Hans-Ulrich Luedemann
San Francisco and so on
Happy Rolliday I
ISBN 978-3-86394-892-4 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 2003 im Verlag Ulmer Manuskripte, Albeck bei Ulm.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Alte Dorfstraße 2 b
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FÖR CAPTAIN HARALD UN SIEN FRU RENATE
Man sagt ja, Genie und Wahnsinn würden oft dicht nebeneinander liegen - vielleicht so ähnlich wie Mut und Leichtsinn. Kann sich jeder aussuchen, was ihm lieber und was vor allem leichter zu ertragen wäre. Apropos Mut und Leichtsinn: Alle, mit denen wir vorher sprechen, reden uns zu, es doch um Himmels willen zu tun! Eine günstige Gelegenheit wie diese käme in unserem Leben kein zweites Mal!
Do it! Dieses beschwörende Zureden kennt wohl jeder Fan amerikanischer Filme. Wenn irgendwo irgendetwas passieren soll, aber die Sache kommt nicht auf die Reihe: Steht da einer auf dem Dach eines Hochhauses und springt nicht. Springt einfach nicht, obwohl etliche Meter unter ihm ameisengroß die Leute bereits geschlagene fünfzehn Minuten darauf warten! Sie haben natürlich Angst um den Erlebniswert ihrer Arbeitspause und schreien deswegen auch wie bekifft: O Man - do it! Do it!
Schluss! Dreimal Do it! - das reicht selbst einem Amerikanophilen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Jenes Do it! bezieht sich bei uns nicht auf einen möglichen Familiennachwuchs. Meine Frau und ich - wir sind aus dem Alter ‘raus, wie man so sagt. Auf unserer Lebenslatte sind 50 mehr oder weniger tiefe Kerben geschnitten. Aber nichtsdestoweniger werden wir es also tun und alle Freunde und Bekannten werden unseren Pioniergeist mit kräftigem Schulterklopfen würdigen. Kann sein, dass ich mich irre, wenn ich sage, dass ihnen bei aller Anerkennung vielleicht auch ein bisschen Neid wegen der fehlenden eigenen Courage in den Augen steht. Denn eines wissen Dörte und ich ebenso hundertprozentig: Geht irgendetwas schief - kein Wunder! würde es unisono heißen! Wer macht denn auch so was! In eurer Situation?!
Und so ein ganz Neunmalschlauer - ich spüre das direkt bis in die Schulterspitzen - einer von diesen ewigen Besserwissern wird aufmunternd unsere Niederlage mit einem Tritt gegen die Bereifung meines Rollstuhls quittieren.
Nun ist also heraus, was mit mir los ist: Ein waschechter Tetraplegiker bin ich. Und bei Gelegenheit rede ich auch darüber, wann und warum es zwischen meinem sechsten und siebenten Halswirbel einen Knacks gab, der gleichzeitig das Rückenmark in diesem Bereich durchschnitt. Von einem Augenblick zum anderen degradierte das Schicksal unter anderen in mir den werktätigen Schriftsteller, den Sportsmann - ja, auch den Liebhaber - zu einer - wie es im Amtsdeutsch heißt - Hilflosen Person. In meinem Behinderten-Ausweis mit einem großen -H- ausgewiesen. Die sozialistische Behinderten-Bürokratie stellte mich einem Blinden gleich ...
Man mag es mir nachsehen, dass ich keinen abgelegten Kalender bemühe, um genau Tag und Stunde in Berlin-Altglienicke zu nennen, als Captain Harald und Ehefrau Renate sich für die nächsten Jahre von uns wegen ihrer wohl bemerkenswerten Ortsveränderung verabschieden. Mein Klassenkamerad Harald hatte 1960 gegen den Willen unseres Genossen Direktors die Erweiterte Oberschule Greifswald, heute das Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasium, in der Zehnten verlassen, weil es seiner Meinung nach für ein Kapitänspatent keines Abiturs bedurfte. Für sein Berufsziel diente Harald dienstgradmäßig vom Matrosen aufwärts. Und jedes Mal, wenn er Landgang hatte, da hielten wir Provinzler Maulaffen feil, weil Harald - in seinem seemannsblauen Tuch besonders den Mädchen imponierend - kenntnisreich und schwärmend von Havanna, Suez oder Mombasa erzählte. Das also zu Captain Harald aus dem verschlafen-vorpommerschen Städtchen Gützkow, der nach dem Umbruch 89 endlich selbst seine und die Zukunft seiner Familie bestimmen wollte. Wohnort seit 1991: San Francisco, Kalifornien ...
