Über dieses Buch:
Ein Schrei zerreißt die Ruhe Athens im Jahre 404 vor Christus. Gerade noch war Chaskobukes ein einfacher Kostgänger, der stets wusste, auf welchem Festmahl er sich einschleichen konnte – nun gilt er als Mörder seines alten Gönners und soll vor Gericht gestellt werden. Auch Linos, der Logograph, der sich wie kein anderer auf die Kunst der Gerichtsrede versteht, ist von seiner Schuld überzeugt. Doch dann bekommt er eine rätselhafte Botschaft und beginnt, Nachforschungen anzustellen …
Zornige Göttinnen, Eifersucht und Ränkespiele: Lassen Sie sich von Robert Gordian in eine Zeit entführen, in der es noch keine CSI-Methoden gab, sondern Fälle mit cleverster Kombinationsgabe gelöst wurden – und lernen Sie Sitten und Gebräuche kennen, die Sie staunen lassen werden.
Über den Autor:
Robert Gordian, geboren 1938 in Oebisfelde, studierte Journalistik und Geschichte und arbeitete als Fernsehredakteur, Theaterdramaturg, Hörspiel- und TV-Autor, vorwiegend mit historischen Themen. Seit den neunziger Jahren verfasst er historische Romane und Erzählungen. Robert Gordian lebt in Eichwalde, einem Vorort Berlins.
Eine Übersicht über die Romane und Serien, die Robert Gordian bei dotbooks veröffentlichte, finden Sie am Ende dieses eBooks.
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Originalausgabe März 2017
Die vier Erzählungen Das Grab des Periandros, Die beiden Herren des schönen Daphnos, Eine Mordnacht im Tempel der Athena und Opfer am Hausaltar erschienen bereits 1992 in der Anthologie Das Grab des Periandros, veröffentlicht vom Verlag Neues Leben, Berlin.
Copyright © der vorliegenden Originalausgabe 2017 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildes von Shutterstock/Borya Gallerin.
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-95824-257-9
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Robert Gordian
Eine Mordnacht im Tempel
Mörderische Geschichten aus dem antiken Griechenland
dotbooks
Inhalt
Die Sonne warf schon lange Schatten, als der bezechte Chaskobukes die schmale, menschenleere Straße entlang schwankte, die zum Melitetor führte. Er schlingerte von einer Seite zur anderen, wirbelte mit den nackten Füßen Staub auf und fluchte.
»Schufte! Hurenbrut! Neureiches Pack! Schlangen sollen euch die Gedärme zerfressen! Saufsäcke, Vielfraße«
Das war heute ein schlechter Tag. An zwei Haustüren hatte man Chaskobukes abgewiesen. In einem Fall war der Hausherr plötzlich verreist, das Gelage fiel aus. Vor der anderen Tür hatten sich so viele Parasiten gedrängt, dass man nicht alle einlassen konnte. Als die Abgewiesenen Lärm schlugen, stürzten Sklaven mit Stachelpeitschen heraus und trieben sie auseinander.
An einer dritten Tür ließ man Chaskobukes zwar ein, doch er kam nur noch zum Trinkgelage zurecht, das Mahl war beendet. Der letzte Krümel trockenen Käses war vertilgt, nichts war übrig geblieben für seinen seit gestern nicht gefüllten Magen.
Aus Ärger hielt er sich an den Wein, der zwar wie Essig schmeckte, doch immerhin die Laune hob. Er trug auch zur Unterhaltung bei, indem er schlüpfrige Verse aufsagte und sich reihum von den Gästen Ohrfeigen und Fußtritte verpassen ließ.
Später, als die allgemeine Aufmerksamkeit von zwei Tänzerinnen gefesselt wurde, wollte er in die Küche schleichen, um etwas Essbares zu ergattern. Doch obwohl er sich in dem Haus ganz gut auskannte, verirrte er sich in die Kammer, wo man das Opferbesteck und das silberne Geschirr aufbewahrte.
Plötzlich gab es ein wüstes Geschrei. Man glaubte, er wolle stehlen. Und schon sausten Knüppel auf seinen Rücken nieder.
Sein schönes neues Gewand mit dem Blumenmuster, das ihm ein mitleidiger Herr zum Kronosfest geschenkt hatte, war zerrissen. An seiner Stirn hingen Hautfetzen, klebte Blut. Und das Schlimmste – der Schnappsack war leer.
Ein elender Tag für Chaskobukes.
Er war ja manches gewöhnt. Aber nur Prügel und nichts zu beißen …
Endlos war dieser Weg zu Hagnon. Immerhin war Chaskobukes rechtzeitig eingefallen, dass er dort heute willkommen sein würde. Der böse Greis, dieses sabbernde, aufgedunsene Ekel auf Spinnenbeinen, würde allein sein und sich einsam fühlen. Erst würde er zwar zetern und geifern wie immer, aber davon durfte man sich nicht abschrecken lassen. Gewiss, viel gab die Speisekammer des geizigen Alten nicht her – ein Stück Brot, einen Krug Milch, ein paar Feigen. Doch das brennende Loch in seiner Körpermitte, das den armen Kostgänger heute besonders quälte, musste gefüllt werden.
Dieser Gedanke trieb Chaskobukes vorwärts. Aus seinen schwarzen Punktaugen funkelte eine trotzige Entschlossenheit.
Der tägliche Kampf um das bisschen Nahrung, das ein zwar stangendünner, aber immerhin ausgewachsener Mann von dreißig Jahren für den Erhalt seines Daseins brauchte, musste mit Mut und Frechheit bestanden werden. Das war für heute die letzte Gelegenheit und Chaskobukes musste sie nutzen. Während er durch die Löcher der Straße stolperte, vorbei an gekalkten Lehmziegelmauern, stimmte er seinen Schlachtgesang an.
