Über dieses Buch:

Sie bricht aus ihrem goldenen Käfig aus – und begibt sich auf eine Reise voller Gefahren … Hamburg im Jahre 1902: Die leidenschaftliche Nora Hendriksen droht, in ihrer Ehe mit einem Bankier zu ersticken. Um sich das freie Leben aufzubauen, von dem sie träumt, flieht sie nach Deutsch-Südwestafrika. Und tatsächlich: Trotz der glühenden Sonne und der harten Arbeit auf ihrer Farm blüht Nora auf. Doch wie lange kann ihr Glück währen, wenn die Spannungen zwischen den weißen Siedlern und den unterworfenen Afrikanern immer dramatischer werden? Hin- und hergerissen zwischen Loyalität und Angst, Liebe und Verzweiflung findet sich Nora zwischen zwei Männern wieder: Wilhelm von Lehnhoff, einem Offizier der deutschen »Schutztruppen« – und dem stolzen Anführer der Herero, Balthasar Maharua, der die Knechtschaft seines Volkes nicht länger tatenlos mitansehen kann …

Der Freiheitskampf einer mutigen Frau und die blutige Vergangenheit des afrikanischen Staates Namibia: ein fesselnd erzählter Roman über die deutsche Kolonialgeschichte – und über die Hoffnung, die niemals stirbt!

Über die Autorin:

Kayla Fleming ist das Pseudonym einer für ihre erfolgreichen Kriminalromane und Thriller bekannten deutschen Autorin.

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eBook-Neuausgabe Februar 2021

Dieses Buch erschien bereits 2011 unter dem Titel »Wind in den Tamarinden« bei Bastei Lübbe.

Copyright © der Originalausgabe © 2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Thomas Noitz, ESOles, Julia Shepeleva

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96655-457-2

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Kayla Flemingr

Sturm über Afrika

Roman

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TEIL EINS

Kapitel 1

Afrika, 1904

Die Soldaten kamen noch am selben Morgen, um sie in ihrem Zimmer in dem kleinen Gästehaus unter Arrest zu stellen. Nora wusste, dass jetzt alle etwas hatten, worüber sie reden konnten, die Offiziere abends in der Messe und die Farmer, die über Weihnachten in die Stadt kamen, und die Kaufleute mit ihren Frauen, und bestimmt waren einige auf ihrer Seite, aber die meisten würden gegen sie sein, und alle würden die falschen Gründe haben, weil niemand wissen konnte, warum sie es getan hatte.

Sie war bereits umgezogen, als die beiden Soldaten an ihre Tür klopften, und so blieb ihr danach nicht mehr viel übrig, als zu warten, bis sie abgeholt wurde. Sie empfand keine Scham wegen ihrer Tat, weder Scham noch Reue noch sonst etwas, wobei man sich schlecht fühlte. Sie empfand überhaupt nichts. Als die Stunden vergingen und niemand kam und sie fortbrachte, legte sie sich auf das schlichte Messingbett, denn in der Nacht hatte sie nicht viel geschlafen. Sie konnte auch jetzt nicht schlafen. Die beiden Soldaten standen in ihren sandbraunen Uniformen draußen auf dem Gang, die meiste Zeit fast reglos, aber manchmal hörte Nora die Dielen unter ihren Stiefeln knarren. Die Stiefel waren mit dem roten Staub der Straße bedeckt, und etwas davon lag auch auf dem dünnen Läufer vor dem Bett.

Über dem Kopfende des Bettes hing ein Kruzifix an der Wand, zwei dünne Streben aus Birkenholz, die Nora keinen Trost spendeten, weil ihr das Beten gestern Nacht vergangen war. Die Wände waren ebenfalls aus Holz, und gegen Mittag wurde es sehr heiß in dem kleinen Zimmer, als die Dezembersonne auf die zugezogenen Vorhänge brannte.

Nora fragte sich, wer sich um das Kind kümmern würde, falls sie ins Gefängnis kam. Sie hätte es gern bei sich gehabt, aber es war vernünftiger gewesen, es wegzugeben, solange nicht feststand, was aus ihr werden würde. Sie werden dich in die Hauptstadt bringen, dachte sie, eine lange Reise durch dieses abweisende, heiße Land, das keine richtigen Straßen hat und keine fertig verlegte Eisenbahn, nicht so wie bei uns zu Hause, und an jeder Station werden sie dich und die Soldaten anstarren, und deswegen ist es wahrscheinlich besser, dass du sein Kind nicht bei dir hast.

Als es Nachmittag wurde und das Leben erwachte, drangen durch das Fenster wieder die Geräusche der Straße – Pferdegetrappel, das Blöken von durstigem Vieh, das Quietschen der Ochsenkarren mit ihren schlecht geölten Radnaben und die lauten Stimmen der Eingeborenen. Nora wusste, dass auch sie reden würden, aber das störte sie nicht; es bedeutete nicht mehr als die hungrigen Schreie der Möwen bei ihren Sturzflügen über der Gischt der Bucht.

Am Abend stand sie auf und fragte die Soldaten vor der Tür, ob sie schon wüssten, was mit ihr geschehen würde. Die Soldaten hatten noch keine Anweisung erhalten. Sie waren sehr jung und respektvoll und fragten, ob sie ihr etwas zu essen kommen lassen sollten, aber Nora hatte keinen Hunger und bat nur um ein Glas Wasser.

Es machte ihr nichts aus zu warten, sie hatte die letzten Wochen mit nichts anderem verbracht. Wenn sie wartete, begann sie, außerhalb ihres Körpers zu leben. Sie lebte in Gedanken, die sie voraustrugen oder zurück, und das, woran sie dachte, schien ihr lange vergangen oder weit entfernt, auch wenn es erst vor Kurzem geschehen war.

Sie sah sich, nachdem Rainer sie verlassen hatte, allein mit dem Kind draußen auf der Farm. Sie sah sich mit Wilhelm, nach der Schlacht, bei der er verwundet worden war, wie er ins Lazarett getragen wurde, seine blutbefleckte Uniform staubig in der diesigen Abendsonne – roter Staub wie der auf dem Läufer in ihrem Zimmer jetzt –, und wie sie versuchte, seine Hand zu halten, und nicht wusste, ob er es überleben würde, aber sie hoffte es mit aller Kraft, weil sie nicht noch einmal etwas verlieren wollte, das sie liebte. Das war ihre Geschichte in diesem Land, Hoffung, Liebe und Verlust und nach dem Verlust neue Hoffnung.

Und sie sah sich mit Balthasar, der das Land verkörperte und der sie hierher in dieses Zimmer gebracht hatte und dazu, dass die Soldaten vor ihrer Tür Wache hielten. Ihre Vergangenheit, dachte sie, war wie ein Kaleidoskop. Sie blickte auf alles zurück, und bei jeder Drehung erschien ein neues, buntes Bild, aber zusammengesetzt war es immer nur aus Scherben. Balthasar – stolz und schwarz, voller Leidenschaft, am Ende voller Zorn und Schmerz – leuchtete heller als die anderen, vielleicht weil sie ihn erst gestern zum letzten Mal gesehen hatte, als sie mit dem Messer in der Hand zu ihm gegangen war, um ihn zu erlösen.

