beginnt 1971 mit seinem ersten Buch Das Scarlatti-Erbe, an dem Ludlum achtzehn Monate arbeitet und welches auf Anhieb Platz eins der Bestsellerlisten erreicht. Als ähnlich erfolgreich erweisen sich auch alle folgenden Ludlum-Romane wie zum Beispiel Das Osterman-Wochenende, Die Scorpio-Illusion oder Der Ikarus-Plan. Seine Erfahrung als Schauspieler kommt ihm auch beim Schreiben zugute: »Man lernt, wie man die Aufmerksamkeit des Publikums behält«, erklärt Ludlum. Jeden Morgen sitzt er um 4.30 Uhr an seinem Schreibtisch, um in Ruhe an seinen Thrillern zu arbeiten. Seine Bücher werden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, in mehr als 40 Ländern veröffentlicht und erreichen eine Auflage von über 300 Millionen Exemplaren. Zahlreiche seiner Romane wurden erfolgreich verfilmt, zuletzt die legendären Bourne-Thriller mit Matt Damon in der Hauptrolle. Robert Ludlum lebte bis zu seinem Tod am 12. März 2001 mit seiner Frau Mary und seinen Kindern in Florida und Connecticut.
»Der größte Thrillerautor aller Zeiten.« The New Yorker
»Robert Ludlum ist der perfekte Thrillerautor.« Newsweek
Herbst in New Hampshire. Einmal überzogen arktische Winde das Land mit eisiger Kälte, dann wieder erwachte die Natur zu pulsierendem Leben und leuchtete in tausend herbstlichen Farben, denn die Sonne weigerte sich hartnäckig, dem langsam näherrückenden Winter nachzugeben.
Havelock legte den Telefonhörer auf. Er saß auf der verglasten Veranda, die er, weil Jenna es unbedingt so wollte, zu seinem Arbeitszimmer gemacht hatte . . . Sie hatte ihn vor längerer Zeit beobachtet, als er durch die Wohnzimmertür des alten Hauses gegangen und stehengeblieben war, fasziniert von dem Anblick der Landschaft. Ein Schreibtisch, Bücherregale an der Wand und zusammengewürfelte, bequeme Möbel hatten aus dem kahlen, leeren Raum eine seltsame, luftige Behausung gemacht, geschützt von durchsichtigen Wänden, die die Sicht auf die Felder und den Wald nicht störten, der ihm so viel bedeutete. Das hatte sie verstanden, und dafür liebte er sie. Was er von seinem Platz aus sehen konnte, war nicht nur das hohe Gras und die dichtbelaubten Bäume in der Ferne, sondern eine im stetigen Wandel begriffene Landschaft—seine Zuflucht.
Und auch die angstvollen Erinnerungen waren da, wallten plötzlich in ihm auf, rückten bedrohlich nahe, bis er sich bewegen mußte, um sie zu unterdrücken.
Und tief in seinem Inneren wütete ein Fieber, weil Ihr Schweine ihn vergiftet hattet. Ihr habt ihn mit . . . Raserei gefüttert. Und er hat es gebraucht, wie ein Süchtiger seinen Schuß. Dr. Matthew Randolph, ein Toter, der von einem anderen Toten sprach . . . und so vielen anderen.
Sie hatten darüber gesprochen, Jenna und er, über sein Fieber, das ihn gelegentlich packte, und sie war der einzige Arzt, den er brauchte. Bei langen Spaziergängen mit ihr mußte er plötzlich losrennen, bis er schweißnaß war und sein Puls raste. Aber dann verging das Fieber immer wieder, und die Waffen schwiegen.
»Mikhail?« Der vergnügte Ruf war begleitet vom Öffnen und Schließen der Tür hinter dem Wohnzimmer.
Jenna trat in die sonnendurchflutete Veranda, das Licht fing sich in ihrem langen blonden Haar, das ihr unter einer dunklen Wollmütze über die Schultern fiel. Sie hatte ihre Tweedjacke zugeknöpft, um die herbstliche Kühle draußen abzuhalten. Sie ließ eine Segeltuchtasche zu Boden sinken, ging zu ihm und küßte ihn leicht auf die Lippen. »Da sind die Bücher, die du haben wolltest. Hat jemand angerufen?« fragte sie und zog die Jacke aus.
