Islamischer Feminismus
versus
Pro-Familie-Bewegung
Transnationale Organisationsformen
Zum Entstehen der vorliegenden Studie haben zahlreiche Personen und Institutionen beigetragen, ohne deren Unterstützung und Förderung dieses Forschungsprojekt nicht hätte realisiert werden können. Dafür danke ich ihnen hiermit.
Besonderer Dank gebührt an erster Stelle meiner Betreuerin Prof. Dr. Claudia Derichs von der Philipps-Universität Marburg. Sie hat mich zur Forschung über das Thema „Islamischer Feminismus und Gegenbewegungen“ inspiriert und mir ihre unschätzbare akademische Betreuung zuteilwerden lassen. In ihrem Forschungskolloquium hatte ich die Möglichkeit, meine Forschungsschritte mit Kolleginnen und Kollegen zu diskutieren; diesen sei außerdem gedankt für fruchtbare bilaterale Gespräche und inhaltliche Kommentierungen. Ein weiterer Dank gilt Prof. Dr. Ursula Birsl von der Philipps-Universität Marburg. Durch ihre fachlichen Hinweise wurde die Studie an einigen Stellen in neue Bahnen gelenkt.
Bei Prof. Dr. Jakob Rösel von der Universität Rostock bedanke ich mich in gleicher Weise für seine jahrelange Unterstützung. Ebenso gilt mein Dank seinem Kollegen Prof. Dr. Yves Bizeul, der mir vor allem in der Anfangszeit sehr hilfreiche Tipps gegeben hat. Ein großes Dankeschön ist auch an alle meine Interviewpartnerinnen und -partner gerichtet, denn erst durch sie erlangte ich tiefe Einblicke in die Vernetzungsstrukturen und die gegenseitige Beeinflussung des islamischen Feminismus und seiner Pro-Familie-Gegenbewegung. Ausdrücklich bedanke ich mich bei Dr. Jana Windwehr; sie hat diese Publikation mit der nötigen Geduld lektoriert. Für das Endlektorat und die Buchformatierung sei an dieser Stelle an Andrea Fritz ein ebenso großes Dankeschön gerichtet.
Bedanken möchte ich mich auch bei all den Freundinnen und Freunden, die mir durch ihre Bereitschaft, das Manuskript gegenzulesen, behilflich waren und/oder mir durch thematische Gespräche sehr wertvolle Anregungen gaben.
Der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) möchte ich für die anfängliche finanzielle Förderung als Doktorandin des Graduiertenkollegs „Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs“ an der Universität Rostock mit Nachdruck danken. Die Gerda Henkel Stiftung hat mich als Stipendiatin im Rahmen ihres Sonderschwerpunkts „Islam, moderner Nationalstaat und transnationale Bewegungen“ finanziell und ideell über den Entstehungszeitraum hinweg unterstützt und damit die Realisierung erst ermöglicht. Durch ihre Förderung konnte ich die notwendigen Forschungsreisen nach Malaysia und Marokko durchführen und an internationalen Konferenzen teilnehmen. Zudem hat sie mir die Chance gegeben, den thematisch an dieses Buch anknüpfenden Film „Musawah. Der Kampf um Gleichberechtigung im Islam“ zu produzieren. Aus diesen Gründen gilt der Gerda Henkel Stiftung und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein besonders großer Dank.
Der Philipps-Universität Marburg sei ebenfalls für ihre Unterstützung außerordentlich gedankt, sie hat mir einen Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt, mir die Gelegenheit gegeben, meine Forschungsergebnisse mit einem internationalen Fachpublikum auszuwerten, und mich in der Abschlusszeit auch finanziell gefördert.
Herzlich bedanke ich mich auch bei meiner Familie, insbesondere bei meinen Eltern Roswitha und Jörg Fennert, die mir fortwährend zur Seite standen.
Abb. 1 | The Classic Social Movement Agenda for Explaining Contentious Politics |
Abb. 2 | Dynamic, Interactive Framework for Analyzing Mobilization in Contentious Politics |
Abb. 3 | Der transnationale Feminismus und seine Gegenbewegung |
Die Umschrift arabischer Begriffe oder Namen erfolgt in der vorliegenden Publikation nach den Bestimmungen der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG). Dies trifft im Wesentlichen auch für die Bezeichnung von Organisationsnamen zu.
Begriffe und Namen, die im Deutschen geläufig sind, werden hier demgemäß verwendet. Die Schreibweise der Organisationsnamen kann von den DMG-Regelungen abweichen, denn in der Regel werden die entsprechenden Eigenbezeichnungen verwendet.
Die Begriffe, die in der malaysischen Sprache von den Bestimmungen der DMG abweichen, werden erwähnt und es erfolgt zu Zwecken der Einheitlichkeit die Verwendung der von der DMG empfohlenen Schreibweise.