Sie sah alle – Rainer und Wilhelm und Ludwig –, und sie fragte sich, ob einer von ihnen da sein würde, wenn die Soldaten sie in den Gerichtssaal eskortierten, und ob es Zeugen geben würde für das, was mit ihr geschah.

Kapitel 2

Deutsches Reich, 1902

Im Herbst jenes Jahres lebte Nora Hendriksen in der Villa ihres Mannes, und von ihrem Zimmer aus konnte sie auf den großen Garten und bis über den Fluss sehen. Nachts hörte sie manchmal die Kastanien von den Bäumen unter ihrem Fenster fallen, und am Tag leuchtete das Laub an den Ästen gelb und rot in der Sonne. Das Wasser der Elbe war klar wie der Septemberhimmel. Auf den kleinen Wellen lag ein stetes Gleißen, außer wenn Regen aufzog, dann fand sich das Bleigrau der Wolken auch auf dem träge dahinrollenden Fluss. Vor dem schmiedeeisernen Tor des Anwesens fuhren die neuen Automobile die Straße entlang; es gab noch nicht viele, aber ihre Abgase legten sich auf die Stämme der Pappeln zu beiden Seiten der Chaussee, und einige der Blätter fielen ein wenig früher ab und gerieten unter die Reifen, und später verwandelten Regen und Schnee sie in Morast.

Es war das Jahr, in dem ihre jüngere Schwester Lissy heiratete. Wenn Nora später daran zurückdachte, kam es ihr vor, als wäre sie damals zum letzten Mal sorglos gewesen, mit dem Garten und dem Fluss und dem Himmel, dessen Blau so tief war, dass es in den Augen wehtat. Auch bei ihrer eigenen Hochzeit war sie unbeschwert gewesen, und an diesem Nachmittag, kurz bevor der Empfang begann, fiel ihr wieder ein, wie sie selbst es empfunden hatte: als ein Glück, dass es nicht mehr war – nicht mehr als bloße Unbeschwertheit. Das Leben an der Seite ihres Mannes würde irgendwann enden; es würde vorübergehen und sie nur wenig verändern. Das, was sie lieben konnte, hatte sie noch nicht gefunden.

Sie stand an dem kleinen Zierteich im Garten, neben den Apfelbäumen, wo man die Geräusche aus dem Haus kaum mitbekam, nur den Wind in den Zweigen und die Vögel, die sich über den anbrechenden Abend verständigten. Sie wollte einen Moment allein sein, bevor die ersten Gäste eintrafen; ein paar Minuten lang sollte niemand etwas von ihr verlangen. Gestern der Polterabend, am Morgen die kirchliche Trauung, danach das Mittagessen mit den beiden Familien. Die ganze Zeit nur Lärm, Gelächter, Kindergeschrei, Hochrufe und in der Kirche der kleine Marsch von Mendelssohn, den danach jeder vor sich hin gesummt hatte, in Bruchstücken, immer wieder, sogar sie selbst.

Ludwig, ihr Mann, befand sich im Haus, überwachte die Vorbereitungen für das Essen und dirigierte das Personal. Nur wenn der Wind kurz den Atem anhielt, konnte sie ihn hören, seine Stimme und die ihrer Schwester. Geschirr klirrte. Am Flügel im Salon schlug jemand immer denselben Ton an, ein Cello fiel ein, kurz nur, dann rief ihre Schwester: »Nora!«

Nora rührte sich nicht.

Das Haus war groß, fast ein kleines Schloss mit Erkern und Türmen, die Mauern aus strengem Granit erbaut und von wildem Wein überwuchert bis hinauf zu den schiefergrauen Dachschindeln. In den bleiverglasten Fenstern leuchtete bunt das Familienwappen. Von der ausladenden Terrasse hinter dem Salon hatte man einen überwältigenden Blick auf den weitläufig zur Elbe hin abfallenden Garten, gestaltet im verschwenderischen Dunkelgrün von hohen Bäumen, dichten Hecken, Gebüsch und Rasen. Eine Eibenlaube auf der anderen Seite des Zierteichs bildete einen filigranen Kontrapunkt zu dem höher gelegenen Haus. Aus Anlass des abendlichen Diners hatte das Personal Garten und Terrasse mit Hunderten weißer Windlichter und farbiger Lampions an Stöcken und Girlanden geschmückt.

Der Wind setzte wieder ein und riffelte die Oberfläche des Teichs. Ein paar welke Blätter landeten zwischen den Seerosen. Nora genoss den schweren Geruch des Laubes und der Bäume im September, den Abschied von der Sommerblüte und das letzte üppige Farbenspiel. Der Frühling war die Zeit der Unschuld, der Herbst trug die Ahnung des Verlustes heran, dunkel wie der ferne Klang der Nebelhörner auf dem Fluss jenseits der Mauer, wo große Dampfer der Nordsee zustrebten.

»Nora!« Lissy erschien in der Fenstertür zur Veranda und hielt nach Nora Ausschau, ohne sie zu entdecken. Von jenseits des Hauses, wo die kieselbestreute Auffahrt ihren Bogen hinunter zur Chaussee schlug, ertönte Motorenlärm, das metallische Tuten vereinzelter Hupen und das Wiehern nervöser Pferde. Gelächter stieg auf. Das kleine Orchester im Salon intonierte eine Konzertouvertüre. Es war Zeit. Nora wandte sich wieder dem Haus zu, ging zurück über die ovalen Steinplatten, die durch das Lampionspalier zur Terrasse hinaufführten.

An einer der Blumenrabatten blieb sie stehen, um eine Septemberrose abzubrechen. Doch als sie die Blüte an ihr Gesicht hob, erschien ihr der schwache Duft wie ein Vorwurf. Im Haus gab es Blumen genug, längst geschnitten und zu Arrangements gebunden, die nichts mehr in sich trugen, weder Sommer noch Herbst, sondern lediglich Opulenz verkündeten. Ihr war, als hätte sie diesen vollkommenen Tag mit ihrer mutwilligen Tat beschädigt, sodass er nun nur noch verfallen konnte.

