Christine Bauer-Jelinek
DIE GEHEIMEN SPIELREGELN DER MACHT
Christine Bauer-Jelinek
DIE GEHEIMEN SPIELREGELN DER MACHT
und die Illusionen der Gutmenschen
Christine Bauer-Jelinek
Die geheimen Spielregeln der Macht und die Illusionen der Gutmenschen
Salzburg: Ecowin Verlag GmbH, 2007
ISBN: 978-3-7110-5040-3
Unsere Web-Adressen:
www.ecowin.at
www.bauer-jelinek.at
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Arnold Klaffenböck
Covergestaltung: www.adwerba.at (Stephan Enzinger)
Coverfoto: Martin Vukovits (Porträt von Christine Bauer-Jelinek)
Copyright © 2007 by Ecowin Verlag GmbH, Salzburg
Gesamtherstellung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan, www.theiss.at
Printed in Austria
Vorwort
Der heimliche Machtwechsel
1. Kapitel Ohne Macht geht es nicht
Sozialkompetenz und Machtkompetenz
Sind die Spielregeln der Macht geheim?
Wie Systeme geändert werden
Machtwechsel in Organisationen
Leistung und Liebe
Anpassung und Protest
2. Kapitel Gute alte Zeit oder schöne neue Welt?
Die Welt, aus der wir kommen
Die Blumenkinder: Revolution, Friedensbewegung und Vollbeschäftigung
Perestroika: Schock, Freude und schleichender Paradigmenwechsel
Neoliberalismus: Wohlstand für alle, Globalisierung und Heuschrecken
Die Welt, in der wir leben
Paradigmenwechsel
Vom Schlechten des Guten
Parallel-Universen
3. Kapitel Wer oder was ist ein Gutmensch?
Die Wertegemeinschaft der Gutmenschen
Sind Gutmenschen die besseren Menschen?
Gutmenschen und die Macht
Machtprofis unter den Gutmenschen
Die Grenzen der Gutmenschen
4. Kapitel Wir wollen die anderen Geld-Menschen nennen
Die Wertegemeinschaft der Geld-Menschen
Sind Geld-Menschen besser dran?
Geld-Menschen und die Macht
Die Grenzen der Geld-Menschen
5. Kapitel Im fremden Lager
Gutmenschen an der Spitze von Geld-Menschen-Organisationen
Geld-Menschen an der Spitze von Gutmenschen-Organisationen
6. Kapitel Bevorzugte Machtstrategien der Gutmenschen
Moralisieren und Missionieren
Emotionalisieren und Psychologisieren
Solidarisieren und Verzichten
7. Kapitel Erfolgreiche Machtstrategien der Geld-Menschen
Speed and Splash
Storytelling and Selling
Facts and Figures
Drei Lektionen für Gutmenschen
1. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen
Die Illusion: Wer authentisch ist, gewinnt
Wie die Illusion genährt wird
Die Realität in der schönen neuen Welt: Doppelbotschaften
Auf der einen Seite: Echtheit und Ehrlichkeit
Auf der anderen Seite: Inszenierung von Glaubwürdigkeit
Wie wird man glaubwürdig?