ABIM | Angkatan Belia Islam Malaysia – Islamische Jugendbewegung (Malaysia) |
ACCIN | Allied Coordinating Committee of Islamic NGOs |
ADFM | Association Démocratique des Femmes du Maroc – Democratic Association of Moroccan Women |
AIKOL | Ahmad Ibrahim Kulliyyah of Laws – Juristische Fakultät der IIUM |
Al Hidn | Association Nationale pour le Développement – Nationaler Verein für die Entwicklung |
Al Wifaq | Centre Al Wifaq pour la Coaching Familial – Zentrum für Familienberatung |
AWL | Association of the Women Lawyers |
BMFSFJ | Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend |
BPFA | Beijing Platform for Action |
CDF | Code de la famille – Familienrecht |
CEDAW | Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination of Women |
COFAG | Centre d’Orientation Familiale et Juridique – Zentrum für Familien- und Rechtsberatung |
CRC | Convention on the Rights of the Child |
CSW | Commission on the Status of Women |
DAWN | Development Alternatives with Women for a New Era |
DMG | Deutsche Morgenländische Gesellschaft |
DPI | United Nations Department of Public Information |
ECOSOC | Economic and Social Council (United Nations) |
FAFM | Forum Azzahrae pour la Femme Marocaine – Forum Azzahrae für die marokkanische Frau |
FES | Friedrich-Ebert-Stiftung |
FIS | Front Islamique du Salut – Islamische Heilsfront |
GIA | Groupe Armé Islamique – Bewaffnete islamische Gruppe |
Gierfi | Groupe Internationale d’Etude et de Réflexion sur les Femmes en Islam – Internationale Studiengruppe bezüglich der Frau im Islam |
IAIS | International Institute of Advanced Islamic Studies |
IIUM | International Islamic University Malaysia |
IKIM | Institut Kefahaman Islam Malaysia – Institute of Islamic Understanding Malaysia |
IMAN | Interactive Muslimah Association |
INGO | International non-governmental organization |
IMOW | International Museum of Women MUSLIMA |
ISESCO | Islamic Educational, Scientific and Cultural Organization |
JIM | Jamaah Islah Malaysia– Islamische Reformbewegung (Malaysia) |
MAMY | Malaysian Assembly of Mosque Youth |
MPCD | Party Democratic Popular Movement |
MPF | Muslim Professional Forum |
MUR | Mouvement de l’Unité et de la Réforme – Bewegung der Einheit und der Reform |
NGO | Non-governmental organization |
OADP | Organisation de l’Action Démocratique et Populaire – Organization for Democratic Popular Action |
OIC | Organisation of Islamic Cooperation |
ORCF | Organisation du Renouveau de la Prise de Conscience Féminine –Organisation des Wiedererwachens des weiblichen Bewusstseins |
PAS | Parti Islam Se-Malaysia – Islamische Partei Malaysias |
PKR | Parti Keadilan Rakyat – People’s Justice Party |
PJD | Parti de la Justice et du Développement – Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung |
PPS | Parti du Progrès et du Socialisme – Partei des Fortschritts und Sozialismus |
RRM | Reform and Renewal Movement |
PSD | Parti Socialiste Démocratique – Sozialistisch-demokratische Partei |
SIGI | Sisterhood is Global Institute |
SIS | Sisters in Islam |
SMOs | Social movement organizations |
TAN | Transnational advocacy network |
TFN | Transnational feminist network |
TSMO | Transnational social movement organization |
UAF | Union de l’Action Féminine – Union of Women’s Action |
UMNO | United Malays National Organisation |
UN | United Nations |
UNISEL | Universiti Selangor – University of Selangor |
USFP | Union Socialiste des Forces Populaires – Sozialistische Union der Volkskräfte |
WCF | World Congress of Families |
WIN | Women’s International Network |
WISE | Women’s Islamic Initiative in Spirituality and Equality |
WLP | Women’s Learning Partnership for Rights, Development, and Peace |
WLUML | Women Living Under Muslim Laws |
Jede soziale Bewegung besitzt das Potenzial, eine Gegenbewegung zu mobilisieren. Mit zunehmenden Erfolgsaussichten – die Forderungen der ursprünglichen Bewegung betreffend – wächst die Wahrscheinlichkeit einer Gegenmobilisierung (vgl. Zald/Useem [1987] 2009: 247, 254; Meyer/Staggenborg 1996: 1635). Ist diese Akteurskonstellation gegeben, befinden sich beide sozialen Bewegungen in einem dynamischen Wechselverhältnis: Die eine Seite beeinflusst die andere in ihren Forderungen, ihrer Mobilisierungsform, ihrem Verlauf und bildet die Rahmenbedingungen für die jeweils andere Seite. Als Netzwerke innerhalb nationalstaatlicher Kontexte sind soziale Bewegungen definiert, die mit Hilfe anhaltender Proteste durch eine gemeinsame Identität sozialen Wandel beeinflussen möchten (Rucht/Roth 2008: 13; Rucht 2010: 964). Ihre Gegenbewegungen bestehen aus Gruppierungen, die sich gegen die Forderungen der ursprünglichen sozialen Bewegung formieren (vgl. Zald/Useem 2009: 249; Meyer/Staggenborg 1996: 1631).