Lissy winkte ihr von der Terrasse aus. »Nora!« Sie trug das Brautkleid aus weißem Chiffon, in dem sie am Morgen getraut worden war, wollte sich davon nicht trennen, nur die Handschuhe hatte sie ausgezogen. Aus ihrer Frisur hatten sich ein paar Strähnen gelöst, die zu beiden Seiten ihres erhitzten Gesichts herabhingen. In der Hand hielt sie einen zerknitterten Briefbogen. »Also, hier steckst du! Ludwig sucht dich, alle suchen dich ... Die ersten Gäste sind schon da, und die halbe Stadt ist noch auf dem Weg hierher.« Ihre atemlose Stimme wurde leiser, fast fürsorglich. »Was hast du dir nur dabei gedacht? Wenn jemand das hier liest...«

»Ich war im Garten«, sagte Nora. »Ich hatte vergessen, wie feucht das Laub um diese Jahreszeit schon ist.« Ihre altrosa Ballschuhe waren nass und über und über mit Grasflecken bedeckt, sodass man sie eigentlich nicht mehr vorzeigen konnte. Aber in diesen Schuhen hatte sie vor fünf Jahren mit Ludwig den Hochzeitswalzer getanzt und schon damals gewusst, dass sie sie wieder tragen würde, wenn ihre Schwester heiratete. Sie griff nach Lissys Hand, ohne den Brief zu beachten. »Ich wollte, dass du etwas von mir hast, weil wir uns von nun an doch bestimmt nicht mehr so häufig sehen werden. Deswegen habe ich dir den Brief geschrieben. Ich wünsche mir so sehr, dass du glücklich bist.«

»Aber ich bin glücklich – natürlich bin ich glücklich«, sagte Lissy, noch immer mit der etwas atemlosen, leisen, plötzlich eher vorwurfsvollen Stimme. »Ich bin jetzt eine Frau Konsul in spe. Warst du nicht glücklich, als du geheiratet hast? Was wolltest du im Garten? An so einem Tag ist dein Platz im Haus!«

»Du redest schon genauso wie Ludwig. Oder wie Papa.«

»Nur weil dein Mann Bankier und reich ist, muss nicht alles falsch sein, was er sagt.« Lissy schwieg kurz, ehe sie mit einem besorgten Blick auf Noras Schuhe hinzufügte: »Hat das was mit den Zigarrenkisten zu tun, von denen du geschrieben hast? Weißt du, manchmal mache ich mir wirklich Sorgen um dich.«

»Ich wollte nur – du solltest wissen, dass ich immer für dich da bin ... Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du mal unglücklich bist oder verzweifelt ...«

»Und deswegen willst du mein Herz in einer Zigarrenkiste vergraben?« Lissy schüttelte den Kopf. »Langsam fange ich an zu glauben, was die Leute alles so über dich sagen. Dabei wollte ich das nie, weil du meine Schwester bist. Wie kann jemand mit achtundzwanzig Jahren noch so einen Unsinn schreiben!? Ich habe doch nun meinen Mann. Ab jetzt ist Carl-Gustav für mich da. Weißt du, ich finde, du bist etwas überspannt, aber das nehme ich dir nicht übel. Ich habe dich trotzdem lieb, trotz all deiner Launen und Marotten.« Sie nahm Nora die Rose ab und drückte ihr dafür den Brief in die Hand. »Hier, das ist vielleicht eher was für deinen Dichter – Herz, Liebe, Schmerz, pas possible! Wie ich sehen musste, steht sein Name auch auf der Gästeliste.«

Sie drehte sich um und verschwand durch den Efeubogen über der Verandatür wieder im Haus.

Nora folgte ihr, einige Atemzüge lang wie benommen von einem Gefühl umfassender Liebe für ihre kleine Schwester, das sie glücklich stimmte. »Was die Leute über dich sagen«, wiederholte sie für sich. Sie wusste, was sie sagten. Sie sagten, dass sie die falsche Frau für den nüchternen, besonnenen Ludwig Hendriksen war – zu naiv, zu freisinnig, zu ungeduldig, zu versponnen, vielleicht sogar zu leidenschaftlich und in jedem Fall zu romantisch. Nichts gegen Leidenschaft, sagten die Männer, aber am Ende muss die Bilanz stimmen. Romantik ist etwas Wunderbares, sagten die Frauen, aber ein Haus kann man damit nicht führen.

Ludwig, stolz auf Noras Schönheit, hatte unter dem Strich ein schlechtes Geschäft gemacht. Er war ihrem Antlitz erlegen – dem blassen, zarten Oval mit den weich modellierten Wangenknochen, dem hellen Glanz der großen, blauen Augen, der hohen Stirn. Ja, schön war sie. Mit ihrem kupferroten Haar, den zart geschwungenen, vollen Lippen und der schlanken, hochgewachsenen Statur lenkte sie in der Oper, bei Bällen und Soireen sämtliche Blicke auf sich. Alles an ihr hätte Ludwig Neid und Bewunderung eingetragen, wäre nicht bald schon bekannt geworden, dass sie ungehorsam und hitzköpfig war und gelegentlich sogar einfach verschwand, ohne zu hinterlassen, wohin oder wie lange oder mit wem.

Viele sagten: gesellschaftlich untragbar, eine Belastung für sein Ansehen, eine Mesalliance, vielleicht sogar eine Schande. Und in Ludwigs Augen stand oft die stumme Frage: Warum hast du mich eigentlich geheiratet? Sie sah die Frage, und es tat ihr leid für ihn. Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Eines Tages, dachte sie, werde ich Kinder haben, und die werde ich lieben und beschützen.

Glaub es ruhig, kleine Schwester, dachte Nora. Du hättest bloß ein Mal die Augen offen halten müssen. Aber Lissy war eingebildet, steif und nicht sehr klug, und sie hatte kein Wort von dem verstanden, was in dem Brief stand. Nora faltete den zerknitterten Bogen zusammen und schob ihn im Salon achtlos hinter eins von Ludwigs Gemälden, wo er zwischen Rahmen und Wand stecken blieb, geschützt durch das Bild einer Landschaft, über der sich dunkle Wolken zusammenballten.

Solange sie sich erinnern konnte, hatten sie und ihre Schwester sich wegen jeder Kleinigkeit gestritten. Erst in den letzten Jahren war eine brüchige Nähe zwischen ihnen entstanden. Dass Nora ihrer Schwester heute diesen Brief geschrieben hatte, bedeutete einen einseitigen Waffenstillstand. Lissy wusste noch nicht, was es hieß, verheiratet zu sein; sie sollte wissen, dass sie ab jetzt eine Freundin hatte.

Nora ging durch die neben dem Salon gelegene Bibliothek in die Empfangshalle. Vor einem bräunlichen Spiegel neben dem Gewehrschrank mit den Silber beschlagenen Jagdflinten blieb sie stehen, um ihre Erscheinung zu überprüfen. Wenn sie sich nicht bewegte, verschwanden die grasfleckigen Ballschuhe fast gänzlich unter dem Saum des jadegrünen, mit kunstvollen Purpurrüschen verzierten Seidenkleides, das sie für den Abend gewählt hatte. Hochgeschlossen am Hals, mit gebauschten, zum Handgelenk hin geriffelten Ärmeln, lag es oben eng an, fiel jedoch von der Taille abwärts weit wie eine Glocke. Die Handschuhe nahmen das Altrosa der Schuhe noch einmal auf, und am Hals zeugte ein großer Rubin in einer goldenen Ansteckbrosche von der Großzügigkeit ihres Mannes.