Auf den Leim gegangen
Innerbetriebliche Fortbildung als Falle
Beispiel: Ein „glaubhafter“ Verhandlungspartner
Die Macht-Strategie: Protokoll und Kontrolle
Die Macht-Strategie: Pokerface und Hollywood
Gefahren für Herz-Beziehungen
2. Der Wolf im Schafspelz
Die Illusion: Die Win-Win-Strategie löst alle Probleme
Wie die Illusion genährt wird
Die Realität in der schönen neuen Welt: Verdeckter Kampf
Beispiel: Auf eine andere Fährte gelockt
Die Macht-Strategie: Odysseus und die Sirenen
Gefahren für Herz-Beziehungen
3. Von oben herab oder auf Augenhöhe?
Die Illusion: Hierarchien haben ausgedient
Wie die Illusion genährt wird
Die Realität in der schönen neuen Welt: Oben bleibt oben
Hierarchien, wohin man blickt
Wie Hierarchien funktionieren
Die natürliche Hierarchie
Das Familiensystem
Das Kompetenzsystem
Die konstruierte Hierarchie
Das klassische System
Das globalisierte System
Die Hierarchie und die Frauen
Machtstrategien für den Weg an die Spitze
Machtstrategien für die unteren Ebenen
Perspektiven für Gutmenschen
Die passende Arbeitsumgebung
In globalisierten Konzernen
In klassischen Gutmenschen-Organisationen
Im Zwischenreich
Im Mittelstand (KMU)
Als (Mikro-)UnternehmerIn
Ein hohes Maß an Lebensqualität
Chancen auf eine bessere Welt
Dank
Serviceteil
Weiterführende Literatur
Hintergrund der Gutmenschen (in etwa chronologisch)
Hintergrund der Geld-Menschen (in etwa chronologisch)
Aktuelle Diskussion (alphabetisch)
Verhaltenstechnik
Menschen, die ihren Illusionen über die Spielregeln der Macht erliegen, stecken laufend Misserfolge ein, ohne zu wissen, warum. Die Mechanismen einer neoliberalen Gesellschaftsordnung sind für sie ein Rätsel – doch nicht etwa, weil Systemvertreter sie so besonders geheim halten würden, sondern eher, weil sie diese nicht erkennen oder auch gar nicht kennenlernen wollen. Fast scheint es, als würden sie dem Glaubenssatz folgen, „dass nicht sein kann, was nicht sein darf“.
In unserer Gesellschaft hat ein stiller Machtwechsel stattgefunden. Dieser Paradigmenwechsel von den Werten der guten alten Welt zu jenen, die heute in der schönen neuen Welt gelten, ist Gegenstand des ersten Teils dieses Buches. Er handelt davon, wie Gutmenschen denken, was sie für richtig halten und wo ihre blinden Flecken liegen. Ihre Gegenspieler sind Menschen, die nach den Werten des Neoliberalismus leben; sie werden hier als Geld-Menschen bezeichnet. Der Metapher von Gutmenschen und Geld-Menschen liegt die alte Trennung zwischen Idealisten und Materialisten zugrunde. Die Spannung zwischen diesen beiden Weltanschauungen ist nicht neu, doch es macht einen Unterschied, ob man sich dieser Frage weltanschaulich nähert oder täglich an seinem Arbeitsplatz eine Lösung dafür finden muss. Das Verständnis der Veränderungen ist eine Grundvoraussetzung für die eigene Positionierung im neuen Gesellschaftssystem. Erst wenn man diese vorgenommen hat, ergibt die Anwendung oder Ablehnung von Spielregeln einen Sinn. Die Analyse erfolgt aus der Sicht der subjektiven Alltagswahrnehmung und erhebt nicht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit.
Der zweite Teil des Buches umfasst drei Lektionen für Gutmenschen über die konkrete Anwendung der neuen Regeln bis hin zu den Macht-Strategien, die es erfolgreich abzuwehren oder gezielt einzusetzen gilt. Die Frage, wie Gutmenschen ihre Vision von einer besseren Welt verwirklichen können, ist dabei ebenso ein Thema wie die Gefahren, denen Herz-Beziehungen ausgesetzt sind. Wollen Gutmenschen ihre ideellen oder materiellen Ziele in der heutigen Wertewelt durchsetzen oder für ihren persönlichen Einsatz mehr Anerkennung bekommen, dann müssen sie sich notgedrungen ihren Illusionen stellen und in ihren Protest-Beziehungen wirksamere Methoden einsetzen, als sie dies bislang tun.
Die vorgenommene Kategorisierung von Menschentypen und Wertewelten soll dem besseren Verständnis dienen. Es gelingt damit leichter, Prinzipien zu erkennen, Veränderungen zu registrieren und sich selbst darin wiederzufinden. Die zugrunde liegende Macht-Theorie und die Analyse für den Paradigmenwechsel in unserem Gesellschaftssystem sind in meinen früheren Büchern (siehe Serviceteil) ausführlicher dargelegt. Meine Hoffnung ist, mit dieser Arbeit sowohl für den politischen wie für den zivilgesellschaftlichen Diskurs neue Impulse zu liefern. Vor allem aber möchte ich dem einzelnen Menschen einen klaren Blick auf die Mechanismen der Macht eröffnen.