Untersuchungen über Entstehung, Entwicklung und Auswirkungen von sozialen Bewegungen und Netzwerken wurden bisher vornehmlich innerhalb von westlichen demokratischen Staaten vorgenommen (vgl. Wiktorowicz 2004: 4; Felsch 2011: 14). Vier Untersuchungsraster haben sich dabei als Hauptwerkzeuge etabliert, die für die Analyse herangezogen werden können. Dazu gehören als erstes die „politischen Gelegenheitsstrukturen“, die als äußere Faktoren Verlauf sowie Erfolgsaussichten determinieren. Die „Mobilisierungsstrukturen“ sind ein weiteres Untersuchungsfeld, mittels dem die Forschung Selbstorganisierungsprozesse sozialer Bewegungen und ihre als Unterstützer infrage kommenden Akteure1 zusammenfasst. Soziale Bewegungen müssen Probleme und Ziele so darstellen, dass sich eine möglichst große Anhängerschaft damit identifizieren kann. Die Bewegungsforschung bezeichnet die gemeinsamen Problemidentifikationen als „kollektive Deutungsrahmen“ (frames). Methoden, derer sich soziale Bewegungen bei der Verfolgung ihrer Ziele bedienen, werden „repertoires of contention“ genannt und an die betreffende kulturelle Umwelt angepasst (vgl. Mcadam/Mccarthy/Zald [1996] 2005; Zald/Mccarthy/Gamson [1987] 2009). Soziale Bewegungen besitzen die Fähigkeit, diese vier zueinander in Abhängigkeit stehenden Kategorien selbst zu beeinflussen. Darüber hinaus hat die politische Gelegenheitsstruktur einen maßgeblichen Einfluss auf die Mobilisierung, kollektiven Deutungsrahmen und Strategien einer sozialen Bewegung.
Seit den 1990er Jahren nehmen Vernetzungen nationaler Bewegungsgruppierungen – wie Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organizations − NGOs) und Verbände – über nationalstaatliche Grenzen hinweg zu und werden seither von der Politikwissenschaft als internationale politische Akteure wahrgenommen. Bis zu dieser Zeit wurden in erster Linie staatliche und wirtschaftliche Akteure als international Handelnde betrachtet. Es etablierten sich Begriffe wie transnationale Bewegungen oder transnational advocacy networks, deren „Akteure gemeinsame Werte und Diskurse teilen und durch den grenzüberschreitenden Austausch von Informationen und Dienstleistungen miteinander verbunden sind“ (Keck/Sikkink 1998: 2, eigene Übersetzung). Obwohl einer der renommiertesten US-amerikanischen Sozialforscher, Sidney Tarrow, in seiner Definition transnationaler sozialer Bewegungen auf „anhaltende konfliktive Interaktionen von über Grenzen hinweg miteinander in Verbindung stehenden Netzwerken von Herausforderern mit Gegnern – national oder nicht national“ (Tarrow 2011: 241) hinweist, sind sie kaum erforscht. Bislang blieb demzufolge offen, inwiefern die gewonnenen Erkenntnisse über nationale entgegengesetzte Bewegungen und ihre dynamischen Wechselverhältnisse auch auf transnationale Formate übertragbar sind. Die Untersuchung setzt an dieser Forschungslücke an und überprüft sie mit Hilfe der vier klassischen Analyseraster.
Da der bisherige Fokus auf fortschrittlichen Bewegungen wie Friedens-, Frauen- oder Umweltinitiativen lag, sind konservative oder reaktionäre Bewegungen kaum im transnationalen Kontext untersucht worden.2 Die vorliegende Studie widmet sich daher zusätzlich diesem blinden Fleck, basierend auf der Annahme, dass eine fortschrittliche Bewegung immer eine konservative oder reaktionäre Gegenströmung hervorruft. Angesichts des Mangels an Analysen über letztere dient ein als progressiv eingestuftes Netzwerk, dessen Forderungen wahrscheinlich Reaktionen auslösen, als Ausgangspunkt.
Das transnational advocacy Network (TAN) Musawah3 − For Equality in the Muslim Family wird als Fallbeispiel herangezogen, da es aufgrund seines Ziels, Geschlechtergleichheit in muslimische Familiengesetze zu integrieren, als progressiv einzustufen ist. Das Netzwerk gilt als Teil des islamischen Feminismus, der in der Untersuchung seinerseits als transnationale Bewegung aufgefasst wird und dessen Akteurinnen sich seit 1985 mit religiöser und säkularer Argumentation für die länderübergreifende gesetzliche Implementierung von Geschlechtergleichheit einsetzen.