Der Salon, sonst der behaglichste Raum des Hauses, war bereits vom Lärm der ersten Gäste erfüllt. Sie bildeten kleine Gruppen vor dem Kaminfeuer oder um die mit dunkelgrünem Samt bezogenen Sessel und Sofas, auf denen die Älteren unter den Geladenen Platz genommen hatten. Livrierte Diener trugen Silbertabletts mit leise klirrenden Champagnergläsern von Gruppe zu Gruppe; Orientteppiche auf dem Parkettboden dämpften die Schritte.

Das zwölfköpfige Orchester aus Konzerthausmusikern saß in zwei Reihen vor den Verandafenstern, durch die das schwindende Licht des Tages auf ihre Notenblätter fiel. Sie spielten jetzt Wagner, passend zum Einzug der Gäste. Wie ein Metronom schlug das Pendel der großen schildpattverzierten Stutzuhr seinen eigenen Takt. Die Kerzen auf den Tischen und in den silbernen Haltern an den eichengetäfelten Wänden flackerten im Luftzug zwischen Terrasse und Empfangshalle, wo Lissy und Carl-Gustav Beermann Seite an Seite mit Ludwig das Begrüßungskomitee bildeten.

Ludwig empfing Nora mit einem tadelnden Blick. »Du kennst Herbert Woermann und seine Frau, nicht wahr, Nora?«, sagte er, und Nora nickte und schüttelte die erste von unzähligen kühlen Händen. In der Auffahrt vor der Tür stauten sich die Automobile, Daimler, Opel, Porsche und sogar ein unpatriotischer Peugeot, alle auf Hochglanz poliert und keines billiger als zwanzigtausend Mark.

»Schau dir diese Prozession an!«, flüsterte Nora ihrem Mann zu. »Ein Arbeiter braucht gut fünfundzwanzig Jahre, um sich nur ein solches Automobil leisten zu können, und dann hat er noch nicht gegessen, keine Miete bezahlt und auf Kleidung verzichtet.«

Ludwig hörte nicht auf zu lächeln. Er war einen halben Kopf größer als seine Frau, und obwohl er auf die fünfzig zuging, störte keine einzige graue Strähne das vollkommene Dunkelblond seines Haares. Seine Haut wies nur wenige Falten auf, am Hals und den Händen mehr als im Gesicht; sogar die Stirn war erstaunlich glatt. Das energische Kinn erwies sich bei näherem Hinsehen nicht als angeboren, sondern als bewusste Haltung, mit der er einen etwas zu kurz geratenen Unterkiefer auszugleichen suchte, indem er ihn so weit vorschob, bis Ober- und Unterlippe zusammen einen straffen, herrischen Mund ergaben. Für einen Mann seines Alters war seine Figur noch tadellos, abgesehen von einem kleinen Bauch, den aber der maßgeschneiderte Frack samt Seidenweste fast völlig verbarg.

Links von Nora standen die Frischvermählten, Carl-Gustav und Lissy, die jeden Gast mit Namen und stets dem gleichen herzlich wirkenden Lächeln begrüßten, jeden Schwager, Onkel oder Cousin, jede Tante, jeden Enkel und Neffen, und nicht nur die Familienangehörigen, sondern auch deren Verwandte und Freunde sowie sämtliche Honoratioren und Geschäftspartner, einschließlich der geladenen Offiziere, Senatoren und kirchlichen Würdenträger. In der linken Hand hielt sie noch immer die von Nora im Garten gebrochene Rose, die allein durch ihr leichtes Zittern Lissys innere Anspannung verriet. Nora glaubte fast, die zart gefiederten Blättchen und die Blütenstempel leise rascheln zu hören.

Konsul in spe Carl-Gustav Beermann, Erbe einer der größten norddeutschen Reedereien und ein auf weichliche Art gut aussehender, aber leicht zur Fülle neigender Mann, hielt die linke Hand geöffnet auf dem Rücken, als stünde er in Rührt-euch-Stellung auf dem Kasernenhof. Das dünne rötliche Haar trug er straff an den Kopf gekämmt. Seine Augen waren klein, die Lippen schienen sich beim Sprechen kaum zu bewegen, und er brachte es fertig, seine Braut während des halbstündigen Defilees der Gäste nicht ein Mal anzuschauen. Auf Nora erweckte er den Eindruck, als wäre er nur rein technisch am Leben. Aber vielleicht wünschte Lissy sich gar nichts anderes, und es zählte für sie vor allem, dass sein Vermögen das Ludwigs und der meisten anderen hier um einiges übertraf und er somit eine Art König in diesem Walhalla langweiliger Pfeffersäcke war.

»Guten Abend, Herr Doktor... Herr Senator... Herr Pastor.« Wie leicht ihnen die immer gleichen Floskeln von den Lippen gingen. »Danke, dass Sie kommen konnten ... die lange Reise auf sich genommen haben... uns die Ehre geben.« Und wie anmutig sie den Kopf neigen konnte. »Bitte, geben Sie dem Mädchen doch Ihren Mantel ... tragen Sie sich dort ins Gästebuch ein ... lassen Sie ein Foto von sich aufnehmen.«

Ein von Lissys Schwiegervater engagierter Fotograf hatte dicht am Eingang seine Kamera aufgebaut. In der einen Hand hielt er den Magnesiumblitz, in der anderen den Auslöser des klobigen Apparats. Sein Kopf verschwand immer wieder unter einem Tuch hinter der Kamera wie der eines Haubentauchers im Wasser. Nach der Begrüßung durch die Gastgeber bauten sich die Eingetroffenen einzeln, paarweise oder als Gruppe vor dem Hintergrund der Empfangshalle auf, und mit einem Laut, der wie ein unterdrücktes Husten klang, wurde alles in ein weißes Leuchten getaucht.

»Ah, ein Fotograf!«, rief Julius Reitböck, Mitinhaber des Bankhauses Benjamin, Reitböck jun. & Co., der wie die Hendriksens, die Beermanns, die Woermanns und einige andere Gäste Mitglied in der Deutschen Kolonialgesellschaft für Südwestafrika war, ihrer aller Steckenpferd. Sein Gesichtsausdruck war so ernst und bedeutungsvoll, als stünde er gerade im Begriff, einen Staatskredit aufzukündigen. »Faszinierende Technik, kaum zu glauben! Die Vorstellung, dass dieses Ereignis für die Ewigkeit festgehalten werden kann, nur mithilfe eines Holzkastens, etwas lichtempfindlichem Papier und Silberoxid – oder so ähnlich. Es soll jetzt sogar Apparate geben, die ganze Bewegungsabläufe fixieren – man nennt das ›filmen‹ –, und es funktioniert!«

Er beugte sich über Noras Hand, klopfte Carl-Gustav Beermann auf die Schulter und steuerte dann umgehend den Platz vor der Kameralinse an, wo er sich gerade mit einer Hand über die linke Schläfe strich, als der Blitz des Fotografen ihn einfror. »Faszinierend«, bemerkte er noch einmal. Er nahm ein Glas von einem vorbeischwebenden Tablett und stürzte sich damit in das Gedränge jenseits der Schwelle zum Salon.