»Ja. Berquist.«
Jenna erstarrte. »Seitdem du ihm deinen Bericht geschickt hast, hat er nicht mehr versucht, dich zu erreichen.«
»Er hat meine Bitte respektiert. Ich habe ihm gesagt, daß er uns allein lassen soll.«
»Warum ruft er dich dann jetzt an? Was will er?«
»Gar nichts. Er wollte nur, daß ich auf dem laufenden bin.«
»Worüber?«
»Loring ist durchgekommen, aber er wird nie wieder im Außendienst eingesetzt werden können.«
»Das freut mich. Beides.«
»Hoffentlich wird er damit fertig.«
»Bestimmt. Die werden ihn zum Strategen machen.«
»Das habe ich auch vorgeschlagen.«
»Das dachte ich mir.« Jenna ging zu ihrer Tasche zurück und nahm die Bücher heraus. »Ich habe mit Harry Lewis Kaffee getrunken. Ich glaube, langsam sammelt er seinen ganzen Mut, um es dir zu sagen.«
»›Birchtree‹?« Michael lächelte. »Das wird etwas, das er seinen Enkelkindern erzählen kann. Professor Harry Lewis, Geheimagent, mit Codenamen.«
»Ich glaube nicht, daß er so schrecklich stolz darauf ist.«
»Warum nicht? Er hat nichts Unrechtes getan, und er hat es besser gemacht als die meisten. Außerdem hat er mir einen Job verschafft, der mir sehr gefällt . . . Laden wir doch Harry und seine Frau zum Abendessen ein, und wenn das Telefon klingelt — glaub mir, es wird klingeln —, dann werde ich sagen, jemand möchte ›Birchtree‹ sprechen.«
»Du bist unmöglich«, sagte Jenna und lachte. Havelocks Lächeln erstarrte. »Ich bin nervös«, sagte er.
»Das war der Anruf.«
»Ich werde so verdammt . . . unruhig.« Er sah sie an.
»Machen wir einen Spaziergang.«
Sie stiegen die steilen Hügel ein paar Meilen westlich von ihrem Haus hinauf, und das hohe Gras bog sich unter dem Wind. Die Erde war hart, von der Sonne ausgedörrt, und der Himmel von leuchtendem Blau, mit weißen Wolkentupfern darauf. Unter ihnen, im Norden, schlängelte sich ein plätschernder Bach durch die Wiesen.
»In Prag haben wir einmal Picknick gemacht«, sagte Michael und blickte hinunter. »Erinnerst du dich? Damals floß die Moldau unter uns.«
»Wir werden hier Picknick machen«, antwortete Jenna und sah ihn an. »Gekühlter Wein, Salat . . . diese schrecklichen Sandwiches, die du so magst.«
»Mit Schinken, Käse, Sellerie, Zwiebeln und Senf.«
»Ja«, sagte sie und lächelte.