In muslimischen Mehrheitsgesellschaften befinden sich progressive nationale Frauenrechtsbewegungen, die Gleichberechtigung im öffentlichen und privaten Bereich einfordern, in anhaltenden kontroversen Konflikten mit islamistischen und konservativen Antagonisten, die bestrebt sind, diesen Fortschritt aufzuhalten. Deshalb existiert zunächst die Annahme, dass ein islamisch-feministisches Netzwerk wie Musawah sehr wahrscheinlich eine transnationale Gegenreaktion, bestehend aus islamistischen Gruppierungen, auslöst. Darauf basieren die folgenden, erkenntnisleitenden Fragen:
In theoretischer Hinsicht soll die Analyse eines repräsentativen Fallbeispiels (vgl. Hague/Harrop/Breslin 1998: 277) für transnationale Anwaltschaftsnetzwerke und deren Gegenspieler einerseits einen Hinweis dafür liefern, inwieweit die theoretischen Befunde über originäre Bewegungen und Gegenbewegungen auch auf die transnationale Ebene übertragbar sind, und andererseits weitere Erkenntnisse über TANs ermöglichen. Mit der Wahl eines muslimisch-feministischen Netzwerks als Untersuchungseinheit ist auch die Absicht verknüpft, bisherige Ansichten über das Verhältnis oppositioneller Bewegungen zu überprüfen und zu beleuchten, inwiefern die vornehmlich innerhalb westlich-demokratischer Kontexte gewonnenen Schlussfolgerungen auch auf nicht-demokratische Kontexte Anwendung finden können, in denen die Religion eine zentrale Rolle im Staatsapparat und in der Gesellschaft einnimmt.
Da gemäßigte islamistische transnationale Bewegungen bisher kaum untersucht wurden, bereichern diesbezügliche neue Erkenntnisse – besonders über ihre Mobilisierungsformen, kollektiven Deutungsrahmen und Proteststrategien – auch die islamspezifische Bewegungsforschung im Besonderen.
Das Forschungsprojekt ist somit interdisziplinär angelegt und kann an der Schnittstelle zwischen Politikwissenschaft, Soziologie, Islamwissenschaft sowie den Gender Studies verortet werden. Die Ansätze der Bewegungsforschung dienen als theoretisches Analyseraster, um die Gegenbewegung Musawahs zu identifizieren. Die ausgewählten Forschungsländer Marokko und Malaysia eignen sich besonders gut, da sie sowohl eine besondere Relevanz für das Netzwerk aufweisen als auch aufgrund weiterer Eigenschaften, auf die in Kapitel 2 ausführlich eingegangen wird, von politikwissenschaftlichem Interesse sind.
In Marokko initiierte die Frauenbewegung eine Reform des Personenstandsgesetzes. Ihr Vorgehen dient Musawah als Vorbild. Außerdem zeigt dieser Fortschritt, dass Gesetze, die familiäre Angelegenheiten in muslimischen Mehrheitsgesellschaften regeln, durchaus wandlungsfähig sind. Darüber hinaus ist in Marokko eine Gegenbewegung zur säkularen Frauenbewegung bekannt, deren Transnationalisierung gut untersucht werden kann. Malaysia ist als Untersuchungsland naheliegend, da die hier ansässige nationale Frauenrechtsorganisation Sisters in Islam (SIS) entscheidend zur Formierung Musawahs beigetragen hat und das Netzwerk seit seiner Entstehung im Wesentlichen koordiniert. Deshalb besteht die Vermutung, dass diese institutionelle Sichtbarkeit in Malaysia sehr wahrscheinlich Gegner veranlassen würde, sich transnational gegen das Netzwerk zu mobilisieren.
Musawah formierte sich erst 2006 und trat schließlich nach dreijähriger Vorbereitung und Netzwerkbildung 2009 in die Öffentlichkeit. Es ist außerhalb von Malaysia bzw. des südostasiatischen Kontextes weniger bekannt, weshalb es bislang nicht als direkte Bedrohung wahrgenommen wurde, so ein marokkanischer Politikwissenschaftler. Er äußert diesbezüglich 2011 in einem Interview in Casablanca: „Musawah ist nicht stark genug, um eine Gegenbewegung hervorzurufen. Die Gesellschaft fühlt sich nicht veranlasst, eine Gegenmacht zu initiieren, da sie [die Akteure] sehr marginal sind.“ (Interview MA4 1 2011)5 Die Mobilisierung einer direkten Gegenbewegung konnte in der Tat nicht beobachtet werden. Das bedeutet aber nicht, dass das Netzwerk keinerlei feindlichen Kräften gegenübersteht, wie sich im Verlauf dieser Studie zeigen wird.
Die Ausgangshypothese wird sich im Laufe der Untersuchung allerdings nicht bestätigen. Vielmehr formiert sich das Netzwerk innerhalb einer transnationalen sozialen Gegenbewegung – dem islamischen Feminismus. Dieser begehrt gegen den Einfluss des Islamismus und des islamischen Fundamentalismus auf. Musawah ist daher selbst Teil einer Gegenbewegung, die sich gegen die sowohl islamistischen als auch fundamentalistischen Bestrebungen nach reaktionären Familiengesetzen richtet. Musawah übernimmt die Forderung des islamischen Feminismus nach Geschlechtergleichheit, welche es ebenso aus religiösen Quellen und internationalen Abkommen – wie der UN6-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination of Women − CEDAW) – ableitet. Damit stellt das Netzwerk gleichsam eine Gegenforderung zu derjenigen der Islamisten7 sowie Fundamentalisten auf, die beide eine komplementäre Rollenverteilung als gottgegebene Ordnung betrachten und rechtlich verankern wollen.