»Aufgewacht! Weine nicht über dein irdisches Los. Trinke und liebe! In der Unterwelt gibt es nichts mehr …«
Da ertönte neben ihm raues Gelächter.
Zwei bärtige Köpfe sahen hinter einer halb eingefallenen Mauer hervor. Der plumpe, grauhaarige Kleombrotos stand auf einer Leiter, um neue Steine einzufügen, die sein jüngerer Nachbar Phorion ihm zureichte.
Chaskobukes verharrte schwankend in der Mitte der Straße, ein krummer Strich, umschlottert von ein paar bunten Fetzen.
»Was lacht ihr? Bauerntölpel! Blätterfresser!«
»Besuchst du deinen alten Liebhaber, Chaskobukes?«, fragte Kleombrotos höhnisch.
»Was geht dich das an? Auf deinen Hintern sind höchstens Flöhe und Wanzen scharf!«
Die Männer lachten wieder und sahen sich an. Es war kein heiterer Blick, den sie tauschten.
Chaskobukes bemerkte erst jetzt, dass er am Ziel war. Die Männer waren Nachbarn des Hagnon, wohnten gegenüber.
Der Kostgänger starrte auf das Tor in der Mauer, die das Anwesen des Alten zur Straße abschirmte.
Es war angelehnt.
Das überraschte Chaskobukes. Er wandte sich nochmals den Männern zu.
»Hört mal …«
»Was ist? Traust du dich nicht hinein?«, rief Kleombrotos.
»Ist jemand bei ihm? Hat er Besuch?«
»Woher sollen wir das wissen? Wir kommen und gehen … tun unsere Arbeit …«
»Und Melesias? War er schon hier? Hat er Daphnos abgeholt?«
»Keine Ahnung, mein Süßer. Eifersüchtig?«
Die Männer lachten und blickten sich abermals ernsthaft an.
Chaskobukes schnitt eine Grimasse, verschwand hinter dem Tor und schloss es.
Phorion bückte sich und hob einen Ziegelstein auf, den Kleombrotos in die Mauer einpasste. Die Hand mit dem Hammer, die eine störende Ecke abklopfen sollte, blieb aber in der Luft stehen.
Irgendwo in der Nachbarschaft bellte ein Hund.
Ein Vogel flatterte in der Nähe auf.
Kleombrotos blickte aufmerksam auf die Fliege, die über seine um den Stiel des Hammers geballte Faust kroch. Auch Phorion blickte auf die Fliege, konnte kein Auge von ihr lassen.
Ein Schrei durchschnitt die Stille, scharf wie ein Schwerthieb.
Die Luft schien zu zittern.
Der Hammer klopfte so langsam und zögernd auf den Ziegelstein, dass die Fliege auf der Faust sitzen blieb.
Jetzt flog drüben die Tür auf.
Chaskobukes flitzte heraus auf die Straße und starrte gehetzt nach allen Seiten. Er blickte noch einmal erschrocken hinter sich, dann setzte er sich in Bewegung. Er riss seine spitzen Knie hoch wie ein Stadionläufer und rannte davon, den Weg zurück. In einer Staubwolke, die er aufwirbelte, war er im nächsten Augenblick verschwunden.
»Ihr Götter!«, murmelte Phorion und sah beklommen auf das Tor, das wieder offen stand, diesmal sperrangelweit.
Als sich die Staubwolke senkte, kam an der Stelle ein alter, buckliger Mann zum Vorschein, der einen Korb über dem Arm trug. Er stand rückwärts gewandt, vor Überraschung erstarrt.
Erst nach einer Weile drehte er sich um und schlurfte langsam, mit kleinen Schritten näher.
»Habt ihr den gesehen? Warum hat er es so eilig?«
»Wir haben einen Schrei gehört, Xanthias«, sagte Kleombrotos ernst.
»Einen Schrei?«
»Es könnte dein Herr gewesen sein.«
»Wie? Hagnon?«
»Aber mir schien …«, wandte Phorion ein.
Doch Kleombrotos schnitt ihm das Wort ab. »Es war ein entsetzlicher Schrei. Wie ein Todesschrei.«
Der Bucklige griff sich ans Herz. »Ich hätte ihn nicht allein lassen sollen. Wäre ich nur nicht noch einmal zum Markt gegangen.«
»Sehen wir nach!«, sagte Kleombrotos.
Die beiden Bauern kletterten durch die Mauerlücke und standen im nächsten Augenblick auf der Straße. Zögernd bewegten sich die drei Männer auf das offene Tor zu. Sie betraten den Hof und hier beschleunigten sie ihre Schritte und gingen um das Haus herum.
Hagnon saß still auf einer Bank, an die Hauswand gelehnt. Seine schlaffen, welken Arme hingen herab. Sein wässriger Blick war zum Himmel gerichtet.
In seiner Kehle steckte ein Messer.
***
Der Markt von Athen, am Fuße der Burg, war das Herz der Stadt, das schon am frühen Morgen aufgeregt klopfte. Im Umkreis der säulengeschmückten Hallen, mit denen sich göttliche und menschliche Autorität erhaben und protzig zur Schau stellten, wimmelte, wuselte, schrie und schnatterte es in den Buden und an den Tischen der Bäcker, Fleischer, Ölverkäufer, Fischweiber, Haarschneider, Schuster, Sattler, Salbenhändler, Töpfer und Kranzflechter. Hier fand sich ein, wer sehen und hören und wer gesehen und gehört werden wollte. Man rülpste sich Morgengrüße entgegen, echte und falsche Freunde umarmten einander mit gleißendem Lächeln, hungrigen Mündern entströmte der säuerliche Hauch der ersten Gerüchte dieses Tages.