Ein Statement von Gene Fowler. Aber um noch einmal auf jenen Abschiedskaffee zurückzukommen - zu der Zeit wusste ich über San Francisco und Umgebung wohl sehr viel mehr als der ansonsten weit gereiste Captain: Ich konnte Harald sogar einen Reiseführer schenken für San Fran oder The City - ganz nach Belieben. Aber sage keiner Frisco - diese deutsche Namensgebung mögen die meisten hier nicht. Obwohl niemand leugnen will, dass in ihrer Stadt ähnlich wie in jenem Musical In Frisco ist der Teufel los selbiger auch los sein kann. San Francisco nebst Castro-Viertel gilt auch als Synonym für die Schwulenhauptstadt der Welt. Zentrum der sogenannten Flower-Power war diese Stadt ja auch.
Woher ein ehemals mauergeschützter DDR-Bürger das alles kennt? Apropos Mauer: Ich muss oft daran denken, dass ich mich bei der Grenzkontrolle in die Rückenlehne vom Beifahrersitz gepresst habe, damit keiner der griesgrämigen Zöllner auf die Idee kam, meine Hosenträger unter dem Pullover seien eher eine Art Gummi-Spinne für geschmuggeltes Gut: Zeitschriften, Bücher oder Kataloge. Alles Quellen, die ich zum Schreiben benötigte. Und jedes Mal stellte meine Frau in ihrer Angst lauthals den letzten Teil jener typischen Grenzer-Frage empört in Abrede: nein, nein - mein Mann und ich - wir führen doch keine Waffen mit! Wer nie westwärts fahren durfte, weil Genossen in Uniform seine Reise-Anträge in volkspolizeilichen Amtsstuben mehr oder weniger rüde abschmetterten, wird im Nachhinein schon gar nicht über solche Situationen lachen können ...
Aber wieder nach San Francisco zurück: Ende der achtziger Jahre war ein mit meinem Freund und Kollegen Hans Bräunlich unter dem Pseudonym John U. Brownman geschriebener Krimi für etwa vierzehnjährige Leser im Kinderbuchverlag Berlin erschienen; der hieß Tödliche Jagd - und Handlungsort ist jene Stadt mit der weltberühmten Golden Gate Bridge. Ich übertreibe nicht - es gab damals Monate, da hatte ich - wohl besser als ein Handelsreisender von der amerikanischen Ostküste - den Plan der Stadt San Francisco in meinem Kopf gespeichert. Nicht zu vergessen nahegelegene Orte wie Sausalito oder Napa oder Sonoma. Und das Valley of the Moon mit Glen Ellen und einem mehr als bescheidenen Grab des Selbstmörders Jack London auf seiner Ranch. Also - Tödliche Jagd war bereits gut verkauft und ein Krimi mit Big Apple New York als lokaler Hintergrund erschienen - Schnee für Miami als drittes von zehn konzipierten Bänden kam aus der Druckerei zurück. Nichts mehr über Big Orange Miami. Licht aus und Feierabend - der Staat DDR nebst seinen kulturpolitischen Institutionen ging oder wurde in den Konkurs gegangen ...
Captain Harald schickt uns nun aus San Francisco per Fax Verhaltensmaßregeln und das von Governor Pete Wilson gesiegelte und gebührenpflichtige Formular wegen der Sonderrechte für eine Disabled Person. Jetzt wissen Dörte und ich - das Unternehmen HAPPY ROLLIDAY ist angeschoben. In der Folgezeit kommen ungewohnt schnelle und gute Telefonverbindungen zwischen San Francisco und Berlin zustande, in denen es bereits um einen Termin für unsere Reise geht. Mittlerweile außerordentlich landeskundig, schlägt Harald die zweite Hälfte April vor. Des Wetters wegen und weil er dann für vierzehn Tage seinem kräftezehrenden Job als Manager Marine Operations für ein deutsch-asiatisches Schifffahrtskonsortium im drittgrößten Container-Hafen Oakland Adschüs sagen könne.
Dörte und ich - wir besprechen auf unserer täglich einstündigen Altglienicker Frischluft-Tour diesen Amerikatrip mit Für und Wider! Wenn meiner Frau unterwegs etwas zustößt - nicht auszudenken! Ohne Dörte kann ich mich in einen Sack stecken und ihn zubinden lassen! Oder - nur mal angenommen - meine Galle spielt unterwegs plötzlich verrückt. In den U.S.A. - ich hatte es schaudernd gelesen - da laufen Krankenhauskosten von zigtausend Dollar schnell auf. Die U.S.A. sehen und sterben?! Oder bankrottgehen? Also wenigstens muss eine Versicherung abgeschlossen werden. Eine Master Card Gold soll das übrige tun. Aber in den kleingedruckten Geltenden Geschäftsbedingungen sind Versicherungsleistungen für Leute mit hochgradiger Querschnittslähmung ausgeklammert.