»Kommerzienrat Rotkötter und Gemahlin«, murmelte Noras Mann, mehr zu sich selbst als für ihre Ohren bestimmt. An der Brust des Kommerzienrats prangten mehrere Orden mit und ohne Band. Er sah aus wie ein Botschafter, der seinen Antrittsbesuch bei Hof absolvierte, in einem der kleineren, exotischen Königreiche auf der anderen Seite der Welt: etwas neugierig und gleichzeitig auf der Hut. Seine Frau, drei Jahre älter als er und ganz unpassend in schwarzer und scharlachroter Spitze gekleidet, übertraf seine Miene noch. Trotz eines Lächelns auf den stark geschminkten Lippen wirkte sie, als hätte sie beschlossen, den Rest ihrer Tage in abgrundtiefer Verbitterung zu verbringen.

»Korvettenkapitän Rasmussen«, sagte Noras Mann leise. »Börsenpräsident Peterson ... Pastor Brügge ... Frau Springer mit den Zwillingen Annegret und Annalena.«

Noras Finger schmerzten, und sie dachte, dass sie nicht eine Hand mehr schütteln könnte. Sie sehnte sich nach einem Schluck Champagner. Es gelang ihr nur schwer, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie hatte so sehr gehofft, dass Lissys Hochzeit anders werden würde, mehr als nur eine Wiederholung ihrer eigenen, die eher eine Aktionärsversammlung gewesen war als ein ausgelassenes Fest. Nur von der Terrasse klang Gelächter herüber, wo die jüngeren Gäste im Schein der Lampions die Abendluft genossen. Als das Orchester eine Pause einlegte, erkannte Nora die Stimme ihrer Cousine Marieluise und den Bariton von Ludwigs jüngerem Bruder Sebastian.

»Du meine Güte, wer hat denn diesen Tagedieb eingeladen?«, raunte Ludwig ihr ins Ohr.

Ihr Blick flog durch die Halle, bis er auf Rainer Maria Offergelt fiel – »ihren Dichter«, wie Lissy ihn herablassend genannt hatte. Er lehnte am Geländer der Treppe, in der Hand eine brennende Zigarette, obwohl die Etikette Tabakgenuss nur in der Bibliothek gestattete. Er trug einen schwarzen Frack, ein weißes Hemd unter einer schwarzen Samtweste und schwarze Reithosen, die in glänzenden schwarzen Stiefeln steckten. Eine breite schwarze Halsbinde verbarg den hohen Kragen. Sein Gesicht war blass, scharf geschnitten und wurde umrahmt von langen, schwarzen Haaren. In den braunen Augen von ungewöhnlicher Klarheit stand der abwesende, ferne Blick eines gefangenen Wildtiers, eines Leoparden vielleicht, der sich nach einer langen Reise in einem kleinen Käfig vor einem gaffenden Publikum wiederfindet.

Nora winkte ihm mit der linken Hand unauffällig zu. Wie stolz er sich gibt, dachte sie, stolz und romantisch und unwiderstehlich, und was heißt hier überhaupt mein Dichter? Er schrieb ihr Briefe voll offener Verehrung, durchtränkt von versteckter Leidenschaft. Er widmete ihr Gedichte, deren bleiches Feuer sie erregte, aber sie antwortete nur unregelmäßig und ermutigte ihn zu nichts, denn sie wusste, dass ihm bereits viele Frauen zu Füßen lagen. Dennoch hatte sie ihn auf die Gästeliste gesetzt und gebeten, zur Hochzeit ihrer Schwester etwas vorzutragen; Lissy konnte eine Prise Leidenschaft vertragen.

Jetzt, als er Noras Winken bemerkte, veränderte sich seine Miene. Die Kühle wich, und ein schüchternes Lächeln trat auf seine Lippen. Auf einmal hatte seine abweisende Haltung nichts Stolzes mehr, sondern verriet nur noch rührende Einsamkeit. Seine Augen verloren ihren fernen, kalten Ausdruck, und sein Gesicht nahm Farbe an, die all die scharfen Linien miteinander verschmolz, bis es weich wirkte wie das eines Kindes oder eines Liebenden. Er lächelte ihr zu. Einen Moment später wandte er sich ab und schien im nächsten Magnesiumblitz des Fotografen verschwunden.

»Willst du nicht in der Küche nachschauen, wie weit das Essen gediehen ist?«, fragte Ludwig leise.

»Unbedingt will ich das«, antwortete Nora ebenso leise. »Womöglich ist es schon zu weit gediehen oder noch nicht weit genug, und dann muss ich ihm ja Beine machen, nicht wahr?«

Kein Funken Humor, dachte sie, wie alle Bankiers. Sie ließ ihre Schwester und die beiden Männer stehen und wandte sich der Küche zu. Als sie dort eintraf, hielt sie ein Champagnerglas in der Hand, das sie unterwegs ergattert und bereits zur Hälfte geleert hatte. Ihre Wangen glühten. Sie war Alkohol nicht gewöhnt; selbst von einem Löffel Hustensaft wurde sie betrunken. Aber schließlich fiel auch der Champagner in ihre Verantwortung, und sie musste prüfen, wie weit er gediehen war.

Sie stieß die Schwingtür zur Küche auf, und die Hitze, die ihr entgegenschlug, raubte ihr fast den Atem. Die Luft war schwer von würzigen Gerüchen. Die Köchin scheuchte ihre fünf Gehilfen zwischen Suppen, Kartoffeln und Gemüse in brodelnden Töpfen hin und her, die Serviermädchen hantierten mit Stapeln von Geschirr auf der Anrichte, und der Weinkellner entkorkte eine Champagnerflasche nach der anderen. Das Wildschwein, das Carl-Gustav selbst geschossen hatte, lag auf dem Ofenblech, wo der Koch es mit Bratensoße übergoss. Glänzend rann die heiße Flüssigkeit über die nackten, braun geschmorten Flanken des Keilers, dessen Augen im Widerschein des Herdfeuers glommen, als wäre er noch am Leben.

Niemand nahm Notiz von Nora, alles schien bestens gediehen und weiter zu gedeihen. Sie lächelte vor Vergnügen beim Anblick all dieser Geschäftigkeit, die ihrer nicht bedurfte. Sie leerte ihr Glas und stellte es neben der Tür auf einem Tisch zu anderen benutzten Gläsern, bevor sie die Schwingtür mit dem Rücken wieder aufstieß und sich leise zurückzog.