Der kleine, dickliche Mann mit den lebhaften Augen und dem hochgewölbten Kahlschädel spazierte langsam an den bronzenen Heldenfiguren vorüber, an deren Postamente man hölzerne Tafeln mit Bekanntmachungen gelehnt hatte. Er las alles aufmerksam und ab und zu zückte er den Griffel und ritzte eine Notiz in das Wachstäfelchen, das an einer Schnur von seinem Gürtel hing. Wenn er jemanden grüßte, hörte man den freundlichen ionischen Singsang seiner Sprache, womit er sich als Metöke, als Gastbürger, auswies. Sein Name war Linos, er stammte aus Kolophon. Seit einiger Zeit lebte er in Athen, verdiente sein Brot als Lehrer der Redekunst und Verfasser von Briefen und Lobpreisungen. Vor allem jedoch war er Logograph, er schrieb Gerichtsreden. Da er gehört hatte, dass die Athener besonders streit- und prozesssüchtig waren, hatte er sich hier niedergelassen – in der Hoffnung, recht bald ein hübsches Vermögen zu machen. Noch war er nicht allzu bekannt und daher stets auf der Suche nach Auftraggebern. Täglich trieb er sich auf dem Markt herum, schnüffelnd, schmeckend, nach Neuigkeiten schnappend, seine Köder auswerfend.
Es gab einen Auflauf in der Königshalle und Linos sah zu, dass er rasch dorthin kam. Er kannte den grämlichen Herrn mit dem Raubvogelkopf, der dort mit den Säulen um die Wettre ragte. Es war der Archon Basileus, der zweithöchste Regierungsbeamte. Wenn der etwas verkünden ließ, war es wichtig, es betraf die Religion und den Kult oder sogar die Blutgerichtsbarkeit. Rechts neben dem Archon stand ein gut gekleideter junger Mann mit einem vornehmen Pferdegesicht, auf der anderen Seite ein kleiner Strolch, der Linos bekannt vorkam. Vielleicht hatte er den auf einem Gastmahl gesehen, ab und zu wurde er ja schon eingeladen.
Der rotgesichtige Herold hatte einen Papyros entrollt und brüllte etwas über die Köpfe der Leute hinweg, die sich an den Stufen der Halle drängten. Linos verstand nicht alles, aber der Text war ihm geläufig. Hier wurde ein Mörder ausgeboten. Der nächste Verwandte des Ermordeten, vermutlich das Pferdegesicht, kündigte Blutrache an. Der Verdächtigte wurde öffentlich aufgefordert, sich von den Altären und Heiligtümern der Stadt und von den Versammlungen mit gottesdienstlichen Gebräuchen fernzuhalten. Das war das Vorspiel für die Anklage.
Der Herold war fertig mit seinem Vortrag und rollte den Papyros zusammen. Gemeinsam mit dem Archon und dem Bluträcher verschwand er in einem der Amtsräume.
Der Beschuldigte blieb zurück, ein dünnes Elend in einem mit Blumen bestickten Fetzen. Bis jetzt hatte er reglos dagestanden und wie abwesend vor sich hingestarrt. In der Verlautbarung war er Hyllos genannt worden – ein Name, der Linos nichts sagte. Als der Skythe, der hier den Ordnungsdienst versah, ihn jetzt grob in die Seite knuffte und zum Verschwinden aufforderte, machte er eine empörte Bewegung und schien zu erwachen. Er riss den Mund auf und kreischte: »Ich war es nicht, Leute! Ich war es nicht! Die waren es selber! Die wollen mir das anhängen!«
Spöttisches Gelächter antwortete ihm. »Jetzt geht es dir ans Leder, Freundchen!« – »Das hat er verdienst – für seine faden Witze!« – »Sperr das Maul auf, Chakobukes, damit die Würmer hinein marschieren!«
Nun ging Linos ein Licht auf. Chaskobukes, das Sperrmaul! Besonders gefräßig, besonders kriecherisch. Keine Schändlichkeit, die er nicht mit sich machen ließ. Bei dem Gastmahl, an das sich Linos erinnerte, hatte man ihm den Schädel mit Pech eingerieben. Danach hatte eine betrunkene Hetäre eine Schweinsblase mit Blut gefüllt und ihm über den Kopf geschlagen. So hatte er dagestanden, mit Pech verschmiert, in Blut gebadet.
Und jetzt also sollte er es gewesen sein, der Blut vergossen hatte. Aber diesmal war es Menschenblut.
»Verzeih«, wandte sich Linos an einen Alten, der neben ihm stand. »Ich habe den Namen des Ermordeten nicht verstanden.«
»Der ehrenwerte Hagnon wurde getötet, ein Enkel des Feldherrn.«
»Und wer ist der Bluträcher?«
»Sein Neffe Timokles.«
Die Leute verliefen sich, gingen weiter ihren Geschäften nach.
Einen Augenblick lang erwog Linos, auf Timokles zu warten und ihm seine Dienste anzubieten. Doch die Gegner in diesem Verfahren waren so ungleich, dass eine geschliffene Anklagerede, die das Gericht überzeugen musste, kaum nötig sein würde. Linos verwarf den Gedanken, vergaß die Sache. Er schlenderte hinüber zum Fischmarkt. Als ionischer Feinschmecker wurde er hier in Athen nicht gerade verwöhnt. Vielleicht fand er unter den Schollen und Barben und dem unvermeidlichen Salzfisch eine Delikatesse. Zum Beispiel böotischen Aal aus dem See Kopais. Der war zwar teuer, drei Drachmen, doch wenn man ihn in Mangoldblättern briet …
Die Stände der Fischhändler waren heftig umdrängt. Sobald es Rippenstöße gab, wurde Linos leicht kleinmütig und verzichtete gern auf die köstlichste Beute. Hier zog man ihn jetzt sogar am Gewand. Ärgerlich drehte Linos sich um. Hinter ihm stand ein Knabe von höchstens acht Jahren, der ihn treuherzig anlächelte.