Nichtsdestoweniger - Freunde und Bekannten haben recht - eine solche Chance dürfen wir nicht ungenutzt vorübergehen lassen. Also Augen zu und durch! Und fortan muss ich Angelegenheiten klären, die für einen gleichaltrigen westdeutschen Bürger selbstverständlich sind: Neue Pässe und etwas Handgeld brauchen wir. Aus Sicherheitsgründen nach Möglichkeit nur grüne Scheine á la Alexander Hamilton. Dieser Mann gehört einfach auf die Vorderseite einer Geldnote: Adjutant bei George Washington und Gründer der U.S. Nationalbank, die sinnigerweise auf der Rückseite zu besichtigen ist. Dass Hamilton 1804 nach einem Duell gestorben ist - ein Schelm, wer deswegen die Lauterkeit von Männern wie Hamilton, die ihr Leben allein wegen einer Streitigkeit aufs Spiel setzen, in Zweifel zieht. Zu ihnen zählt zweifellos Streithammel Andrew Jackson, 1828 und 1832 U.S. Präsident und Liquidator jener U.S. Nationalbank. Old Hickory starb nach einer Vielzahl Duelle friedlich im Alter von 78 Jahren.
Zum Glück für uns reagieren Meldestelle mit Pass und Sparkasse mit Kreditkarte gleichermaßen angenehm prompt und zuverlässig. Ausgerechnet ein Reisebüro, das sich für Reisen Behinderter empfiehlt, lässt uns hängen. Es schaltet nach einem ersten Telefonat kurzerhand auf Funkstille. Also nehme ich unsere Reiseformalitäten in eigene Regie und fahnde im Berliner Gelben nach den Telefonnummern einschlägig bekannter Luftfahrtgesellschaften. Und letztendlich finde ich mithilfe einer freundlichen Reisebüro-Dame heraus, dass British Airways mit Abstand kostengünstig ist. Unsere Ersparnis zur teuersten Airline - dreimal darf man richtig raten, wie der Kranich mit bürgerlichem Firmennamen heißt - in Höhe von 500 Mark pro Person und Flug sollen zur Nachahmung anregen. Was bei allen Anbietern lobenswert ist - einen Hilfe-Service für behinderte Reisende, Anmeldung schon bei Ticket-Bestellung - bietet jeder renommierte Flughafen.
Einen Gedankenfehler mangels Erfahrung will ich nicht verschweigen. Zu DDR-Zeiten zahlten die Verlage für meine Reisen nach Prag, Sofia, Moskau, Jerewan oder Baku. Ich musste mich höchstens um eine OK-Buchung für den Rückflug kümmern. Daher also mein Irrtum, der uns kurzzeitig doch etwas ratlos macht trotz eines großzügig bereitgestellten Reise-Budgets unserer wohlmeinenden Tante Gertrud: Anfangs habe ich tatsächlich nicht kapiert, dass ein Flugticket in der Regel für Hin- und Rückflug ausgepreist ist! Die so irrtümlich angesetzten 5.200 Mark hätten mächtig die Beine unserer Geldbörse anziehen lassen. Das mit der Geldbörse und den Beinen anziehen stammt nicht von mir - woher auch? Seit ich am 22. Januar 1977 als Dreiunddreißigjähriger jenen Unfall hatte, ist letzteres ohnehin für mich ein Ding der Unmöglichkeit ...
Zwischenzeitlich versuchen Dörte und ich - nach dem Motto: Vereint reisen, aber getrennt lernen - unsere Sprachkenntnisse aufzufrischen. Und wozu gibt es Öffentliche Bibliotheken? Ich kopiere - ausschließlich für den Hausgebrauch! - allseits bekannte Sprachkassetten. Die Lernphase frühmorgens hält bei mir mehrere Wochen an. Dann siegt mein Selbstbewusstsein - nein - mein innerer Schweinehund ist es, der mir einredet: Für das Nötigste hätte schon die Lehrerin auf der Penne gesorgt. Dörte bezieht durch ihre Lernmethode zumindest jeden trinkfreudigen Besucher unseres Hauses mit ein: In Toilette und Bad sind alle Wände beziehungsweise die Fliesen mit Spickzetteln beklebt. An diesem Ort einer allgemeinen Befreiung wurden, wohl oder übel zwanghaft, Vokabeln gepaukt.