»Wenn ich berühmt wäre, würde man das Sandwich nach mir benennen. Es würde seinen Siegeszug über das Land antreten und auf jeder Speisekarte stehen.«
»Dann halte dich besser nur im Hintergrund, Liebling.«
Er erwiderte ihr Lächeln, und dann verblaßte es. »Du bist stärker als ich, Jenna.«
»Wenn du das glauben willst, schön, aber es stimmt nicht.«
»Sie kommt immer wieder . . . die Rastlosigkeit.«
»Das sind deine Depressionen, Mikhail. Sie werden immer seltener, das wissen wir beide.«
»Trotzdem kommt die Unruhe immer wieder, und dann gibst du mir Halt. Umgekehrt brauchst du meinen Beistand nicht.«
»Doch, mehr als du denkst.«
»Aber nicht auf diese Weise.«
»Ich habe auch bei weitem nicht so viel durchgemacht wie du. Und dann ist da noch etwas. Es war immer deine Verantwortung, nicht meine. Jede Entscheidung, die du treffen mußtest, kostete dich ein Stück von dir. Ich hingegen konnte mich verstecken . . . hinter dir. Ich hätte nie das tun können, was du getan hast. Dazu hätte mir ganz einfach die Kraft gefehlt.«
»Das ist nicht wahr.«
»Dann eben das Stehvermögen. Und das ist wahr. All die Monate, in denen ich auf der Flucht war, mußte ich immer wieder anhalten, bleiben, wo ich war, und nichts tun, an nichts denken. Ich konnte einfach nicht mehr. Du hast dich immer weiter getrieben, dich nie aufgegeben, weder als Kind noch als Mann.«
»Ein Kind«, sagte Havelock und blickte auf den Bach unter ihnen. »Ein kleiner Junge, ich sehe ihn, ich fühle ihn, aber ich kenne ihn nicht wirklich. Doch ich erinnere mich an ihn. Wenn er schrecklichen Hunger hatte oder müde war oder Angst hatte einzuschlafen, dann kletterte er bei Tagesanbruch auf einen Baum und sah sich nach feindlichen Streifen um. Wenn er keine entdeckte, kletterte er wieder herunter und rannte so schnell er konnte durch die Felder, schneller und schneller . . . nach einer Weile fühlte er sich wieder wohl, irgendwie. . . zuversichtlich. Und dann fand er in irgendeiner Schlucht einen Graben oder eine verlassene Scheune, und der Schlaf stellte sich ein.«
Jenna berührte seinen Arm, sah ihn aufmerksam an, und langsam überzog ein Lächeln ihr Gesicht. »Dann laufe doch jetzt, Mikhail. Lauf den Hügel hinunter und warte unten auf mich. Los schon, du Faulpelz! Los!«
Er rannte, und seine Beine flogen durch die Luft, seine Füße trommelten auf die Erde. Der Wind peitschte sein Gesicht, kühlte die Haut. Rasch erreichte er den Fuß des Hügels, und seine Brust dehnte sich mit jedem Atemzug. Das Fieber verging und würde bald ganz verschwinden.
Er blickte zu Jenna hinauf, sah die Sonne hinter ihr und den blauen Himmel. Und dann schrie er: »Komm schon, du Faulpelz. Ich will mit dir um die Wette ums Haus laufen. Unserem Haus!«
»Ich werd’ dir im letzten Augenblick ein Bein stellen!« rief ihm Jenna zu, die schnell den Hügel herunterkam. »Du weißt, daß ich das kann.«
»Es wird dir nichts nützen!« Michael holte einen glänzenden Gegenstand aus der Tasche. »Ich hab’ den Schlüssel für die Tür! Unsere Tür!«
»Dummerchen!« sagte Jenna und fing an zu rennen. »Du hast nicht abgesperrt! Wir haben sie nie abgesperrt!«
Jetzt war sie bei ihm, und sie hielten sich in den Armen.
»Das brauchen wir nicht«, sagte er, »jetzt nicht mehr.«
Kaltes Mondlicht strömte vom dunklen Nachthimmel, spiegelte sich in der Brandung und brach sich dort, wo einzelne Wellen gegen die Felsen der Küste anrannten und weiße Gischt aufschäumte. Der Strandstreifen zwischen den hoch aufragenden Felsen der Costa Brava war der Hinrichtungsort. Es mußte sein. Mochte Gott diese gottverdammte Welt verdammen. Es mußte sein.
Jetzt konnte er sie sehen. Und sie hören durch die Geräusche der See und der tosenden Brandung hindurch. Sie rannte und schrie hysterisch.
»Pro boha žiwého! Proč! Coto děláš! Přestaň! Proč! Proč!«
Das Mondlicht fiel auf ihr blondes Haar. Der Strahl einer Taschenlampe, fünfzig Meter hinter ihr, fing ihre Umrisse ein. Sie stürzte; der Abstand wurde kleiner, und das Stakkato einer Maschinenpistole drängte sich abrupt in die Dissonanzen der Nacht. Kugeln ließen den Sand und das wild wachsende Gras rings um sie explodieren. In ein paar Sekunden würde sie tot sein.