»Was willst du?«
Der Kleine trug einen Korb mit Früchten, den er Linos mit einer auffordernden Geste hinhielt.
»Für mich?«
Der Mann streckte unwillkürlich den Arm aus und nahm den Korb. Gleich machte der Bengel kehrt und lief weg.
»Warte! Von wem …?«
Linos folgte dem Jungen. Der sah sich um und grinste; er hatte vorn keine Zähne. Er schlug einen Haken und rannte weiter.
»So warte doch! Ich gebe dir auch …«
Diese Worte vernahm nur ein Schaf, das gerade mit seiner Herde vorüber getrieben wurde. Es schüttelte unwirsch den Kopf, wobei es den Korb anstieß. Zwei Äpfel hüpften über den Rand und kullerten zwischen die Beine der Herde.
Der kleine Götterbote war fort. Etwas verloren stand der ionische Rechtsgelehrte mitten im Marktgewühl und bemühte seinen ganzen Scharfsinn. Wer schickte ihm einen Korb mit Früchten? Ein dankbarer Auftraggeber? Der, dem er neulich die Erbschaft gerettet hatte? Oder dieser korrupte Zöllner, den seine überzeugende Rede in den Zustand der Unschuld eines Neugeborenen zurückversetzt hatte?
Birnen, Quitten, ein paar Feigen, die kaum den Boden des Korbs bedeckten. Der Spender hatte sich nicht verausgabt. Doch was war das? Wo die Äpfel gelegen hatten, schimmerte etwas durch die Lücke, angenehm silbrig. Zwei, drei, vier Drachmen. Eine Tetradrachme. Und noch eine …
Linos sah sich um wie ein Dieb. Bei allen Göttern, dies war nicht der passende Ort, um vom Himmel gefallenes Geld zu zählen. Schon bohrten sich neugierige Blicke in den Korb. Kamen jetzt gleich die Marktaufseher, um ihn festzunehmen? War dies ein schmutziger Trick, um einen Gastbürger zu belangen, den man gern loswerden wollte?
Der kleine Dicke schritt aus, so schnell es seine kurzen Beine vermochten. Hinüber zur Bunten Halle, hier gab es Schatten und Bänke. Und eine Ecke, wo er allein war. Nur die Helden der »Eroberung Trojas« auf dem Wandgemälde des Polygnotos blickten ihm über die Schulter.
Da war noch mehr Geld, auf einen Blick nicht zu zählen. Außerdem fand sich eine Schreibtafel, der seinigen ähnlich, für kurze Notizen.
Und eingeritzt waren diese Worte: »Melesias tötete Hagnon, aus Liebe zu Daphnos. Hilf Chaskobukes.«
Es war ein Auftrag, kein Zweifel. Der Auftrag, für den Beschuldigten die Verteidigungsrede zu schreiben. Das Honorar stimmte, das Geld auf dem Boden des Korbs summierte sich zu genau zweihundert Drachmen. Das war nicht üppig, aber auch nicht zu knapp bemessen.
Linos war gleich nach Hause gegangen. Dorthin, was er sein Zuhause nannte, vorübergehend. Es war ein geräumiges Haus im Norden der Stadt mit Mosaikfußboden und zierlichen Möbeln und mit Blick auf den Lykabettoshügel. Linos hatte es von einem Kaufmann gemietet, den eine monatelange Handelsreise ins Perserreich fernhielt. Sein einziger Hausgenosse war ein gebildeter Sklave. Der schrieb nach Diktat, fertigte Kopien an und versah alle übrigen Dienste. Die Familie war noch in Kolophon, erwartungsvoll, ungeduldig. Aber Linos musste erst herausfinden, ob das alte ionische Schlachtschiff Athen, das etwas abgetakelt und kriegsgeschädigt war, noch genug Fahrt hatte, um einen Mann und die Seinen zu neuen Ufern zu tragen.
Was sollte er tun? Er spazierte barfuß durch seinen Arbeitsraum, die Schreibtafel aus dem Korb in der Hand. »Melesias tötete Hagnon, aus Liebe zu Daphnos. Hilf Chaskobukes.«
Wer war der geheimnisvolle Auftraggeber? Warum gab er sich nicht zu erkennen? War es ein Freund des Chaskobukes? Oder ein Feind des Melesias? Letzteres konnte man eher vermuten. Melesias war einer der reichsten Männer der Stadt, Großgrundbesitzer, Schiffseigner, Privatbankier, Anteilhaber von Marmorbrüchen auf den Kykladen, Herr über Hunderte von Sklaven, die er Gewinn bringend vermietete. Er finanzierte Theateraufführungen und ließ die Stadt mit Kunstwerken schmücken. Ein solcher Mann war nicht mit jedem Gutfreund. Er hatte Schuldner und Neider. Er lebte zu gut mit seinen Marmorbädern, Dachgärten, Chierweinen und schönen Knaben … Daphnos oder wie immer sie hießen. Irgendjemand, der zweihundert Drachmen übrig hatte, missgönnte ihm das.