Nach all diesen Vorgeplänkeln sieht es am zweiten Sonnabend im April gar nicht so aus, als würde etwas Besonderes stattfinden. Dass am gleichen April-Tag im Jahre 1906 das bislang stärkste Erdbeben San Francisco verheerend getroffen hatte - nach fast neunzig Jahren - was soll's! Und Big One - das vorausgesagte größtmögliche Erdbeben - würde Kalifornien hoffentlich nicht gerade in den nächsten vierzehn Tagen heimsuchen. Eher schon bedrückt uns der Gedanke, dass wir unserer über 70 Jahre alten Mutter die ganze Verantwortung, sowohl für Haus und Hof als auch für Hund und Katze aufhalsen. Überpünktlich - er will am frühen Morgen wegen Unfall oder Stau auf der Stadtautobahn nichts riskieren - chauffiert Günther, ein hilfsbereiter Nachbar, uns nach Tegel. Hier heißt es nun: Film ab! Ja, es wird ernst für Dörte - sie setzt nämlich zum ersten Mal einen eigens für die Reise geliehenen Camcorder in Gang. Apropos: farbige Bilder - keiner wird es glauben, dass British Airways allein durch ihr auffallend harmonisch abgestimmtes Farben-Logo Blau-Rot bei mir sofort einen Vertrauensvorschuss erhält. Augen-Menschen reagieren nun einmal so. Dörte amüsiert sich jedes Mal, wenn ich beispielsweise ein Gebäude und seinen Architekten danach beurteile, ob die Fenster in einer Hausfront gewisse gemeinsame Fluchtlinien aufweisen oder nicht ...
Als wir mitbekommen, dass Rollstuhlfahrer stets zuerst an Bord und als letzte von Bord gehen - sorry - rollen, da ist schon alles gelaufen. Wohl im irren Glauben, ihr Ziel früher erreichen zu können, sprinten einige ganz Eilige den Finger entlang in die angedockte Maschine. Mit Dörte und mir warten gelassen zwei stämmige Burschen vom Roten Kreuz auf ihren Einsatz. Endlich ist es soweit: Nach einem Wink des Stewards packen kräftige Hände zu und verfrachten mich auf ein superschmales Gestühl, das nur aus Sitzfläche und vier Rädern zu bestehen scheint. Einer hievt unsere riesige Reisetasche auf meine Kniee - und ab geht die Lucie! Als wir vom Flugsteig ins Flugzeug wechseln, presse ich hartgesottener Atheist alle meine fantasievollen Befürchtungen in ein unhörbar gesprochenes Gebet: Gott befohlen! Diese zwei Worte an ein unwägbares Schicksal halte ich bei unserem gewaltigen Luftsprung durchaus für angemessen.
Da ich der einzige Rolli an Bord bin, werde ich dementsprechend ausgiebig während meiner Schiebetour auf dem Mittelgang beäugt. Auch für den Alltag muss ein Querschnittsgelähmter lernen, mit dieser oft schamlos wirkenden Aufmerksamkeit zu leben. Der britische Steward - gekleidet wie ein Dressman in jenem bereits hervorgehobenen Blau-Rot - will uns etwas Gutes tun: Er besteht darauf, dass ich den freien Platz am Mittelgang besetze. Wegen der in meiner Nähe befindlichen Toilette. Sicher hat er für mich nur das Beste im Sinn. Ebenso sicher will mir scheinen, dass er nicht weiß, was das ist. Logischerweise entfällt für mich der Besuch einer Bordtoilette. Aber nicht deswegen will ich mich an die Fensterseite verdrücken: Im Falle eines Falles möchte ich außerhalb jedweden neugierigen Sichtkontaktes für die anderen Passagiere sein. Solch ein Bedürfnis tritt normalerweise in den zwei Stunden Flugzeit nach London-Heathrow nicht ein - aber was ist für mich als Rolli schon normal während einer solchen Reise? Sei es, wie es sei - würde sich wider Erwarten meine Blase melden, dann heißt es: soweit wie möglich zurücklehnen, Reißverschlüsse rechts und links öffnen und Hosenlatz nach vorn aufklappen ...