Und mit ihr seine Liebe.
Vom hohen Hügel schweifte ihr Blick über die Moldau, wo Boote stromaufwärts und -abwärts das Wasser durchpflügten. Über den Fabriken kräuselte Rauch empor, verteilte sich am hellen Nachmittagshimmel und verdeckte die Berge in der Ferne, und Michael beobachtete den verschleierten Horizont und wartete darauf, daß Wind aufkommen und den Rauch wegblasen würde, so daß er die Berge wieder sehen konnte. Sein Kopf lag auf Jennas Schoß, mit den ausgestreckten Beinen berührte er den Weidenkorb, den sie mit belegten Broten und gekühltem Wein gefüllt hatte. Sie saß im Gras, den Rücken an die glatte Rinde einer Birke gelehnt, und strich über sein Haar. Ihre Finger umkreisten sein Gesicht, zogen sanft seine Lippen und seine Wangenknochen nach.
»Mikhail, mein Liebster, ich habe gerade nachgedacht. Weder deine Tweedjacketts noch die dunklen Hosen, auch nicht dein gepflegtes Englisch, das du dir auf einer sehr exklusiven Universität zugelegt haben mußt, können darüber hinwegtäuschen, daß Michael Havelock als Mikhail Havliček in Lidice geboren worden ist.«
»Das eine ist eine Art Uniform, und das andere lernt man irgendwie, um seine Haut zu retten.« Er lächelte und berührte ihre Hand. »Außerdem liegt dieser Universitätsbesuch weit zurück.«
»So vieles geschah vor langer Zeit! Direkt dort unten.«
»Vorbei.«
»Du warst dabei, mein armer Liebling.«
»Das ist Vergangenheit. Ich habe überlebt.«
»Viele aber nicht.«
»Vergessen wir’s.«
Die blonde Frau erhob sich, drehte sich im Sand, taumelte nach rechts und wich für ein paar Sekunden dem Lichtstrahl aus. Sie strebte geduckt auf den Feldweg oberhalb des Strands zu, hielt sich in der Finsternis, wobei sie das hohe Gras als Deckung nutzte.
Es wird ihr nicht helfen, dachte der große Mann im schwarzen Pullover auf seinem Posten zwischen zwei Bäumen oberhalb der Straße. In wenigen Augenblicken würde die von Panik erfüllte Frau tot sein. Er hatte schon einmal auf sie hinuntergeblickt, das war noch gar nicht lange her. Damals hatte keine Panik sie erfüllt, sondern Leidenschaft.
Langsam, vorsichtig zog er den Vorhang in dem dunklen Bürozimmer zurück, den Rücken gegen die Wand gepreßt, und bewegte sein Gesicht zentimeterweise auf das Fenster zu. Er konnte sie unten sehen, wie sie über den hellerleuchteten Hof ging, konnte hören, wie ihre hohen Absätze auf dem Kopfsteinpflaster klickten und zwischen den Gebäuden, die den Hof umgaben, ein martialisches Echo erzeugten. Die Posten standen reglos im Schatten. In ihren Uniformen von sowjetischem Schnitt wirkten sie wie starre Marionetten. Köpfe drehten sich, verrieten billigende Blicke, die auf die langbeinige Gestalt gerichtet waren, die mit geradezu provozierendem Selbstvertrauen auf das eiserne Tor inmitten des Zauns zuging, der den Häuserkomplex umschloß, in dem Prags Geheimpolizei ihr Hauptquartier hatte. Die Gedanken hinter den Blicken waren klar: Das war nicht nur eine Sekretärin, die Überstunden machte, das war eine privilegierte »Kurva«, die sich die ganze Nacht durch von einem Kommissar auf seiner Couch diktieren ließ.
Natsztrzency chlopak!
Aber auch andere beobachteten sie, ebenfalls hinter verdunkelten Fenstern. Nur ein winziges Stocken in ihrem selbstbewußten Schritt, ein einziger Augenblick des Zögerns, und jemand würde zu einem Telefonhörer greifen und der Torwache Anweisung geben, sie festzuhalten. Natürlich galt es, den Kommissaren alles Peinliche zu ersparen, aber nicht, wenn ein Verdacht berechtigt schien.