Wenn Sie, geschätzter Leser, geschätzte Leserin, dieses Buch gelesen haben, sind die geheimen Spielregeln der Macht für Sie nicht mehr geheim. Sie werden eher eine bewusste Entscheidung treffen können, ob Sie aus dem System aussteigen, mitspielen oder sich für eine andere Gesellschaftsform engagieren wollen. Oft fehlt nur ein kleiner Schritt, um die Illusionen hinter sich zu lassen und handlungsfähig zu werden, denn jeder Mensch hat das Potenzial, seine Leistungs-, Protest- und Herz-Beziehungen erfolgreich und befriedigend zu leben.
Auf dem Weg dorthin wünsche ich Ihnen viel Erfolg und Lebensfreude.
Christine Bauer-Jelinek
Wien, im März 2007
„Es ist, als würden zwei Welten aufeinandertreffen“, sagte Wallander ...
„In der heutigen Situation wird ein ganz anderes Wissen, ein anderer Erfahrungsschatz benötigt. Aber über den verfügen wir nicht ...
Was vor zehn Jahren eine kriminelle Handlung war, wird heute als harmloses Vergehen angesehen ...“
„Das kann nicht gut gehen“, sagte sie zögernd.
Wallander warf ihr einen Blick zu. „Wer hat je behauptet, dass es gut gehen würde?“
Henning Mankell
Macht an sich ist weder gut noch böse. Ob sie sich positiv oder negativ auswirkt, hängt davon ab, wie man mit ihr umgeht. Macht ist einfach nur ein Mittel zum Zweck, eine alltägliche, soziale Interaktion zur Durchsetzung von Interessen. Doch gerade deshalb kann ihr keiner entgehen. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass man ohne sie auskommt. Meistens schieben wir die Tatsache, dass wir selbst ständig die Machtansprüche anderer abwehren und sogar Kämpfe ausfechten müssen, weit weg. Das ist schade, denn wer sich der Machtausübung stellt und Kompetenz erwirbt, gewinnt dadurch an Lebensqualität.
Ein Blick auf die gesellschaftliche Diskussion zeigt, dass sich die Zeichen der Beschäftigung mit dem Machtthema mehren. Sowohl in der Forschung wächst die Zahl der Arbeiten, die dezidiert den Begriff „Macht“ im Titel haben, als auch in populärwissenschaftlichen Publikationen, in den Medien und bei den Fortbildungsveranstaltungen der Erwachsenenbildung. Das große Interesse am aufbrechenden Tabu fällt nicht zufällig in unsere Zeit. Einerseits löst sich jetzt erst langsam der Schock über den Machtmissbrauch im Nationalsozialismus – wie auch die späte Auseinandersetzung mit Restitutionsfragen verdeutlicht. Andererseits zwingt der Wertewandel in Wirtschaft und Gesellschaft den Einzelnen dazu, sich erstmals bewusst oder verstärkt mit Machtfragen zu beschäftigen. Die Spannung zwischen einem christlich-sozialen Grundkonsens der mitteleuropäischen Gesellschaft und dem sich rasant ausbreitenden neoliberalen Paradigma ist nicht nur Thema von Politik und Wissenschaft, sie hat massive Auswirkungen auf unseren Alltag und unser zwischenmenschliches Verhalten.
Doch welche Mechanismen sind mit dem Machtbegriff verbunden? Die hier verwendete Definition „Macht ist das Vermögen, einen Willen gegen einen Widerstand durchzusetzen“ betrachtet das Phänomen aus der Sicht des Individuums. Wenn unterschiedliche Interessen vorliegen, laufen auf dem Weg bis zur Klärung Prozesse ab, die allesamt mit Macht zu tun haben – mit ihren friedlichen Formen ebenso wie mit der kämpferischen Auseinandersetzung oder dem Rückzug. Ob Macht missbraucht oder kultiviert gestaltet wird, hängt von ihrer Legitimation ab, davon, inwiefern man zur Ausübung berechtigt ist und worauf man seine Verantwortung begründet. Äußere Legitimation ergibt sich durch die Einhaltung von Gesetzen oder durch eine Funktion, die den Rahmen bestimmt, in dem man sich beispielsweise als Ministerin, als Polizist oder Führungskraft bewegen darf. Innere Legitimation wird vom Gewissen gesteuert – die Ausübung von Macht muss man sich auch selbst gestatten.