Zugegeben - es gibt Passagiere, die schauen tunlichst beiseite. Und - zugegeben - vielleicht tue ich den anderen Unrecht und sie warten nur darauf, um Hilfe gebeten zu werden. Nur deshalb verfolgen sie mit starren Augen jeden Handgriff meiner Frau. Stellen sie ihre Lauscher hoch auf totalen Empfang, weil Dörtes Handkante durch rhythmisch klatschende Schläge auf der Bauchdecke meine Blase manipuliert. Wenn ich endlich erleichtert aufatmen kann, dann sind diese überaus interessierten Mitreisenden noch immer auf der Hut. Halten sie weiterhin Augen und Ohren offen. Ich kann mir eine Menge vorstellen - aber dass meine Frau diese Leute bitten könnte, eine halb mit Urin gefüllte Kunststoff-Ente - aus Gründen der Tarnung von uns Alma genannt - in der Bordtoilette auszuschütten? Womöglich begleitet von Dörtes vorwurfsvoll strengem Hinweis: Aber Ausspülen nicht vergessen!
Des Dramatikers William Saroyan Ausspruch aus eigener Anschauung überprüfen zu können - es wird noch etwas dauern. Ist das Wetter in Berlin-Tegel noch leidlich, so bleiben uns leider dank einer regenschwangeren Wolkendecke sowohl Amsterdam als auch der Kanal beim Überfliegen verborgen. Fast pünktlich 9.30 a.m. Ortszeit schwebt die Maschine über London-Heathrow ein. Statt Gott befohlen! sagt meine innere Stimme nun: Gott sei Dank! Landung und Service sind okay. Aber irgendwie muss jemand die Zeitpläne durcheinandergebracht haben. Ein Kleintransporter, der mich über eine am Heck gelegene Hebebühne aufnimmt, saust verdammich waghalsig kreuz und quer über den International Airport. Und es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich korrekt ständig auf einer linken Fahrspur unterwegs bin.
Wohl um unserem Begleiter, einem alten Herrn mit paramilitärischem Auftreten, zu zeigen, dass der Deutsche an sich zumindest im Ausland freundlich gegenüber jedermann ist, bestätige ich überflüssigerweise mit meinem eher dürftigen englischen Wortschatz die Jahrhunderte alte Legende vom regennassen Londoner Wetter. Seine Bluse strafft sich, als er auf eine gerade erst überstandene sehr viel schlechtere Witterung verweist. Nicht nur hier in Great-Britain - auf der Welt scheint alles relativ zu sein ...
Da schnarrt es plötzlich aus Opas Walkie-Talkie und der Transporter beschleunigt sofort merklich. Die nächsten fünf Minuten beweisen Dörte und mir, dass der langweilige und beherrscht dröge Engländer auch anders kann: Trotz plötzlicher Hektik singt der Alte sich eins. Und kaum haben wir jenes Fahrzeug verlassen, da saust unser Betreuer mit mir durch die Gänge, dass Dörte Mühe hat zu folgen. Seine Warnrufe scheuchen die vor uns Gehenden rechts oder links zur Seite. Die große Reisetasche auf den Knien haltend, verliere ich jede Orientierung. Bewusst ist mir nur, dass der Mann immer einer bestimmten, farbig ausgelegten Linie folgt. Die unübersichtlichen Wege von beziehungsweise zu den vier Terminals und ihren Abfertigungshallen sind auf diese Weise kaum zu verfehlen. Wegen unserer Eile fällt die Zollkontrolle gewissermaßen aus. Der Gedanke an Terroristen oder Luftpiraten samt ihren viel raffinierteren Methoden einer Tarnung macht mir kurzzeitig zu schaffen.
Dann heißt es wieder: Gott befohlen! Dieses Mal für BA-Flight Number 289. Ich werde erneut durch den ausgebuchten Flieger gekarrt und der Streit um den mir genehmen Sitzplatz flammt ein zweites Mal auf. Dem Chef-Steward fällt es schwer nachzuvollziehen, dass ein Passagier allein nur mit der Schulter voran in den Restroom gelangen kann - ganz zu schweigen zwei auf einmal - meine Frau mit mir. Kurzum - in der Boeing 747 bekommen wir schneller unseren Willen. Absoluter Nutznießer ist ein junger Mann, der auf dem von mir geforderten Sitzplatz an der fensterlosen Außenwand sitzt: Er darf unbesehen in die First Class wechseln. Auch ein Vorteil für uns - der erste Platz am Mittelgang bleibt somit unbesetzt. Wir haben es also geschafft und wir sind auch geschafft. Die pantomimischen Notfall-Übungen einer engagierten Stewardess registriere ich nur noch mit gelassener Höflichkeit. Als Fischkopp halte ich es mehr mit der Lebensphilosophie alter Skipper, nach der beispielsweise bei einer Havarie die Schwimmkunst nur geeignet sei, alle Qualen vor dem Ertrinken zu verlängern.