Es gab kein Zögern, kein Stocken. Sie stand es durch . . . schaffte es! Sie hatten es geschafft! Plötzlich spürte er einen hohlen Schmerz in der Brust; er wußte, was es war: Furcht, nackte, quälende Furcht. Und während er sie beobachtete, wanderten seine Gedanken zurück zu einer Stadt, die in Schutt und Asche lag, zu den schrecklichen Geräuschen einer Massenhinrichtung. Lidice. Und da war ein Kind — eines von vielen Kindern —, das über aufwallenden, grauen, rauchenden Schutt huschte, Botschaften überbrachte und die Taschen voller Sprengstoff hatte. Ein einziges Zögern, ein einziges Stocken . . . Vergangenheit.
Sie erreichte das Tor. Ein beflissener Posten gestattete sich ein feistes Grinsen. Sie war betörend. Herrgott, wie er sie liebte!
Jetzt hatte sie die Straßenböschung erreicht, und ihre Beine und Arme arbeiteten wie wild, gruben sich in den Sand und den Schmutz. Aber es gab kein Entrinnen. Sie mußte sich aufrichten, um weiterzurennen, und konnte sich nicht mehr hinter der Böschung verbergen. Man würde sie sehen, der Lichtstrahl würde sie erfassen, und dann würde schnell das Ende kommen.
Während er die fliehende Frau mit seinem Blick verfolgte, unterdrückte er seine Gefühle und den Schmerz in seiner Brust. Er mußte so reagieren. Sein Beruf zwang ihn dazu. Er hatte die Wahrheit erfahren: Ihr Erscheinen an diesem Strand an der Costa Brava bestätigte ihre Schuld und ihre Verbrechen. Die von Panik erfüllte Frau dort unten war eine Killerin, eine Agentin der berüchtigten Voennaja Kontra Rozvedka, jener brutalen Abteilung des sowjetischen KGB, der überall den Terrorismus schürte — das war die unwiderrufliche Wahrheit. Er hatte alles gesehen, hatte von Madrid aus mit Washington gesprochen. Das Rendezvous in jener Nacht war von Moskau befohlen worden; dabei sollte die VKR-Außenagentin Jenna Karras einer Untergruppe der Rote Armee Fraktion Deutschlands, die sich kurz RAF nannte, einen Mordplan übermitteln. Das war die Wahrheit.
Doch diese Wahrheit machte ihn nicht frei. Vielmehrzwang sie ihn zu einer unvermeidlichen Konsequenz. Jene, die Verrat übten und Makler des Todes waren, mußten sterben. Gleichgültig, um wen es sich handelte . . . Michael Havelock hatte seine Entscheidung getroffen, und auch die war unwiderruflich. Die letzte Phase des Plans, der die Frau in die tödliche Falle locken sollte, hatte er selbst vorbereitet. . . Er hatte mitgeholfen, die Frau zu töten, die ihm eine kurze Zeit mehr Glück gegeben hatte als irgendein anderer Mensch auf der Erde. Doch zuzulassen, daß sie weiterlebte, würde den Tod Hunderter, vielleicht Tausender bedeuten. Unwiderruflich.
Was Moskau nämlich nicht wußte, war, daß das CIA die VKR-Codes geknackt hatte. Er selbst hatte den letzten Funkspruch an ein Boot abgesetzt, das eine halbe Meile vor der Küste der Costa Brava ankerte. KGB-Bestätigung. Offizierkontakt durch US-Abwehr gefährdet. Pläne falsch. Eliminieren. Die Codes gehörten zu den sichersten, die es gab. Sie würden die Eliminierung garantieren.
Jetzt richtete sie sich auf, und ihr schlanker Körper wurde hinter der Böschung sichtbar. Nun mußte es geschehen. Er liebte die Frau, die gleich sterben würde. Auch das war gewiß. Dieses Gefühl ruhte irgendwo tief in ihrem Bewußtsein. Sie waren einander in den Armen gelegen und hatten von einem gemeinsamen Leben gesprochen, von Kindern, die noch nicht geboren waren, die sie sich aber wünschten, vom Frieden und vom tiefen Wohlbehagen, wenn sie spürten, eins zu sein . . . Daran hatte er einmal geglaubt, aber es sollte nicht sein.