Menschen sind selbst dort, wo eine äußere Legitimation für den Einsatz von Macht vorhanden ist, auf ihr Gewissen angewiesen. Dabei kann es zu Gewissenskonflikten bis hin zur Selbstzerstörung kommen. So riskiert der Wehrdienstverweigerer im Krieg sein eigenes Leben, weil er als Soldat zwar zum Töten legitimiert ist, es ihm die Ethik jedoch verbietet. Ein Manager riskiert seinen Job, weil er zwar berechtigt, ja unter Umständen verpflichtet ist, die Zahl der MitarbeiterInnen zu reduzieren, er aus menschlichen Gründen dazu aber nicht in der Lage ist. Die größtmögliche Kraft für sein Vorhaben kann man dann entwickeln, wenn sich äußere und innere Legitimation weitgehend in Übereinstimmung befinden.
Der bewusste Umgang mit Macht steigert die Qualität in der Kommunikation und reduziert destruktives Verhalten. Wer diesen Grundsatz anerkennt, avanciert zum Machtgestalter. Machtkompetenz bedeutet, ein ganzes Bündel von Fähigkeiten gezielt einsetzen zu können, um seine Interessen durchzusetzen und sich gegen Übergriffe zu wehren. Wer einen kultivierten Umgang mit Macht pflegen möchte, schafft zu allererst Klarheit über den Zweck seines Handelns. Je deutlicher das Ziel definiert ist, umso effizienter lassen sich die notwendigen Maßnahmen planen. Weil Machtgestalter über ein großes Repertoire an Kommunikations- und Verhandlungstechniken verfügen, können sie die von vielen gefürchteten Kampfsituationen deutlich reduzieren. Sollte allerdings ein Kampf notwendig werden, scheuen sie sich nicht davor, diesen mit großer Präzision zu führen.
Machtkompetenz ist die längst überfällige Erweiterung der bislang zu einseitig gesehenen Sozialkompetenz. Obwohl begrifflich korrekt Machtkompetenz ein Teil der Sozialkompetenz wäre, scheint es sinnvoll, diese getrennt zu behandeln. Während Sozialkompetenz einen positiv besetzten Begriff darstellt, wird alles, was mit Macht zu tun hat, nach wie vor eher negativ bewertet. Das ist unter den heute herrschenden wirtschaftlichen wie zwischenmenschlichen Wettbewerbsbedingungen eine geradezu gefährliche Sichtweise, denn sie hindert einen Großteil der Menschen an der Durchsetzung ihrer Interessen. So wie früher Lesen und Schreiben einer privilegierten Schicht vorbehalten waren und heute (zumindest in der westlichen Welt) zu den allgemein zugänglichen Kulturtechniken zählen, muss auch die Machtkompetenz ihren Weg in alle Schichten der Gesellschaft finden, wenn diese sich emanzipieren wollen. Dies umso mehr, als Machtkompetenz ja nicht nur die Durchsetzungsfähigkeit betrifft. Machtgestalter verfügen zudem über die Bereitschaft und die Methoden zur Versöhnung. Sie sind in der Lage, nach einem Konflikt nachhaltigen Frieden herzustellen.
Machtkompetent handeln bedeutet, die Legitimation eigener und fremder Machtansprüche zu bewerten und ein differenziertes Instrumentarium mit entsprechenden Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten im Bereich der „friedlichen Formen“ der Macht in Händen zu halten, den geordneten Rückzug ebenso zu beherrschen wie kontrollierte Kampftechniken. Machtgestalter können bei Konflikten sowohl eskalieren als auch deeskalieren. Sie verhalten sich diszipliniert, sind selten beleidigt oder nachtragend. Die ethische Frage haben sie im Vorfeld mit sich abgeklärt, sodass sie dann im laufenden Prozess die volle Kraft auf ihr Ziel richten können. Nicht die Methoden sind gut oder böse, sondern der Kontext ist es, in dem sie angewendet werden. Man kann mit einem Messer einfach nur Brot schneiden oder sich damit verteidigen – oder jemanden angreifen. Die Entscheidung darüber liegt beim Menschen und nicht beim Messer.
Selbst wenn Interessenkonflikte ihre eigene Dynamik haben und man den Verhandlungsstil des Partners kaum beeinflussen kann, so macht es doch einen Unterschied, welche Handlungen man selbst setzen will. Dazu benötigt man zusätzlich zur viel zitierten Sozialkompetenz auch Machtkompetenz. Das klingt komplizierter, als es ist. Wenn jemand erst einmal das Bewusstsein für die Alltäglichkeit offener und verdeckter Kämpfe schärfen konnte und die ethische Frage für sich geklärt hat, braucht er/sie nur noch Mut zum Risiko und Übung.