Auf nationaler Ebene lässt sich sehr gut das Interaktionsverhältnis von Feministinnen8 auf der einen und Islamisten sowie Fundamentalisten auf der anderen Seite beobachten. Seit Mitte der 1980er Jahre vernetzen sich Organisationen aus muslimischen Mehrheitsgesellschaften auch über nationale Grenzen hinaus, um Gleichberechtigung im öffentlichen und privaten Bereich durchzusetzen. Die Quellen des Islams – Koran und Sunna9 – werden von ihnen neu interpretiert (iǧtihād)10 und außerdem Passagen identifiziert, welche die Gleichberechtigung der Geschlechter unterstreichen. Anfänglich entstand diese neue Art des Feminismus als Diskurs, der sich vermehrt über transnationale Netzwerke verbreitete. Sozialwissenschaftler verwenden deshalb immer häufiger den Begriff „transnationaler islamischer Feminismus“. Die Anhängerinnen eint das Ziel, das Prinzip der Geschlechtergleichheit in islamischen Quellen nachzuweisen, um somit die nationale Gesetzgebung mit den Normen der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) in Einklang zu bringen. Die Kombination von religiöser und säkularer Argumentation wird auch als holistischer Ansatz bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine transnationale Bewegung nach Tarrows Definition, da sich die Anhängerinnen innerhalb von Netzwerken organisieren und sich in anhaltenden, kontroversen Interaktionen mit ihren islamistischen und fundamentalistischen Kontrahenten befinden. Ziba Mir-Hosseini, die als Anthropologin diese Bewegung untersucht und eine zentrale Akteurin des Netzwerks Musawah ist, ordnet dieses Phänomen ebenfalls als Gegenbewegung oder Reaktion ein, wenn sie den islamischen Feminismus als „ungewolltes Kind“ des politischen Islam bezeichnet (Mir-Hosseini 2012).
Da Musawah sich auf die internationale Konvention CEDAW bezieht und deren Anwendung einfordert, muss das Netzwerk auch als Teil des transnationalen Feminismus11 betrachtet werden, deren Vertreterinnen sich seit 1985 auf der internationalen und/oder nationalen Ebene für Geschlechtergleichheit einsetzen – und in erster Linie ihre Forderungen im UN-System auf säkulare Argumentationen stützen. Es ist festzustellen, dass der islamische Feminismus eine Sub-Bewegung innerhalb dieses transnationalen Feminismus darstellt, der dessen Forderung nach „Gleichstellung“ teilt.
Gegen den transnationalen Feminismus, der ein Sammelbecken für Anhängerinnen verschiedener Weltreligionen und Regionen ist, formierte sich im Laufe der 1990er Jahre während UN-Konferenzen zunächst ein fundamentalistisches Netzwerk mit dem Ziel, den Einfluss der transnationalen Frauenbewegung auf UN-Ebene zurückzudrängen und die traditionelle Familie mit einer komplementären Rollenverteilung zwischen Mann und Frau als Kernelement der Gesellschaft zu bewahren. Das Netzwerk setzte sich aus muslimischen und christlich-konservativen Regierungsvertretern sowie NGOs und dem Vatikan zusammen.
Auch über die internationale Ebene hinaus nehmen seither interreligiöse Vernetzungen zwischen Konservativen verschiedener Länder zu, wie die Auswertung sowohl der Interviews als auch der Literatur deutlich macht. Dies wird als vertikale transnationale Vernetzung bezeichnet. Dagegen wird die Koalitionsbildung von NGO-Akteuren sowohl untereinander als auch mit Regierungsvertretern aus verschiedenen nationalstaatlichen Kontexten auf der internationalen Ebene als horizontale transnationale Vernetzung beschrieben Erfolgte anfänglich eine horizontale Vernetzung, also auf UN-Ebene, zeichnet sich heute der Trend zu einer zunehmenden vertikalen Vernetzung hin ab.
Der World Congress of Families (WCF) ist ein Beispiel für ein interreligiöses Kooperationsformat und gilt als Schlüsselorganisation, die einen wesentlichen Beitrag zur Mobilisierung der transnationalen Pro-Familie-Bewegung leistet (vgl. Plummer 2006: 161). Er wird in der vorliegenden Forschungsarbeit als Netzwerk konzeptualisiert, das regelmäßig Konferenzen in verschiedenen Staaten veranstaltet und fundamentalistische Anhänger aller Weltreligionen unter einem antifeministischen und Pro-Familie-Deutungsrahmen vereint, mit der Leitlinie, die traditionelle Familie als unverzichtbare Grundeinheit der Gesellschaft zu bewahren.