Mit schnellen Schritten ging sie in den überfüllten Salon, vorbei an der Bibliothek, in der die Männer standen und rauchten, und hinaus auf die Terrasse, ohne mit jemandem ein Wort zu wechseln. Es war inzwischen ganz dunkel geworden. Die Luft roch nach feuchtem Laub und schwach nach Salz. Die Lampions an der Pergola schaukelten leicht in einer frischen Brise, die von der Elbe heraufwehte. Nora stellte fest, dass sie niemanden suchte und eigentlich auch mit niemandem reden wollte, obwohl es auf der Veranda von fabelhaft aussehenden jungen Männern im maßgeschneiderten Frack nur so wimmelte, ganz zu schweigen von den unerhört schönen Frauen in extravaganten Ballkleidern, alle fröhlich, alle geistvoll, alle kultiviert und alle ungeheuer reich.

Nora trat an die Steinbalustrade und sah hinab in den von flackernden Windlichtern belebten Garten. Sie schloss die Augen, hielt ihre erhitzte Stirn in den kühlen Wind. Sie achtete nicht auf das Stimmengewirr, das Gelächter und die Orchesterklänge aus dem Salon, sondern lauschte dem Rauschen der Blätter in den Baumkronen. Es klang, als atmete die Erde im Schlaf.

Auf einmal spürte Nora, dass sie beobachtet wurde. Es war ein leichtes Brennen in ihrem Nacken wie von einem kleinen Pflaster, das nicht halten wollte. Sie blickte sich um, und dort stand Rainer Offergelt, beleuchtet von der Gaslaterne an der Hauswand. Er hielt zwei Gläser in der Hand, trank aber nur aus einem. Sein Haar bewegte sich im Wind. Eine kaum gezähmte Wildheit lag in seinen Augen, die sie so unverwandt anstarrten, dass sie sich unwillkürlich fragte, ob er vielleicht verrückt war. Einen Herzschlag lang dachte sie, dass man sich vor ihm fürchten könnte. Doch dann bewegte er sich, und das Licht fiel aus einem anderen Winkel auf sein Gesicht. Nun wirkte es nur noch ernst, außerordentlich ernst und anziehend, ohne dass er eine Miene verzogen hätte. Vor dem düsteren Grün des Efeus schien es von innen heraus zu leuchten.

Er trat auf sie zu, blieb bei ihr stehen und reichte ihr das Glas, aus dem er noch nicht getrunken hatte. Sie setzte es an die Lippen, nahm diesmal aber nur einen kleinen Schluck. Er sagte: »Sie haben auf meinen letzten Brief nicht geantwortet.«

»Das ist so mit den letzten Briefen«, sagte sie. »Sie bleiben ohne Antwort.«

»Sie haben ihn aber gelesen?«

Nora deutete ein Nicken an.

»Ich habe Ihnen geschrieben, dass ich Sie liebe«, sagte er.

»Sie denken nur, dass Sie es tun«, antwortete Nora, »und nicht einmal das schickt sich!« Sie wandte sich wieder dem Garten mit den weißen Windlichtern zu. »Ist der Anblick nicht wunderschön? All diese kleinen Flämmchen – wie ein Sternbild, das vom Himmel gefallen ist, damit wir hier unten nicht vom Kurs abkommen. Haben Sie etwas für meine Schwester vorbereitet, das Sie zum Essen vortragen können?«

Offergelt sagte: »Was sich schickt, ist mir gleichgültig. Wozu ist ein Kurs gut, wenn wir alle Entdeckungen nur denen zu verdanken haben, die von ihm abgewichen sind? Überlassen Sie es den Bankiers und den Krämern, den Kurs zu halten, den der Kompass ihrer Fantasielosigkeit ihnen weist. Es gibt hellere Sternbilder als die am Himmel in unserem Herzen und mehr Himmelsrichtungen als nur vier, in die es fliegen kann. Wenn Sie das nicht wüssten, Nora, wären wir uns nie begegnet, und Sie hätten meine Briefe nicht geöffnet.«

»Das sind doch nur Worte« sagte sie, »alles, was Sie haben, sind Worte.«

»Und Ihr Mann«, entgegnete er, »was hat Ludwig Hendriksen? Die Worte sind wenigstens mein Eigentum, aber der Herr Bankier verleiht Geld, das ihm nicht gehört, an Leute, die keins haben, damit sie ihm dann als Schuldner zurückzahlen müssen, was sie ihm eigentlich gar nicht schuldig sind. Ich bin niemandem etwas schuldig, außer der Schönheit, und ich werde immer reich sein, denn die Liebe, wie alle Schöpfung, beginnt mit dem Wort.«

Nora hatte einen Atemzug lang das Gefühl, als schwankte der Boden unter ihr. Du darfst nicht trinken, ermahnte sie sich. Denk daran, was der Arzt gesagt hat. Mit der freien Hand griff sie nach der Balustrade. »Ich ...« Sie unterbrach sich, schüttelte hastig den Kopf. »Ich habe gelegentliche Absenzen«, sagte sie, scheinbar zusammenhanglos. »Winzige Ohnmachtsanfälle, nach denen ich nicht weiß, was ich tue.«

Offergelt schwieg, als müsste er eine überlegte Diagnose stellen. »Haben Sie jemals von Friedrich Nietzsche gehört?«

»Ach ja, Nietzsche«, sagte Nora und trank trotzdem einen Schluck Champagner, einen größeren zur Abwechslung. »Den lesen ja jetzt alle, nicht wahr? Ist er nicht kürzlich gestorben?« Sie drehte sich um und sah zu den Fenstern des Salons und der Bibliothek hinüber. »Ich werde das Orchester bitten, etwas anderes zu spielen«, rief sie. »Immer nur Wagner ist auf Dauer unerträglich, dieses Geschwollene! Vielleicht haben sie Noten von Puccini.«

Sie ließ ihr Glas auf der Balustrade stehen. Im Vorbeigehen fiel ihr Blick durch das Fenster zur Bibliothek. Vor dem Kamin standen Ludwig und ein gutes Dutzend anderer Männer im angeregten Gespräch, als wären sie bei einer Konferenz im Vorstandszimmer und nicht bei einer Hochzeitsfeier.