Menschen, die mit Macht nichts zu tun haben wollen, werden hingegen leicht zu Opfern: Sie versäumen nicht nur die eigenen Möglichkeiten, sondern leiden oft unter jener Macht, die über sie ausgeübt wird. Sie suchen Hilfe bei Beratern und Coaches oder lesen Ratgeber über moderne Kommunikationstechniken. Solch psychologisches Allgemeinwissen erweitert zwar den Handlungsspielraum des Einzelnen, es ist jedoch meist auf die sogenannten „Soft Skills“ beschränkt. Darunter versteht man Fähigkeiten wie Zuhören-können, Teamarbeit, Kooperation, Transparenz oder Authentizität. Hingegen werden Durchsetzungsfähigkeit, taktisches und strategisches Denken und Verhalten und anderes mehr als gleichermaßen notwendige Qualifikationselemente kaum thematisiert, obwohl diese zunehmend benötigt werden und letztlich auch entscheidend für den Erfolg sind. Eine Führungskraft wäre beispielsweise kaum in der Lage, die vorgegebenen Ziele zu erreichen, ohne das Vermögen, die Spielchen anderer zu durchschauen, ihnen etwas entgegenzusetzen und selbstbewusst aufzutreten. Aber auch MitarbeiterInnen könnten sich mit mehr Machtkompetenz gegen Mobbing wehren oder ein höheres Gehalt ausverhandeln.
Nun lässt sich beobachten, dass das Thema „Macht“ zunehmend an Öffentlichkeit gewinnt. Medien und Publikationen scheuen sich nicht davor, Macht draufzuschreiben, wenn Macht drinnen ist. Ein jahrzehntelang aufrechtes Tabu ist aufgebrochen und die gesellschaftliche wie die individuelle Auseinandersetzung mit dieser Frage nimmt immer mehr Raum ein. Dies kann man als erfreuliche Entwicklung bezeichnen. Wären alle Beteiligten an einem Konflikt machtkompetent, würden weniger Verletzungen entstehen und der materielle wie der ideelle Schaden wäre deutlich geringer. Machtkompetent handeln bedeutet, selbst Verantwortung zu übernehmen für die Ziele, die man verfolgt und die Art und Weise, wie man das tut. Es bedeutet außerdem, die Konsequenzen aller Aktionen – der durchgeführten wie auch der unterlassenen – zu bedenken und zu tragen.
Gibt es denn heute noch geheime Spielregeln? Es kann sich doch gegenwärtig jeder alle Informationen beschaffen – von Managementtechniken über Politikertricks bis zu den Ritualen der Geheimgesellschaften. Was soll es denn da noch zu entdecken geben?
Wenn die Sache so einfach wäre, würden nicht so viele Menschen gravierende Probleme haben, ihre Ziele durchzusetzen. Es ist nicht der Mangel an Informationen, der die kultivierte Lösung von Interessenkonflikten behindert. Die Ursache liegt eher in der Fähigkeit, die Fülle der Informationen richtig zu interpretieren, daraus möglichst rasch die jeweils geltenden Regeln abzuleiten und eine Strategie zu entwickeln.
Spielregeln sind nicht statisch, sie wirken vielmehr zu jeder Zeit und in jedem Kontext anders. Normen und Regeln gelten immer nur für eine bestimmte Kultur, deren Mitglieder sich bewusst oder oft nur aus Gewohnheit an sie gebunden fühlen. Geheim im Sinne von fremd oder unverständlich bleiben diese Spielregeln jeweils für Außenstehende, für Angehörige anderer Wertewelten. Eigentlich sind sie für jedermann einsehbar, doch der andere will oder kann sie zu diesem Zeitpunkt nicht verstehen. Das gilt für fremde Kulturen ebenso wie für Paradigmenwechsel innerhalb einer Gesellschaft. Wenn sich das vorherrschende Wertesystem grundlegend verändert, kommen damit auch andere Mechanismen zum Tragen. Diese Veränderung geschieht meist stillschweigend, ohne dass darüber ein öffentlicher Diskurs geführt würde. Die meisten Menschen erkennen die neuen Mechanismen erst relativ spät, sie halten sich noch lange an die alten Regeln. Die daraus entstehende Verwirrung bildet den Nährboden, den Machtprofis der neuen Ära brauchen, um ihre Ideologie fest in der Gesellschaft zu verankern.