Mit hängenden Schultern und sorgenvoll gesenktem Kahlschädel schlurfte Linos über den Fußboden, die bunten, zu tanzenden Nymphen und grinsenden Satyrn gefügten Steine. Die stumpfnasigen, bocksohrigen Satyrn schienen über sein Dilemma zu feixen. Wenn ein Melesias in den Fall verwickelt war, ließ man sich besser nicht darauf ein. Der Mann hatte die besten Verbindungen, und um einen Gastbürger zu vertreiben, war rasch ein Vorwand gefunden. Andererseits …
Andererseits … Wer verzichtete gern auf zweihundert Drachmen? Der Unbekannte würde sie sich gewiss zurückholen, wenn Linos sich in der Sache nicht rührte. Musste man Melesias überhaupt hineinziehen? Man konnte den Hinweis ignorieren. Chaskobukes musste seine Unschuld beweisen, nicht die Schuld eines anderen. Und wenn nichts zu beweisen war, gab es immer noch Kniffe und Tricks. Man konnte versuchen, die Richter zu rühren. Der Unglückliche konnte sein trauriges Schicksal schildern, das Los eines Menschen, den die Götter nicht liebten, der auf Erden herumgestoßen wurde und für den es fast eine Verbesserung seiner Lage wäre, wenn ihn das Urteil in den Hades hinab schickte. Vielleicht würden ihn dann die alten Herren vom Areopag aus Missgunst hier oben behalten, Wenn aber nicht … der Redenschreiber hätte sein Möglichstes getan. Mehr wurde nicht von ihm verlangt.
Linos blieb stehen und blickte auf den breiten Mund einer Nymphe, den der nicht allzu begnadete Mosaikkünstler mit einer Reihe spitzer Kieselzähne ausgestattet hatte. Zum Glück ist Euxippe hübscher, dachte Linos, und er erinnerte sich, dass er der kleinen Hetäre ein Armband versprochen hatte. Eines mit mindestens drei Steinen. Hundert Drachmen würde er aufwenden müssen. Die Gastbürgersteuer war auch wieder fällig. Und er wünschte sich die schöne, teure Ausgabe der ILIAS, die er beim Buchhändler gesehen hatte.
»Worauf warte ich noch?«, sagte Linos laut zu sich selbst. »Die zweihundert Drachmen wollen verdient sein. Sehen wir uns diesen Chaskobukes mal näher an!«
Wieder schlug er den Weg zum Markt ein. Die Mittagshitze hatte die meisten Besucher vertrieben. Auch viele Händler waren schon abgerückt, nur die mit den verderblichen Waren harrten aus und lockten mit monotonen, heiseren Stimmen. Die Faulenzer und Schwätzer, die nur zur Unterhaltung hierher kamen, hatten sich in den Schatten der Hallen zurückgezogen.
Natürlich war das Thema des Tages der Mord an dem alten Eigenbrötler, und Linos hatte keine Mühe herauszubekommen, wo der vermeintliche Täter wohnte. Gleich mehrere von dessen Zunftgenossen erboten sich aufdringlich, ihn dorthin zu begleiten, gegen ein Trinkgeld natürlich. Doch der Ionier kannte die Stadt schon ganz gut. Er bedankte sich, wurde die Kerle aber erst los, als er ein paar Obolen verteilte.
Sie hatten ihm eine Gasse bezeichnet, in der ein bekannter Töpfer und Vasenmaler seinen Laden hatte. An deren Ende, vor einer Bruchbude mit halb eingefallenem Dach, stieß er auf einen Auflauf. Er entdeckte Chaskobukes sofort. Der saß auf dem Boden unter der Tür und wehrte sich schreiend gegen ein paar Männer, die ihn herauszerren wollten.
»Lasst mich in Ruhe! Gesindel! Schmarotzerpack! Ich wohne hier … das ist mein Recht …«
»Du hast keine Rechte mehr, du Mörder!«, kreischte einer.
»Wir wollen mit dir nichts mehr zu tun haben«, fügte eine tiefe Stimme hinzu. »Je eher du verreckst, desto besser!«
»Aber ich war es doch nicht!«, jammerte Chaskobukes. »Beim Zeus! Bei Athenes Schild! Bei den heiligen Eulen! Ich schwöre es, Brüder, Freunde …«
Sie packten ihn an den Füßen. Er strampelte, doch sein Widerstand war zu schwach. Sie schleppten ihn auf die Gasse hinaus.
Hier lag er zuckend, wimmernd, mit Staub bedeckt. Sie umstanden ihn höhnend. Einer versetzte ihm einen Fußtritt. Doch der bekam selbst einen Stoß vor die Brust und taumelte überrascht zur Seite.
»Wollt ihr ihn umbringen?«, sagte Linos. »Ist es eure Sache zu richten?«
»Nun hört euch den ionischen Klugscheißer an!«, rief einer, der den Dialekt erkannte. »Jetzt wollen uns die Metöken schon lehren, was Recht in Athen ist!«
Doch die anderen beschränkten sich auf empörtes Gemurmel und wichen sogar einen Schritt zurück.
»Steh auf!«, sagte Linos zu Chaskobukes.
Die schwarzen Punktaugen blinzelten ängstlich und neugierig.
»Steh auf! Ich habe mit dir zu reden.«
»Ich kann nicht, bin zu zu schwach«, winselte der Kostgänger. »Habe heute noch nichts gegessen …«
»Dem gibt niemand mehr was zu fressen, der muss verrecken«, bemerkte einer der Männer. »Das hat er verdient.«
Die anderen stimmten lebhaft zu.