Während Feldforschungsreisen nach Marokko und Malaysia zeigte sich, dass Gründungen von Institutionen und Organisationen mit dem Schwerpunkt des Erhalts der traditionellen Familie auf nationaler Ebene zunehmen. Islamistische und islamisch-konservative Parteien und Vereine in Malaysia und Marokko debattieren Frauenrechte gegenwärtig ausschließlich innerhalb der Familieninstitution, sie lehnen Individualrechte von Frauen ab. Sie vernetzen sich auf nationaler Ebene, um progressive Frauenrechtsbewegungen zurückzudrängen. Ebenso zeichnet sich ein Trend zur nationalen und transnationalen interreligiösen Vernetzung hin ab. Die Erhaltung der traditionellen Familie mit einer komplementären Rollenverteilung dient bei diesen Zusammenschlüssen als gemeinsames Ziel.
Damit kann nicht mehr nur von einer horizontalen Vernetzung gesprochen werden, vielmehr bilden sich vertikale Strukturen, die über die internationale Ebene hinausgehen. Die Anhänger der Pro-Familie-Bewegung stehen auf nationaler und internationaler Ebene in einer anhaltenden Konfrontation mit oppositionellen Feministinnen, weshalb diese Untersuchung in Anlehnung an Tarrows Definition die These vertritt, dass die verschiedenen Netzwerke als transnationale Bewegungen aufgestellt sind. Eine weitere These ist, dass sie sich gegen säkulare und islamische Feministinnen richten, diese zu einem Bewegungskörper formen und damit erst die ursprüngliche Bewegung definieren.
Dabei wird nicht übersehen, dass innerhalb der ursprünglichen Bewegung Ressentiments unter den Aktivistinnen bestehen. Es gibt eine Vielzahl von rein säkular argumentierenden Feministinnen, die – im Gegensatz zu den islamischen Feministinnen – die Möglichkeit einer Re-Interpretation religiöser Quellen bezweifeln, um Geschlechtergleichheit zu legitimieren. Den Bezug auf religiöse Quellen ordnen sie als Gefahr ein. Für sie können nur internationale Menschenrechtsbestimmungen wie beispielsweise die CEDAW als Argumentationsgrundlage für Gendergerechtigkeit dienen, denn ihrer Meinung nach folgen alle Religionen einer geschlechterungerechten und frauendiskriminierenden Logik. Haideh Moghissis Argument, „The Shari’a12 is not compatible with the principle of equality of human beings“ (Moghissi 2002: 141), wird von einer Vielzahl von säkularen Feministinnen als Grundannahme geteilt.
Dass säkulare und islamische Feministinnen aber trotzdem nicht als oppositionelle Gruppen bezeichnet werden können, zeigt die vorliegende Analyse mit Bezug auf den gemeinsamen Gegenakteur – die konservative Pro-Familie-Bewegung. Diese übernimmt die Strategien (repertoires of contention) der ursprünglichen Bewegung. Die kollektiven Problemeinrahmungsprozesse verlaufen in Anlehnung an die Forderungen der Feministinnen, weshalb von frames und Gegen-frames gesprochen werden kann. Das Auftreten der Pro-Familie-Bewegung beeinflusst damit auch die politische Gelegenheitsstruktur der Frauenrechtlerinnen. Diese Befunde haben zu der Einschätzung geführt, dass Musawah zwar keine direkte Gegenbewegung provoziert hat, selbst aber innerhalb einer Gegenbewegung und gleichzeitig innerhalb einer ursprünglichen Bewegung mobilisiert ist.
In Anlehnung an diese Erkenntnisse lauten die Hypothesen dieser Untersuchung:
Auf transnationaler Ebene wird eine ursprüngliche Bewegung häufig erst durch die Gegenbewegung als eine solche sichtbar. Die Erkenntnisse, die innerhalb nationaler Kontexte bezüglich oppositioneller Bewegungen gewonnen worden sind, lassen sich auf die transnationale Ebene übertragen. Erst wenn eine soziale Bewegung Anzeichen für Erfolge zeigt, wird sie als Bedrohung wahrgenommen. Daraufhin folgt die Mobilisierung einer Gegenbewegung, die der ursprünglichen Bewegung an die Verhandlungsorte folgt, Gegen-frames entwirft sowie Taktiken und Mobilisierungsformen übernimmt. Die gegnerischen Akteure bestimmen dann reziprok die jeweiligen politischen Gelegenheitsstrukturen. Auf transnationaler Ebene können Akteure gleichzeitig Teil von sozialen Bewegungen und Gegenbewegungen sein. Es ist unwahrscheinlich, dass einzelne Netzwerke für sich genommen Gegenbewegungen generieren, sie selbst können nur als Teil von transnationalen sozialen Bewegungen eine solche Mobilisierung fördern. Regierungsvertreter können selbst Akteure von transnationalen sozialen Bewegungen und Gegenbewegungen sein. Transnationale Gegenbewegungen können sich gleichermaßen gegen ursprüngliche und gegen Gegenbewegungen mobilisieren.