Die Wahrheit.
Sie lagen im Bett. Ihr Kopf ruhte auf seiner Brust. Ihr weiches blondes Haar fiel über ihr Gesicht. Er wischte es zur Seite, hob die Strähnen auf, die ihre Augen verbargen, und lachte. »Du versteckst dich«, sagte er.
»Es scheint, daß wir uns immer verstecken«, erwiderte sie und lächelte traurig. »Nur dann nicht, wenn wir absichtlich von Leuten gesehen werden wollen. Alles ist Berechnung, Mikhail, alles ist reglementiert. Mir kommt es so vor, als lebten wir in einem beweglichen Gefängnis.«
»Das ist noch nicht lange so, und es wird auch nicht für immer sein.«
»Wahrscheinlich nicht. Eines Tages werden sie feststellen, daß sie uns nicht länger brauchen und womöglich gar nicht mehr haben wollen. Werden sie uns dann gehenlassen, was meinst du? Oder werden wir verschwinden?«
»Washington ist nicht Prag, auch nicht Moskau. Wir werden unser bewegliches Gefängnis verlassen, ich mit einer goldenen Uhr und du mit einer Art stummen Orden in deinen Papieren.« »Bist du sicher? Wir wissen viel. Zuviel vielleicht.«
»Uns schützt gerade das, was wir wissen. Was ich weiß. Die werden sich immer fragen: Hat er es irgendwo aufgeschrieben? Wir müssen aufpassen, ihn beobachten, nett zu ihm sein . . . Das ist gar nichts Ungewöhnliches. Wir werden einfach weggehen.« »Immer redest du von Schutz«, sagte sie und zog seine Augenbrauen nach. »Du vergißt das nie, nicht wahr? Die frühen Tage, die schrecklichen Tage.«
»Das ist Vergangenheit. Ich habe es vergessen.«
»Was werden wir tun?«
»Leben. Ich liebe dich.«
»Glaubst du, wir werden einmal Kinder haben? ihnen nachblicken, wenn sie zur Schule gehen, sie an uns drücken, uns über sie ärgern? Oder sie zum Hockey begleiten?«
»Football . . . oder Baseball. Nicht Hockey. Ja, ich hoffe schon.«
»Was wirst du tun, Mikhail?«
»Als Dozent arbeiten, denke ich. Irgendwo an einem College. Ich habe ein paar Diplome, die aussagen, daß ich dafür qualifiziert bin. Wir werden glücklich sein, das weiß ich. Ich verlasse mich darauf.«
»Was willst du lehren?«
Er sah sie an und berührte ihr Gesicht; dann wanderten seine Augen zu der schäbigen Decke in dem heruntergekommenen Hotelzimmer. »Geschichte«, sagte er. Und dann griff er nach ihr, nahm sie in die Arme.
Gab es denn keine Wahrheit mehr? Überhaupt keine?
Der Lichtbalken wanderte durch die Dunkelheit. Schließlich erfaßte er sie. Sie glich einem brennenden Vogel, der versuchte, zum Himmel aufzusteigen. Dann folgten die Schüsse . . . Terroristenschüsse für eine Terroristin. Die Frau bäumte sich nach hinten, die ersten Kugeln trafen sie am Ansatz ihrer Wirbelsäule. Sekunden später folgten drei einzelne Schüsse, sie hatten etwas Endgültiges an sich, ein Scharfschütze am Werk; sie trafen sie am Nacken und in den Kopf und warfen sie nach vorn in den Sand. Ihre Finger krallten sich in die Erde, ihr mit Blut überströmtes Gesicht war barmherzig verborgen. Ein letztes Zucken, dann hörte jegliche Bewegung auf.
Seine Liebe war tot. Er hatte getan, was er hatte tun müssen, ebenso wie sie. Jeder hatte recht, genauso wie jeder unrecht hatte, und am Ende so schrecklich unrecht. Er schloß die Augen und spürte die ungewollten Tränen.