»Ich verschaffe dir eine Mahlzeit«, sagte Linos zu Chaskobukes. »Ich bin Logograph. Jemand scheint an deine Unschuld zu glauben. Er will, dass ich dir zur Seite stehe in deinem Prozess.«
Chaskobukes warf ihm einen lauernden Blick zu. Sein Mund verzog sich langsam zu einem verächtlichen Grinsen. Man trieb seinen Scherz mit ihm, wie gewöhnlich. Jeder konnte das tun, der nicht so ein schäbiger Hund wie er selbst war. Warum nicht auch dieser ionische Metöke?
Aber der schien den Spaß nicht auszukosten. Er seufzte, blickte umher, verschränkte die Arme auf dem Rücken, ging ein paar Schritte auf und ab. Er wartete.
Plötzlich zitterte Hoffnung durch das Menschenbündel im Gassenstaub. Chaskobukes rappelte sich auf, schwankte ein bisschen, bevor er stand, wischte sich das Gesicht und klopfte eifrig den Gewandfetzen ab. Seine Peiniger tauschten törichte Blicke.
»Habt ihr gehört?«, sagte er. »Ich bin eingeladen! Ich habe noch Freunde – vornehme Leute! Das ist nicht so ein Lumpenpack wie ihr … Auswurf, Gelichter, das sich freut, wenn es einem ans Leder geht, weil dann einer weniger mitisst. Die wissen, dass Chaskobukes ein ehrlicher Kerl ist, der die Wahrheit sagt!« Er machte eine kokette Drehung zu Linos. »Fertig! Und wohin führst du mich jetzt?«
»Zu mir«, sagte Linos. Er stapfte mit raschen kurzen Schritten davon. Chaskobukes beeilte sich, ihm zu folgen. Höhnisch kichernd und Grimassen schneidend sah er sich immer wieder um.
Wenig später wusste Linos, dass Chaskobukes seinen Spitznamen nicht umsonst trug: Der ausgehungerte Kostgänger hatte alles verschlungen, was an Essbarem im Hause war. Zwei Weizenbrote, ein Stück Ziegenkäse, eine Schüssel mit Mehlspeise und eine mit Bohnenbrei, eine Lammkeule, dazu Feigen, Birnen und Zwiebeln. Nur ein paar angefaulte Seebarben ließ er übrig. Der alte Diener des Linos brummte und knurrte, wenn er immer noch einmal laufen und dem unverschämten Gast auftragen musste. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als bei schon sinkender Sonne noch einmal an diesem Tag zum Markt zu gehen; etwas Brot und Käse zum Frühstück musste er dem Herrn am nächsten Morgen ja vorsetzen können.
»Nun erzähle, Chaskobukes«, sagte Linos, nachdem der Kostgänger mit einem Becher Wein nachgespült hatte. »Was geschah an dem Nachmittag vor drei Tagen? Bei allen Göttern, sag mir die Wahrheit!«
»Wenn ich lüge, will ich zu ewiger Strafe verdammt sein«, erwiderte Chaskobukes feierlich. »Schlimmer soll es mir dann ergehen als Tantalos und Sisyphos.«
»Gut. Dann sage mir doch, warum gingst du zu Hagnon? Warum gerade an diesem Tag?«
»Weil es ein hundsmiserabler Tag war. Und weil ich noch nicht gemampft hatte. Was hätte ich sonst bei dieser giftigen alten Kröte zu suchen gehabt?«
»Er gab dir also immer zu essen.«
»Meistens, nicht immer. Und als Zukost Gekeife und Prügel.«
»Prügel bekommst du woanders auch.«
»Stimmt. Aber man hat sein Vergnügen dabei. Weil immer mehrere von uns da sind. Andere Kostgänger werden ja auch verhauen … manchmal darf man es selber tun, das ist spaßig. Der Alte hatte nie Gäste, man war immer allein mit ihm.«
»Jedenfalls hast du den Vorzug genossen, von ihm empfangen zu werden. Warum?«
»Warum?« Der Mund des Chaskobukes verzog sich zu einem schiefen, eitlen Grinsen. »Ich war mal ein schöner Bursche … ein Leckerbissen für Kenner, du verstehst schon. Zeus persönlich hätte mich zu seinem Mundschenken gemacht, wenn er mich früher als den Ganymedes kennengelernt hätte. Damals saß ich auf der Ruderbank, und Hagnon war Schiffsherr. Als der sah, wie ich meinen Hintern am Holz rieb, fiel ihm ein, dass er einen Rammsporn am Bug hatte. Da setzte er Segel und erwischte mich backbords.«
»Du warst also sein Geliebter. Und bliebst es.«
»Glaub mir, mein teurer Wohltäter, ich habe mir Mühe mit ihm gegeben. Was ich nicht nötig hatte. Hinter mir waren andere her, viel bessere! Ich wurde immer irgendwo eingeladen. Aus Mitleid habe ich mich um ihn gekümmert. Obwohl er schon faulte und zu stinken anfing.«
Chaskobukes verzog angewidert das Gesicht und griff zum Schöpflöffel, um sich aus dem Mischkrug Wein nachzuschenken.
Linos betrachtete ihn mit kühlem Interesse. Wie beiläufig fragte er: »Hast du ihn deshalb umgebracht?«
Die Hand des Chaskobukes begann heftig zu zittern. Der Wein schwappte aus dem Schöpflöffel auf den Fußboden.
»Ich war es nicht!«, stieß er hervor. »Aber du glaubst es auch … glaubst, dass ich es war! Dabei hast du versprochen, mir zu helfen!« Er fing an zu schluchzen.
Linos seufzte.
»Ich wurde damit beauftragt. Von einem Unbekannten, wie du ja weißt.«
»Siehst du … es glaubt jemand an meine Unschuld«, stammelte Chaskobukes unter Tränen.