Auf die methodischen Ansätze, die für die Beantwortung der Forschungsfragen herangezogen werden, und auf das Forschungsdesign wird im anschließenden Kapitel Bezug genommen.
Dieses Kapitel legt das Forschungsdesign der Untersuchung und das methodische Vorgehen dar. Des Weiteren wird eine ausführliche Begründung dafür geliefert, warum für die Beantwortung der Forschungsfragen, die sich auf das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis von ursprünglichen transnationalen Bewegungsakteuren und ihren Gegenbewegungen beziehen, das Fallbeispiel Musawah als ursprüngliches Netzwerk gewählt worden ist und Marokko und Malaysia als Orte für die Untersuchung der nationalen Ebene dienten. Es werden außerdem die Arbeitsschritte, die Auswahl der theoretischen Konzepte und die Erhebungs- und Auswertungsmethoden mit dem Ziel vorgestellt, eine möglichst hohe wissenschaftliche Transparenz zu gewährleisten.
Basierend auf den theoretischen Erkenntnissen wurden mittels des deduktiven Verfahrens Hypothesen gebildet, die nicht nur die empirische Vor-Ort-Arbeit und die Quellen- und Dokumentenanalyse gelenkt haben, sondern auch die bestehende Theorie zu TANs und transnationalen Bewegungen prüfen sollen. Ziel ist es, die vorhandenen Theorien bezüglich des Interaktionsverhältnisses von transnationalen Bewegungen und Gegenbewegungen zu ergänzen. Zunächst erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Analyserastern der sozialen Bewegungsforschung, die überwiegend in Bezug auf westlich-demokratische Nationalstaaten entwickelt wurden: politische Gelegenheitsstrukturen, Mobilisierungsstrukturen, der Prozess der Entwicklung gemeinsamer Deutungsrahmen und die Repertoires von Streitpolitik. Daneben dienen auch Theorien über Gegenbewegungen, die ebenfalls vorwiegend im demokratisch-nationalen Kontext gewonnen wurden, als Basis der Untersuchung. Darüber hinaus findet eine Auswertung von Forschungsarbeiten über den transnationalen Bewegungssektor statt. Insbesondere liegt der Fokus dabei auf TANs sowie auf Studien über transnationale feministische Netzwerke (transnational feminist networks − TFNs) und transnationale soziale Bewegungen.
Da die Übertragbarkeit der bewegungstheoretischen Befunde auf die transnationale Ebene ein theoretisches Erkenntnisinteresse darstellt und transnationale Akteure in den Internationalen Beziehungen als Akteure untersucht werden, ist die Studie dem Teilbereich der Politikwissenschaft zuzuordnen, der sich mit internationalem bzw. grenzüberschreitendem Handeln staatlicher und nicht-staatlicher Akteure befasst. Die vorliegenden Befunde über Gegenbewegungen haben sich in zahlreichen westlich-demokratischen Kontexten bestätigt, weshalb diese sehr gut mit Hilfe einer Einzelfallstudie für transnationale Akteure, die in islamisch geprägten politischen Systemen agieren, geprüft werden können. Malaysia und Marokko als zwei Nationalstaaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit dienen als Untersuchungsländer, wodurch Merkmale der Vergleichenden Politikwissenschaft gegeben sind. Folglich bewegt sich die Analyse im Schnittmengenbereich der politikwissenschaftlichen Fachgebiete Internationale Beziehungen und Vergleichende Politikwissenschaft und liefert darüber hinaus Erkenntnisse für Soziologie, Religionswissenschaft und Gender Studies.
Musawah bietet sich als geeignetes Fallbeispiel an, da es ein typisches muslimisches TAN repräsentiert; es mobilisiert seit seiner Gründung Aktivistinnen und Aktivisten aus verschiedenen nationalen Kontexten. Außerdem versucht es, auf UN-Ebene Unterstützung für seine Reformbestrebungen zu erlangen und fordert die vollständige Umsetzung der CEDAW – legitimiert durch eine islamische Argumentation – ein. Zwar sind die Aktivitäten auf internationaler Ebene keine Bedingung, um der Definition transnationaler Akteure zu entsprechen, aber wie die Literatur deutlich macht, ist der internationale Aushandlungsraum häufig ein zentraler Verhandlungsort, an dem Anhänger und Unterstützer akquiriert werden. Darüber hinaus bestand zu Beginn des Forschungsprojekts die Annahme, dass Musawah sehr wahrscheinlich eine transnationale Reaktion auslösen werde. Diese gründete darauf, dass die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung der Geschlechter innerhalb der muslimischen Familie auf eine Auflösung tradierter Rollenverhältnisse abzielt und damit ein sozialer Wandel einherginge, der länderübergreifend auf die Missbilligung bestimmter Interessengruppen stoßen würde. Auf der nationalen Ebene zeigte sich bereits, dass die Bestrebungen Gegenbewegungen mobilisierten, deren Ziel eine Abwehr von sozialen Wandlungsprozessen war und immer noch ist. Beispielsweise rief die säkulare marokkanische Frauenbewegung, die eine grundlegende Reform des Personenstandsgesetzes einforderte und die für die Umsetzung der CEDAW eintrat, eine Gegenbewegung hervor. Auch in Malaysia sind Gegner von Sisters in Islam (SIS) bekannt, die die rechtliche Geschlechtergleichstellung innerhalb der muslimischen Familie ablehnen. Parallel zu nationalen Gegenbewegungen war auch eine transnationale Gegenmobilisierung zu erwarten, mit Hilfe derer die gegenseitige Abhängigkeit von Musawah als ursprünglichem Bewegungstyp und seiner Gegenbewegung hätte analysiert werden sollen; die Vermutung einer solchen Gegenbewegung hat sich allerdings – wie schon erwähnt – nicht bestätigt.