Warum mußte es so sein? Wir sind doch Narren. Noch schlimmer, wir sind dumm. Wir reden nicht; wir sterben lieber. Deshalb können uns Männer mit glatter Zunge und kühlem Verstand sagen, was recht ist und was unrecht — in weltpolitischer Hinsicht, müssen Sie verstehen —, was wiederum bedeutet, daß das, was einem diese Männer auch erzählen, unser naives Vorstellungsvermögen übersteigt.
Was wirst du tun, Mikhail?
Als Dozent arbeiten, denke ich. Irgendwo an einem College . . . Was willst du lehren?
Geschichte . . .
Jetzt war alles Geschichte. Erinnerungen an Dinge, die zu schmerzhaft waren. Laß dich nicht mehr davon berühren. Sie können nicht länger Teil meiner selbst sein, ebensowenig wie sie, wenn sie das überhaupt je war, auch wenn sie es immer vorgab. Und doch werde ich jetzt ein Versprechen halten, nicht ihr gegenüber, sondern mir. Ich bin am Ende. Ich werde verschwinden, in ein anderes Leben, in ein neues Leben. Ich werde irgendwo hingehen, irgendwo unterrichten.
Geschichte.
Er hörte die Stimmen und schlug die Augen auf. Unten hatten die Killer der RAF die verurteilte Frau erreicht, die im Tode ausgestreckt dalag. War sie wirklich eine Lügnerin gewesen? Ja, denn sie hatte die Wahrheit gewußt. Sogar ihre Augen hatten ihm das verraten.
Die beiden Henker hatten sich über sie gebeugt und packten die Leiche, um sie wegzuschleppen. Ihr einst schöner, geschmeidiger Körper war jetzt für einen kläglichen Tod im Feuer bestimmt. Oder er würde an Ketten gebunden ins tiefe Meer versinken. Er würde sich nicht einmischen.
Ein Windstoß fegte plötzlich über den offenen Strand. Die Killer lehnten sich dagegen, ihre Füße glitten im Sand aus. Der Mann zur Linken hob die Hand in dem vergeblichen Versuch, die Fischermütze mit dem Schild auf seinem Kopf festzuhalten; sie wurde weggeblasen, rollte auf die Düne zu, die der Straße als Begrenzung diente. Er ließ die Leiche los und rannte hinter der Mütze her. Havelock musterte den Mann. Da war etwas an ihm . . . das Gesicht? Nein, es war das Haar, er konnte es ganz deutlich im Mondlicht sehen. Es war dunkles Haar; doch vom Ansatz über der Stirn gingen weiße Strähnen aus; sie waren auffällig, nicht zu übersehen. Er hatte dieses Haar schon einmal gesehen, das Gesicht. Aber wo? Es gab so viele Erinnerungen. Akten, die er überprüft hatte, Fotos, die er studiert hatte . . . Kontakte, Quellen, Feinde. Woher kam dieser Mann? Gehörte er zum KGB? Zur schrecklichen Voennaja? Oder zu einer Splittergruppe, die Moskau bezahlte, wenn sie nicht sogar von einem CIA-Stationsleiter in Lissabon Gelder kassierte?
Wer war dieser Mann?
Egal, es war vorbei. Endgültig. Die Marionetten, die in diesem gigantischen Schachspiel geopfert wurden, berührten Michael Havelock nicht mehr . . . oder Mikhail Havliček, was das betraf. Er würde morgen früh über die Botschaft in Madrid ein Kabel nach Washington absenden. Er war fertig. Er hatte nichts mehr zu geben. Wenn seine Vorgesetzten ein Abschlußgespräch haben wollten, dann sollten sie das haben. Auch gegen eine Klinik hätte er nichts einzuwenden; es war ihm einfach gleichgültig. Aber mehr von seinem Leben würden sie nicht bekommen.
Das war Vergangenheit. An einem einsamen Strand an der Costa Brava, der Montebello hieß, war dieser Abschnitt seines Lebens zu Ende gegangen.