»Ja. Doch deshalb muss ja ich es nicht tun. Ich soll die Rede zu deiner Verteidigung schreiben. Du aber wirst sie den Richtern dann vortragen. Daraus folgt, dass ich alles wissen muss, was du selber weißt. Denn ich bin ja in diesem Fall deine Stimme, die nur sagen soll, was dein Geist ihr befiehlt. Habe ich Recht?«
Chaskobukes kauerte reglos auf einem Hocker. Nur seine Schultern zuckten noch. Linos erhob sich von seinem Stuhl und begann, seiner Gewohnheit gemäß, umher zu wandern.
»Es wird also gut sein, mir alles zu sagen, mich vollkommen einzuweihen. Nur so kann ich Fehler vermeiden … verhindern, dass man dir auf die Schliche kommt … Argumente finden, die dich entlasten … vorbeugend Fragen beantworten, die dich überrumpeln könnten. Du willst den Richtern deine Unschuld beweisen. Wenn du schuldig bist, musst du sie täuschen … das heißt, ich bin es, der sie täuschen muss. Wenn ich sie aber täuschen will, muss ich die Wahrheit kennen … deine Wahrheit. Verstehst du das?«
Der arme Kerl hatte nichts verstanden. »Ich bin unschuldig«, stöhnte er matt. Linos sah ein, dass er so nicht weiterkam.
»Du behauptest also, du hättest den Alten gefunden … tot, mit dem Messer in der Kehle. Du hättest einen Schrei ausgestoßen und wärst in panischem Schrecken davongerannt.«
»So war es. Die Götter haben alles gesehen.«
»Mag sein. Leider stehen sie uns nicht als Zeugen zur Verfügung.«
»Außerdem die beiden Nachbarn. Kleombrotos und Photion.«
»Was haben die gesehen?«
»Na, dass ich erschrocken weglief.«
»Sind sie als Zeugen geladen?«
»Ja … von Timokles.«
»Sie sollen also gegen dich aussagen.«
»Wie denn? Ich habe ja nichts getan.«
Linos verschränkte die Hände auf dem Rücken und spazierte ein paarmal auf und ab. Dann pflanzte er sich vor Chaskobukes auf und sah ihm streng in die Augen.
»Wer ist Daphnos?«
Ruckartig wie ein Vogel hob Chaskobukes den Kopf. Seine Punktaugen starrten feindselig. »Glaubst du, dass er es war?«
»Wer ist das?«, wiederholte Linos. »Ein Verwandter des Hagnon? Ein Sklave?«
»Ein lydischer Sklave.« Chaskobukes fügte gehässig hinzu: »Und sein Lustknabe.«
»Du scheinst ihn nicht sehr zu mögen.«
»Er ist eingebildet. Und frech und faul«
»Noch jung?«
»Siebzehn Jahre. Vielleicht auch achtzehn.«
»Und vermutlich sehr schön.«
»Er ist schön wie Apoll, der Hurensohn.«
Es genierte Chaskobukes, dies zugeben zu müssen, doch war es für ihn als Griechen unmöglich, seinen Schönheitssinn zu leugnen.
»Ich nehme an«, sagte Linos, »dass dieser Mensch gewordene Apoll irgendwann deine Stelle bei Hagnon einnahm. Als Geliebter bist du ja schon in die Jahre gekommen.«
»Dafür bin ich erfahren, das ist ja auch etwas«, erwiderte Chaskobukes beleidigt.
»Trat er an deine Stelle?«
Der Kostgänger seufzte und senkte den Kopf.
»Er verdrängte dich also und du hasst ihn. Warst du nicht auch wütend auf Hagnon, der dich am liebsten nicht mehr sehen wollte?«
»Das ist nicht wahr! Er wollte mich sehen. Immer wenn Daphnos nicht bei ihm war, durfte ich kommen.«
»Wenn Daphnos nicht bei ihm war? Was heißt das?«
»Na, wenn er bei Melesias war.«
Jetzt war der Name gefallen, der Linos zur Vorsicht mahnte. Vorerst wollte er es vermeiden, Chaskobukes auf diese Spur zu führen. Behutsam forschte er weiter.
»Wie kam Daphnos denn zu Melesias? Wurde er ihm von Hagnon vermietet? Vielleicht für seine berühmten Gastmahle?«
»Wozu denn vermietet? Er gehörte ihm doch.«
»Daphnos gehörte Melesias?«
»Ja.«
»Eben sagtest du, er war der Sklave des Hagnon.«
»Auch.«
»So gehörte er beiden?«
»Richtig. So war das. Und jetzt gehört er zur einen Hälfte Melesias und zur anderen dem Erben, dem Timokles. Ja, Timokles hat Daphnos geerbt. Dabei kann der gar nichts mit ihm anfangen. Er mag nur Frauen.« Chaskobukes verdrehte die Augen und blickte zur Decke, als könnte er sich darüber nur wundern.
Linos stellte noch ein paar Fragen – und so erfuhr er die ganze Geschichte.
Melesias und der ermordete Hagnon waren alte Bekannte, vor sehr langer Zeit sogar ein Freundespaar. Da sie beide von aristokratischer Herkunft waren, hatten sie ihrer Beziehung die höhere Weihe einer geistigen und sittlichen Partnerschaft gegeben. Gemeinsam lauschten sie Philosophen, sie rangen in den Gymnasien miteinander und im Krieg kämpften sie Seite an Seite. Der Ältere, Hagnon, war das Vorbild für den Jüngeren, Melesias, der ihm nacheiferte. Später trennten sich ihre Wege. Als Schiffseigner und Getreidehändler waren sie zwangsläufig Konkurrenten. Während Hagnon, dessen Geschäfte nicht so glänzend gingen, sich mehr und mehr zurückzog und schließlich kaum noch in der Öffentlichkeit erschien, kam Melesias zu Reichtum und führte ein offenes Haus. Die beiden sahen sich kaum noch und vermissten einander auch nicht. Bis sie sich eines Tages zufällig im Peiraios begegneten.