»Sehen Sie nur, da stehen sie wie Pinguine und palavern«, sagte Offergelt. »Wollen Sie wirklich in dieser Gesellschaft Ihr Leben verbringen? Fräcke und Uniformen, furchtbar steif, furchtbar wichtig, niemand wird jemals laut, nur ein Kopfnicken, eine kleine Handbewegung. Und bestimmt reden sie darüber, dass es Krieg geben wird, mit England oder schon wieder mit Frankreich, und überlegen, wie viel sich für jeden daran verdienen lässt. Kommen Sie mit!«

»Was haben Sie vor?«

»Arma virumque cano«, sagte Offergelt. »Ich singe von Männern und Waffen – und Geld. Vergil hat nur ein Wort vergessen, aber wenn Sie mitkommen, werden Sie es da drin hören können, ohne Unterlass.«

»Unsinn! Ich kenne niemanden, der so friedliebend ist wie Ludwig.«

»Als Ihr Mann vielleicht, aber nicht als Bankier«, erwiderte Offergelt. »Wenn es seinen Interessen nutzt, treibt er in Friedenszeiten eine Firma in den Bankrott, und im Krieg gibt er das Geld für die Kanonen, die eine Stadt in Schutt und Asche legen. Wirtschaft ist Wettbewerb, und die äußerste Form des Wettbewerbs ist Krieg, und wie bei jedem Wettbewerb gibt es Sieger und Verlierer. Die Bankiers und die Kanonenhersteller sind nie die Verlierer, nicht in Deutschland, nicht in England, nicht in Frankreich. Wissen Sie, wer der Verlierer ist? Der Arbeiter, der nach dem Bankrott auf der Straße steht oder nach der Schlacht tot im Schützengraben liegt, und er hat überall dasselbe Gesicht, überall auf der Welt. Wenn Sie mitkommen, beweise ich es Ihnen.«

»Gehen Sie meinetwegen allein!« Nora entzog ihm ihre Hand, und erst jetzt, als sie ihn nicht mehr berührte, merkte sie, wie angenehm ihr der sanfte Druck seiner schlanken Finger gewesen war. Er lächelte bedauernd, dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich der Verandatür zu. Sie sah ihm nach, wie er sich durch eine Gruppe lachender junger Männer drängte. Eigentlich wollte ich ihn doch stehen lassen, dachte sie; ich gestatte ihm nicht, mich einfach so stehen zu lassen.

Sie folgte ihm und bemerkte gerade noch, wie er mit der rechten Schulter das Gemälde streifte, hinter dem sie den Brief an Lissy versteckt hatte. Das Bild schaukelte sacht. Der Brief rutschte hervor und fiel zu Boden. Nora wollte ihn aufheben, aber im selben Moment trug ein Windstoß von der Terrasse ihn ein Stück in den Salon hinein, wo er zwischen den Füßen der Gäste liegen blieb. Eine Hand griff nach dem zusammengefalteten Papier und entfaltete es.

Plötzlich stand Lissy neben Nora. Sie hielt noch immer die Rose, die inzwischen ganz aufgegangen war. Schon als Kind hatte Lissy nichts, was ihr gefiel, freiwillig wieder losgelassen, oft einen ganzen Tag lang nicht. »Ist das Essen nicht bald fertig?«, fragte sie. »Carl-Gustav hat schrecklichen Hunger.«

»Es muss jeden Moment so weit sein«, sagte Nora. »Worüber reden sie denn da in der Bibliothek?«

»Über Russland«, antwortete Lissy geistesabwesend, »und Japan. Und Zar Nikolaus.« Sie seufzte. »Herr Oppenheim wollte wissen, ob es nach unserer Meinung mit der Herrschaft des Zaren zu Ende geht, wenn es zwischen Russland und Japan zum Krieg kommt, und Carl-Gustav meinte, über den Krieg würde er sich alle Fälle noch retten können, aber für die Zeit danach sähe es düster aus.«

»Nach unserer Meinung?«, wiederholte Nora. »Seit wann hast du denn eine Meinung zu politischen Fragen?«

Lissy runzelte die Stirn. »Carl-Gustav sagt, wenn England und Frankreich noch enger zusammenrücken, sieht es auch für uns düster aus. Er sagt, die Briten rücken uns überall mächtig auf die Pelle, bauen neue Kriegsschiffe, verstärken ihre Truppen in den Kolonien. Er macht sich Sorgen um seine Investitionen in Deutsch-Südwest, genau wie Ludwig übrigens auch. Die Portugiesen und die Briten scheinen uns da in die Klammer zu nehmen, und wenn wir die nationalen Interessen in Afrika schützen wollen, müssen wir unsere Schutztruppen ebenfalls aufstocken.«

»Du lieber Gott, da hat wohl jemand den Kleiderschrank aufgemacht, und die ganzen Patrioten sind herausgeflattert«, sagte Nora so laut, dass man es in der Bibliothek hören konnte. Alle anwesenden Männer starrten sie an, nur Ludwig blickte peinlich berührt zu Boden. Sein Blick blieb an ihren Ballschuhen hängen, den Grasflecken auf dem altrosa Satin. Als sie sein Gesicht sah, musste sie lachen. Da hob er den Kopf und sagte etwas verloren:

»Wegen dieses Lachens habe ich sie geheiratet, und das sind die Schuhe, die sie bei unserer Hochzeit anhatte.«

Nora dachte, dass sie ihm dafür gern einen Kuss gegeben hätte, aber ehe sie zu ihm gehen konnte, hörte sie Gelächter hinter sich.

»Dein Herz«, las eine laute Männerstimme vor, »gib immer gut acht auf dein Herz...«

Es dauerte eine Sekunde, bis Nora die Worte wiedererkannte. Der Brief, dachte sie; jemand liest den verflixten Brief vor!

»... vergiss nie, was für ein Wunder es ist, was es alles aushält: Liebe, Schmerz, Freude, Angst ...«

Sie wollte in den Salon laufen, zu dem taktlosen Vorleser, und ihm den Brief aus der Hand reißen. Aber sie blieb stehen, behielt sogar noch eine Zeit lang ihr Lächeln bei, ohne es zu merken.

»So viel setzt ihm zu«, fuhr die Männerstimme fort, »aber es gibt nicht auf, es schlägt und hält durch, von der allerersten Stunde an, Tage, Wochen, Monate, Jahre. Es ist so tapfer wie nur irgendwas, und es schlägt immer weiter, sogar wenn jemand es einfach wegwirft oder mit Füßen tritt. Dann liegt es da, unbeachtet, allein, vielleicht sogar im Regen, aber es hütet noch immer alle Erinnerungen an Leid und Freude und sogar die Liebe – einfach, weil es nicht anders kann.«

Manchmal, las Nora in Gedanken weiter, manchmal stelle ich mir vor, dass ich all die achtlos weggeworfenen Herzen aufhebe und abwische und dann in einer von Ludwigs Zigarrenkisten vergrabe, jedes für sich, damit es wieder einen Platz hat, an dem es sich ausruhen kann. Und weil es dein Herz ist und weil du meine kleine, kleine Schwester bist, will ich, dass es niemals bitter wird, niemals anders als voller Liebe ...