Es gibt also keine allgemeingültigen Spielregeln der Macht, die man im Kreml, im Weißen Haus oder in der Bibliothek des Vatikans suchen könnte. Neue Regeln werden nicht, wie Verschwörungstheorien behaupten, von einem kleinen Personenkreis, der die Weltherrschaft anstrebt, aufgestellt – auch wenn es manchmal den Anschein hat. Vielmehr verändern sich gesellschaftliche Normen im Zuge eines Machtwechsels von selbst. Am Ende dieses Prozesses steht die Vorherrschaft eines neuen Wertekanons.
Die in Demokratien übliche Form eines Machtwechsels ist die freie Wahl durch die BürgerInnen eines Staates. Abhängig von ihrem Ausgang wird dann etwa eine Mitte-Links-Regierung durch eine konservative abgelöst und umgekehrt. In einer Monarchie kommt der Wechsel auf dem Weg der Erbfolge zustande oder durch die Verbindung von Ländern aufgrund von Heirat oder Kooperation, wie dies unter den Habsburgern oft der Fall war.
Ein Herrschaftssystem kann jedoch meist nur durch Gewalt geändert werden. Kräfte innerhalb der Gesellschaft können dies auslösen, wie im Fall der bürgerlichen Revolution im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Ein Machtwechsel wird mitunter auch von außen erwirkt. In diesem Fall etabliert eine fremde Macht ein neues System durch militärische Intervention, wie im Irak der Sturz des Regimes von Saddam Hussein durch die USA zeigte. In diesen Fällen diktiert der Sieger die neue Gesellschaftsform und werden die neuen Spielregeln nicht geheim gehalten. Es besteht im Gegenteil ein starkes Interesse daran, dass möglichst große Bevölkerungsanteile umgehend davon in Kenntnis gesetzt werden, dass ein Machtwechsel stattgefunden hat.
Ein Machtwechsel kann jedoch auch unmerklich vor sich gehen. Nämlich dann, wenn die Macht des herrschenden Systems sehr groß ist und deswegen nur langsam und mit den Mitteln der Zermürbungstaktik aufgeweicht wird, oder wenn ein offener Kampf nicht zielführend erscheint. Dann erfolgt die Machtübernahme durch schleichende Infiltration – etwa in den Ländern des einstigen Ostblocks vor dem Fall des Eisernen Vorhangs oder bei den Rosenrevolutionen in den Satellitenstaaten der UdSSR (Georgien, Ukraine). Hier wurde über viele Jahre am Wertewandel in der Gesellschaft gearbeitet, der Umsturz erfolgte dann praktisch gewaltlos. Das Geheimnis einer solchen Machtübernahme besteht darin, über die Beeinflussung der Werte und Normen neue Spielregeln in der Gesellschaft zu etablieren oder die geltenden umzudeuten.
Die meisten Menschen gehen davon aus, dass die eigenen Werte automatisch für alle gültig sind. Der Umgang mit anderen Wertegemeinschaften ist durchaus vergleichbar mit den Grundsätzen, die für einen konfliktarmen Umgang mit fremden Ländern und ihren Kulturen beherzigt werden müssen. Man erforscht und befolgt freiwillig deren Spielregeln, damit das Gegenüber nicht unnötigerweise durch unsensibles und unaufgeklärtes Benehmen beleidigt wird. Wer andere Kulturen versteht, kann im Bereich der internationalen Wirtschaftsbeziehungen und der Diplomatie Konflikte mindern und seine Ziele besser verfolgen. Für den Erwerb der sogenannten „Interkulturellen Kompetenz“ werden heute spezielle Seminare und Hochschullehrgänge angeboten, denn diese zählt zu den Schlüsselqualifikationen der neuen Arbeitswelt.
Doch Paradigmen verändern sich nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch innerhalb von Unternehmen oder Institutionen. Diese haben ihre eigenen ungeschriebenen Gesetze und achten sehr genau auf deren Einhaltung.