Sie standen am Kai und beobachteten den Horizont. Jeder hielt nach einem seiner Schiffe Ausschau, das er dringend erwartete. Doch an diesem Tag ankerte nur ein milesisches Schiff, das sofort seine Ladung löschte – Sklaven. Neugierig traten die beiden näher, um die Fracht zu begutachten.
Hagnon hatte das schärfere Auge, er entdeckte den hübschen Knaben zuerst. Sein Herz schlug heftig und er begab sich sofort zum Kapitän. Der nannte den Preis: tausend Drachmen. Das war dem alten Geizhals zuviel. Er feilschte, er fluchte. Melesias wurde nun aufmerksam. Er bemerkte den schönen Jungen, und auch ihm ging das Herz auf. Augenblicklich war er bereit, den geforderten Preis zu zahlen. Doch nun beanspruchte Hagnon sein älteres Recht, weil er den Knaben entdeckt hatte. Sie stritten, sie überboten einander. Dabei gelang es dem Sklavenhändler, den Preis der begehrten Ware um weitere vierhundert Drachmen hinaufzutreiben. Schließlich einigten sich die alten Freunde. Jeder sollte die Hälfte bezahlen, und der Sklave sollte beiden gehören. Man beschloss, seine Dienste wechselseitig in Anspruch zu nehmen, jeweils immer für einen Monat.
Sie nannten ihn Daphnos, er war damals dreizehn Jahre alt. Der Junge brachte nun die beiden Männer erneut in Beziehung zueinander. Bald gab es die ersten Reibereien. Keiner war mit der Behandlung des Daphnos durch den Mitbesitzer zufrieden. Natürlich machten ihn beide zu ihrem Geliebten, und so waren sie auch bald auf einander eifersüchtig. Einen Monat lang hielten sie es nicht mehr ohne ihn aus, sie verkürzten die Frist, zuletzt auf zehn Tage.
Pünktlich am Tag der Übergabe erschien der Empfänger im Hause des anderen, um Daphnos abzuholen. Ihn allein durch die Stadt gehen zu lassen, wollte keiner riskieren. Zu kostbar war er, Straßenräuber hätten ihm in den engen Gassen auflauern, ihn fangen und weiterverkaufen können.
Vor kurzem hatte sich der Streit um Daphnos abermals zugespitzt. Hagnon hatte herausbekommen, dass Melesias den Jungen auslieh – stunden- und tageweise an seine Freunde, eine Gesellschaft stadtbekannter Wüstlinge. Dadurch sah er seine Rechte gefährdet und wollte Daphnos am liebsten überhaupt nicht mehr fortlassen. Jedes Mal, wenn Melesias erschien, um ihn abzuholen, gab es heftige Worte.
»Einmal kam ich dazu«, sagte Chaskobukes, »da fuhren sie gegen einander los wie Kampfhähne. Ja, wirklich, das war sehr komisch! Sie schwenkten die Arme wie zwei Gockel, die sich aufplustern … Melesias ruckte mit seinem Schädel, als wollte er zuhacken Hagnon stieß seine dürren Krallen nach ihm … Ich dachte schon, im nächsten Augenblick würde Blut fließen. Beim Zeus, damit hätten sie in der Komödie auftreten können! Soll ich es dir mal vormachen?«
Er sprang auf und begann, unter Schnaufen und Knurren zu gestikulieren und Grimassen zu schneiden. Mal stellte er Hagnon dar, mal Melesias, wobei er den taprigen, tückischen Greis und den aufgeblasenen alternden Schönling treffend nachahmte. Linos musste mehrmals laut lachen.
»Damit bin ich überall aufgetreten bei den Gastmahlen«, keuchte er, noch außer Atem von der heftigen Darbietung, nachdem er einen Schluck aus dem Becher genommen hatte. »Es war immer ein großer Erfolg, die Leute haben sich halbtot gelacht. Wenn irgendwo keine Stimmung aufkommen wollte, hieß es: ›Chaskobukes, zeig uns mal Hagnon und Melesias!‹ Da gab es dann jedes Mal einen Leckerbissen zusätzlich für mich oder ein paar Obolen mehr.«
»Und Daphnos?«, fragte Linos. »Wie verhielt er sich, wenn seine beiden Herren sich stritten? Ergriff er für einen der beiden Partei?«
»Der feixte nur … der Lumpenhund, der lydische Steißschwenker. Und er schürte das Feuer. Er hielt es immer mit dem, der ihn abholte, weil er wusste, der würde ihn dann verhätscheln … als Ausgleich für das, was er angeblich erlitten hatte.«
Plötzlich schwieg Chaskobukes und starrte Linos an, als sei ihm gerade eine Erkenntnis gekommen.
»Was meinst du … ob es Melesias war?«
»Wie kommst du denn darauf?«, sagte Linos rasch. »Ein solcher Verdacht wäre lächerlich. Würde ein Mann wie Melesias, der alles haben und alles kaufen kann, Tod oder Verbannung riskieren … eines Sklaven wegen?«
»Es könnte ihm ja im Eifer passiert sein, ohne dass er es wollte.«
»Ein Messerstich in die Kehle?«
Chaskobukes seufzte und gab sich geschlagen.