Etwa einen halben Tag würden wir uns also in zigtausend Metern Höhe ausruhen können. Mir macht Stillsitzen nichts aus: Von zehn Uhr vormittags bis zehn Uhr abends halte ich mich in einem bequemen Ledersessel auf. In der Nähe ein Computer mit Monitor und Drucker; Bücher und Zeitungen. Nicht zu vergessen etliche Infrarot-Fernbedienungen für die verschiedensten Hi-Fi-Geräte. Ein Unterschied wird in der Boeing allerdings offenbar - bei einem Meter und vierundachtzig Zentimetern Körpergröße steht es hier nicht gut um meine Kniefreiheit.
Angenehme Unterbrechungen gibt es mehrmals durch gutes Essen und Trinken. Letzteres muss aber, wie schon beschrieben, möglichst unauffällig wieder entsorgt werden. Ansonsten schauen wir in die gut aufgemachte Highlife, Hausillustrierte von British-Airways. Weiß der Teufel, wie der Tommy das wieder hingekriegt hat - obwohl es erst Mitte April ist, dürfen wir bereits in der Mai-Nummer blättern! Informationen aus dem Cockpit kommen spärlich, und wie es sich für einen Engländer gehört - ausschließlich in seiner Muttersprache. Aber da gibt unerwartet eine Frauenstimme mit überaus korrekter deutscher Zunge ihr Flugwissen preis. Allerdings in einer Lautstärke, dass mir fast die Ohren vom Stamm fallen. Und - wieder nach einer unverständlich gemurmelten Äußerung des Flugkapitäns - das ohrenbetäubende deutsche Echo. Als jemand im Cockpit aus Mitleid mit den Passagieren abrupt die Phonzahl während der deutschen Ansage reduziert, wird mir klar: Die Stewardess spricht per Tonbandkassette zu uns!
Alles was recht ist - die Majorität an den Aktien der British Airways scheinen Leute aus Schottland zu halten. Oder sind es die den Karo-Trägern seelenverwandten Bürger der einschlägig gerühmten Stadt Sparta? Anders ist dieser rustikal anmutende Sparwille trotz einer mehrsprachigen Flugzeug-Crew wohl nicht zu erklären.
Während Dörte und ich die Zeit nutzen, um mittels Sprach-Computer und dem Spiel Hangman (analog zum Buchstaben-Rate-Spiel Aufhängen aus meiner Kindheit) englische Vokabeln zu erraten, informiert der Chefpilot mit rücksichtslos gelangweilter Kaugummi-Stimme, dass wir über Glasgow Richtung Grönland fliegen, um schließlich südwestlich nach Edmonton, Kanada abzudrehen. Nicht nur ich habe gedacht, dass eine gerade Fluglinie über den Atlantik der kürzeste Weg wäre und unsere Route über Grönland sei nur der Flugsicherheit geschuldet. Wegen des Festlands unterwegs für Notlandungen. Weit gefehlt - diese kürzeste Verbindung ergibt sich durch die Oberflächenkrümmung der Erde. Oder verhält es sich ganz anders? Ehrlich - als Captain Harald uns irgendwann bei Tische den Sachverhalt erklärt, klingt alles sehr einleuchtend. Aber wie ich jetzt beim Schreiben merke - das Wissen hat nicht lange vorgehalten.
Mitunter rumpelt es dann und wann in der Luft wie im Landrover auf einer vorpommerschen Dorfstraße. Dass einige Kunststoffplatten der Fensterwand-Verkleidung während unseres Fluges auffällig locker sitzen und demzufolge beängstigend stark vibrieren, kann nur ich sehen. Um der allgemeinen Vorfreude Willen auf Kalifornien schweige ich. Aber ehe ich es vergesse - für die, die immer alles genau wissen wollen - hier die vorgegebenen Flugdaten: London-Heathrow 10.45 a.m. mit geplanter Ankunft am selbigen Tag in San Francisco 1.35 p.m. Ortszeit. Wir fliegen also der Sonne hinterdrein. Das ist schon ein irres Gefühl: Diese riesige Entfernung und wir heben vormittags ab, um noch am gleichen Tag nachmittags anzukommen! Vorausgesetzt - meine heimlichen Stoßgebete werden erhört.