Ausgelöst werden die Veränderungen etwa durch betriebliches Wachstum: Ein Familienbetrieb geht an die Börse und fortan diktiert der Investor seine Ziele. Der ehemals soziale Betrieb wird den Spielregeln der Finanzmärkte unterworfen, die da lauten: kurzfristige Gewinnmaximierung, wenig Rücksicht auf Arbeitsplätze, auf Ökologie oder Gesundheit. Oder die Veränderungen werden durch einen direkten Eigentümerwechsel hervorgerufen. Wenn beispielsweise ein Betrieb von einem anderen aufgekauft und übernommen wird, etabliert das neue Management umgehend die Kultur des eigenen Unternehmens. Und selbst der umgekehrte Weg ist möglich: Ehemalige Staatsbetriebe, die bisher von Beamten verwaltet wurden, müssen sich plötzlich auf dem freien Markt bewähren. Vereine, die gut von ihren Subventionen leben konnten, stehen vor der Herausforderung, nach deren Streichung eigene Einkommensquellen zu erschließen.
In jedem Fall ändert sich mit der neuen Zielsetzung oder den neuen Personen auch die Kultur in der Organisation und mitunter sind die Spielregeln, über die potenzielle Mitarbeiter Bescheid wissen sollten, in jedem Unternehmen anders. Meist wird jedoch darüber wenig gesprochen und schon gar nichts erklärt. Die MitarbeiterInnen sind sich selbst überlassen und bleiben auf das Versuch-Irrtum-Verfahren angewiesen. Folglich sollte jemand, der den Arbeitsplatz wechselt, sich nicht nur mit den Sachfragen beschäftigen, sondern sich auch mit der Kultur der Organisation auseinandersetzen.
Durch den raschen Wandel existieren heute viele Lebenswelten nebeneinander. Die Gesellschaft zerfällt in Fragmente. Wertewelten schrumpfen zu Wertebiotopen und verändern sich ständig. Die eingeschworene Gesinnungsgemeinschaft einer Umweltschutzorganisation kann mehr gemeinsam haben als eine Familie mit unterschiedlichen politischen Einstellungen. Im Berufsleben gelten andere Spielregeln als im Privatleben, in der Bürgerinitiative oder im Sportverein. Im Extremfall ist jeder Mensch anders zu behandeln und jede Situation neu zu beurteilen, je nachdem, welche Art der Beziehung gerade gültig ist.
Immer dort, wo es um Ziele und Ergebnisse geht, sind „Leistungs-Beziehungen“ gefragt. Bei diesen tritt die Person mit ihren Ansprüchen in den Hintergrund. In der extremen Form haben Emotionen und Befindlichkeiten so gut wie keinen Raum mehr. Die Funktion steht im Vordergrund, die Persönlichkeit gerät zur Nebensache, denn in Leistungs-Beziehungen muss der Mensch jederzeit austauschbar sein. Dies ist – so schlimm das für manche klingen mag – absolut notwendig, wenn Ergebnisse unter Druck erzielt werden müssen und eine Organisation optimal funktionieren soll. Leistungs-Beziehungen bestehen vor allem im Berufsleben, aber ebenso bei sportlichen oder ehrenamtlichen Aktivitäten.
Viele Menschen empfinden die anonyme Arbeitsatmosphäre in internationalen Konzernen oder Großorganisationen als äußerst negativ. Diese Art der Leistungs-Beziehungen hat jedoch durchaus ihre Berechtigung. Ohne sie würde vieles in einer komplexen technologisierten Welt gar nicht funktionieren. Leichter verständlich wird das Prinzip am Beispiel des Katastrophenschutzes, weil dieser positiv besetzt ist: Angesichts eines Erdbebens oder einer Überschwemmung herrscht bei den Rettungsmannschaften extrem großer Druck. Sie müssen körperliche und psychische Belastung, Zeitdruck und schwierige Koordinationsaufgaben bewältigen, denn von der exakten Erfüllung ihrer Aufgabe hängen unter Umständen Menschenleben ab. Aber selbst im Spitzensport läuft es ähnlich: Wer beim Fußballmatch die erwartete Leistung nicht bringt, wird ausgetauscht, um den Wettkampf doch noch zu gewinnen.