Sie lief aus der Bibliothek hinaus auf die inzwischen fast leere Terrasse. Die Zigarrenkiste war nur ein Bild, dachte sie, es ist mir einfach so eingefallen. Aber es war nicht gut, das erkannte sie jetzt, sie hätte es anders ausdrücken müssen, den ganzen Brief, sie hätte sich mehr Mühe geben, sorgfältiger formulieren müssen. Es klang ja wie aus der Feder einer Geistesgestörten. Kein Wunder, dass Lissy sie nicht verstanden hatte! Nora spürte, wie ihr die Hitze von den Wangen bis in die Stirn stieg. Tränen des Zorns brannten in ihren Augen. Sie trat an die Steinbalustrade und sah hinab auf die Windlichter im Garten und dachte: Außerdem musst du deine Fantasie im Zaum halten. Aber dann dachte sie: Warum eigentlich?

Im Haus erklang der Messinggong zum Beginn des Diners.

Kapitel 3

Es hatte Nora schon immer beeindruckt, mit welchem Gleichmut Lissy sich in ihr Schicksal fügte, nur um es sich dann so auszuschmücken, als wäre es selbst gewählt. Nora dagegen protestierte, begehrte auf, sie wehrte sich mit aller Kraft, kämpfte bis zuletzt, ehe sie sich schließlich unterwarf, aber nie für lange.

Jetzt saß Lissy wie selbstverständlich an der Seite eines ihr noch fremden Ehemannes dort, wo das Brautpaar über das Hochzeitsbankett präsidierte. Von den dunkel getäfelten Wänden blickten aus Ebenholzrahmen die Vorfahren einer fremden Familie auf ihre Gäste herab, die an den vier langen Tischen Platz gefunden hatten.

Tischtücher aus rosa Atlas bedeckten die Tafeln, darüber gebreitet lagen vier elfenbeinfarbene Burano-Spitzen-Decken, und auf jeder standen zwei mächtige Schalen aus Murano-Glas, gefüllt mit üppigen Rosengebinden in Gelb, Rot und Rosa. Silberne Kerzenleuchter wechselten sich mit Kristallkaraffen und Fingerschalen ab. Silbernes Besteck, frisch poliert, teilte den Abglanz der Kerzen mit dem Geschirr aus Meißener und Nymphenburger Porzellan.

Hinter den englischen Fenstern zum Garten bewegten sich die Bäume heftig im weiter auffrischenden Wind. Einer der Diener mühte sich auf der Terrasse, die erloschenen Lampions und Windlichter wieder anzuzünden. Morgen werden wir Sturm haben, dachte Nora geistesabwesend. Sie gab der Haushälterin das Zeichen, mit dem Servieren zu beginnen.

Als die Diener aufzutragen begannen, gesellte sich zu dem Aroma der Weine der Duft von Krevettensalat in Avocadohälften, Spargelcremesuppe, gebratenem Wildschwein, dampfenden Rosmarinkartoffeln, schweren Saucen und gedünstetem oder gekochtem Gemüse, von zartesten haricots verts, knackigen petits pois, winzigen Karöttchen und saftigem Brokkoli. Die Gespräche verstummten erwartungsvoll, sodass vorübergehend nur das Orchester im Salon zu hören war, Boccherini oder Pachelbel, akzentuiert vom leisen Klirren der abgestellten Teller und Schalen oder eines voreilig ergriffenen Löffels.

Nora saß zwischen ihrem Mann und ihrer Schwester. Ludwig roch nach Zigarrenrauch und einem oder mehreren heimlich genossenen Gläsern Cognac. An ihrer Tafel hatten alle Platz genommen, die dem Brautpaar oder den Gastgebern nahestanden, Freunde, wichtige Geschäftspartner. Nora gegenüber, jenseits der ein wenig blendenden Kerzen, schwebten die Gesichter von Theodor und Irene Hendriksen, Ludwigs Eltern, beide schon leicht gerötet. Sie plauderten angeregt mit ihren Nachbarn, den Woermanns, Reeder wie Carl-Gustavs Vater. Offergelt saß am vierten Tisch dicht bei den Flügeltüren zum Salon.

Lissy strafte Nora mit Nichtachtung. Sie war fröhlich, lebhaft, sogar überraschend beredt, aber ihre Aufmerksamkeit galt ausschließlich ihrem Mann und den Gegenübersitzenden. Begierig fragte sie nach Neuigkeiten über anwesende und nicht anwesende Vettern, Cousinen oder Schulkameraden, als gäbe es an diesem Tag nichts, das sie mehr interessierte, und immer – egal, was jemand ihr zur Antwort gab – rief sie: »Pas possible!«, als hätte sie sich tatsächlich gerade diese Auskunft nie und nimmer vorstellen können. »Ihr wollt euch über mich lustig machen!«, verkündete sie mehrmals lachend oder: »Ist das denn die Möglichkeit! Hast du das gehört, Carl-Gustav?«

Im Kerzenlicht besaß sie auf einmal sogar einen verhalten sinnlichen Reiz, den Nora noch nie an ihr bemerkt hatte. Diese Sinnlichkeit jedoch galt nicht Carl-Gustav, sondern allein den auf Tellern und Schalen vor ihr gehäuften Speisen, zu denen ihr Kopf sich neigte wie der Kelch einer Blume zur Sonne. Denn trotz allem war ihr Blick rein und jungfräulich, fast transparent in seiner Melancholie, die Lust eher zu fürchten als zu kennen schien.

Auf einmal empfand Nora Mitleid mit ihrer Schwester. Vielleicht redete sie nur deshalb so viel, damit niemand sie fragen konnte, wie sie sich fühlte; um sich abzulenken von den Gedanken daran, was sie heute Nacht und in all den folgenden Nächten erwarten mochte.

Die Musiker gingen nun zur Champagner-Arie über. Jemand sagte: »Die Italiener komponieren doch die schönsten Opern. Schade, dass Verdi gestorben ist«, und jemand anderer sagte: »Aber Puccini soll demnächst Premiere mit einer neuen Oper haben, Madame Butterfly heißt sie, glaube ich.« Und wieder jemand anderer sagte: »Also mir geben Opern überhaupt nichts, nicht einmal Richard Wagner. Sie sind so hysterisch, es fehlt ihnen alles Frische.« Und jemand sagte: »Wo findet man denn überhaupt noch Frische in der Kunst?« Und jemand anderer sagte: »Wenn Sie heute ein Gemälde von Liebermann für zehntausend Mark kaufen, können Sie es in zwanzig Jahren für das Fünffache verkaufen.« Und wieder jemand anderer sagte: »Ludwig hat einen Böcklin in seinem Arbeitszimmer. Der hat sich im Wert schon verdoppelt, seit er tot ist.« Und jemand sagte: »Wo findet man denn heute überhaupt noch wirkliche Dichter?« Und jemand sagte: »Das einzige Buch, mit dem ich was anfangen kann, ist mein Auftragsbuch.« Und jemand anderer sagte: »Vielleicht kann ich Ihnen nächstens Mal ein paar Aufträge zuschanzen.« Und Nora dachte, dass sie das jetzt nicht mehr hören konnte, nicht an dem Tag, an dem ihre Schwester geheiratet hatte.