In solchen Situationen muss jedes Mitglied sofort ersetzt werden können. Die Aufgaben müssen so gestaltet sein, dass auch der/die Nächste sie jederzeit erfüllen kann. Meistens muss schnell entschieden werden, es geht um messbare Ergebnisse, von denen viel abhängt. Da muss sich der Mensch den Zielen unterordnen, da ist kein Platz für Befindlichkeiten. Zentrale Themen in Leistungs-Beziehungen sind Effizienz, Vernunft und oft auch Konkurrenz und Kampf.
Leistungs-Beziehungen werden freilich nicht nur in nachvollziehbarer und akzeptabler Weise etabliert. In vielen Organisationen herrscht Krieg, ein Business-Krieg, in dem jeder gegen jeden kämpft. Die Ursache dafür ist entweder in Führungsdefiziten des Managements zu suchen oder das Unternehmen befindet sich tatsächlich in einer existenziellen Krise, die für die MitarbeiterInnen der unteren Ebenen nicht zu erkennen ist. Es wäre grundfalsch, im Rahmen von solch angespannten Leistungs-Beziehungen Details aus seinem Privatleben auszuplaudern, dem Vorgesetzten oder dem Kollegen allzu große Einblicke in das eigene Gefühlsleben zu gewähren oder davon auszugehen, dass persönliche Befindlichkeiten auf allgemeines Interesse stoßen. Offenheit würde als Schwäche ausgelegt und rücksichtslos ausgenützt werden können.
Dieses Ideal von menschlicher Nähe und Intimität braucht ein Mensch, wenn er gesund bleiben und sich weiterentwickeln soll. Daher haben auch die Sehnsucht und die ständige Suche danach durchaus Sinn. Es ist jedoch ein großer Irrglaube anzunehmen, dass man das Recht hätte, diese Qualität überall zu erwarten. Wir leben nicht mehr in der bäuerlichen Großfamilie, in der Arbeit und Privatleben eng miteinander verbunden sind. Unsere Gesellschaft hat sich ausdifferenziert und spezialisiert. Die „Schauplätze der Macht“ teilen sich auf in das Privatleben und das Berufsleben und gehorchen anderen Regeln. Handlungen, die in einer Herz-Beziehung wirksam sind, müssen noch lange nicht in einer Leistungs-Beziehung zum Erfolg führen.
Leistungs- und Herz-Beziehungen werden allerdings nicht immer am richtigen Schauplatz gelebt und sie schließen einander auch nicht aus. In manchen Ehen ist von Herz keine Spur. Da geht es nur um materielle Ziele, um Status und gesellschaftlichen Rang. Die Partner schenken einander nichts und jede Schwäche kann das Aus der eigenen Existenz bedeuten. Andererseits gibt es Familienbetriebe oder soziale Kooperativen, in denen im beruflichen Kontext und trotz des finanziellen Drucks der Einzelne ernst genommen wird und einen Spielraum zur Entfaltung hat. Es gilt also zu erkennen, wo die Sehnsucht nach Menschlichkeit falsch am Platz ist und dem Betreffenden als mangelnde Professionalität ausgelegt werden könnte, und in welchem Rahmen es hingegen sinnvoll scheint, seine Gefühlswelt offenzulegen – und auch dem anderen ein guter Zuhörer zu sein.
Protest-Beziehungen entstehen immer dann, wenn gegen ein etabliertes System gekämpft wird: Studenten, die gegen die Regierung demonstrieren, ArbeiterInnen, die ein Werk bestreiken, Konsumenten, die den Kauf von bestimmten Waren boykottieren. Der Protest kann viele Formen annehmen. Er kann von Einzelnen getragen werden, von Gruppen oder einer weltweiten Initiative. Gekennzeichnet ist er durch den Willen nach Veränderung, durch Engagement und die Fähigkeit zur Handlung.
Protest-Beziehungen werden nicht nur von Individuen gepflegt, sondern auch von Organisationen, deren Zweck der Widerstand oder die Veränderung von gesellschaftlichen oder politischen Bereichen ist. Viele NGOs (Nichtregierungsorganisationen), Kunst- und Kulturvereine oder Bürgerinitiativen sehen das als ihre Aufgabe. Sie sind Gesinnungsgenossenschaften, deren Ziel beispielsweise die Veränderung der Machtverhältnisse oder des Gesellschaftssystems ist. Ob Maßnahmen in Protest-Beziehungen wirksam sind, muss man am Ergebnis messen und nicht an den Ankündigungen.