Die Untersuchung bezieht sich länderspezifisch auf Malaysia und Marokko, da in diesen Ländern nicht nur Musawah-Anhängerinnen aktiv sind, sondern sich diese nationalen Kontexte durch eine besondere Relevanz für Musawah auszeichnen. Zudem repräsentieren sie verschiedene Weltregionen und es dominieren dort verschiedene islamische Rechtsschulen; außerdem besitzen sie noch unterschiedlich hohe muslimische Bevölkerungsanteile. Damit die Ergebnisse weitreichende Aussagekraft über transnationale Akteure besitzen, war dementsprechend auch die Diversität der Fallländer von Bedeutung, um eine höhere externe Validität zu gewährleisten (vgl. Lauth/Winkler 2002: 57). Hier waren bereits Akteure bekannt, die sich gegen Reformen von muslimischen Personenstands- und Familiengesetzen einsetzen und gegen eine Gleichstellung von Frauen und Männern mobilisiert sind. Diese Akteure können gut auf ihre Transnationalisierung hin untersucht werden.
Marokko eignet sich als Untersuchungsland, da die Umsetzung der Personenstandsrechtsreform auf Druck der Frauenbewegung durchgesetzt worden ist und diese Revision Musawah als Beispiel diente. Durch sie wurde den Musawah-Aktivistinnen die Realisierbarkeit von Personenstands- bzw. Familiengesetzreformen in muslimischen Mehrheitsgesellschaften verdeutlicht, ebenso konnten Handlungsstrategien von der progressiven marokkanischen Frauenbewegung erlernt werden. Die Verbindung von islamischen mit internationalen Menschenrechtsargumenten stellt eine wesentliche Strategie dar, die Musawah übernommen hat. Außerdem war in Marokko bereits eine Gegenbewegung der säkularen Frauenbewegung bekannt, die sich gegen eine rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern einsetzte und bis heute stattdessen eine komplementäre Rollenverteilung der Geschlechter mit einer dementsprechenden Rechtssituation einfordert und die Implementierung internationaler Abkommen wie der CEDAW ablehnt. Die Annahme lag nahe, dass sich die Gegenbewegung transnational mobilisieren würde, um Musawah an seinen Reformbemühungen zu hindern und im eigenen Land weiteren progressiven Wandel aufzuhalten. Der muslimische Bevölkerungsanteil liegt in Marokko bei ca. 98 %, womit Marokko ein nahezu religiös-homogenes Land ist.
Malaysia stellt sich als ein weiteres angemessenes Untersuchungsland dar, denn die Initiative, ein transnationales Netzwerk zu bilden, das sich die Reform von Familiengesetzen zur Aufgabe macht, ging von Sisters in Islam (SIS), einer nationalen NGO, aus. Die Koordinierung des Netzwerks wurde bisher ebenso von dieser Frauenrechtsorganisation durchgeführt. Außerdem fand die Eröffnungsveranstaltung, an der ca. 250 Personen teilnahmen, in der Landeshauptstadt Kuala Lumpur statt. Eine gegnerische Mobilisierung wurde durch die Sichtbarkeit des Netzwerks deshalb auch in Malaysia vermutet. Es repräsentiert den nicht-arabischen Islam und ist ein ethnisch-heterogenes Land, in dem ca. 65 % Muslime die Mehrheit der Bevölkerung bilden.
In den ausgewählten Ländern Malaysia und Marokko wurden offene, leitfadengestützte Interviews mit Experten geführt und dadurch Primärdaten erhoben. Die Wahl der qualitativen Methode ist einerseits damit zu begründen, dass eine quantitative Methode mittels standardisierter Fragebögen keinen Aufschluss über eine Gegenbewegung geliefert hätte und andererseits nur durch offene Leitfadeninterviews die kausalen Zusammenhänge zwischen den Bewegungsakteuren erforscht werden konnten. Die Auswahl der Interviewform erfolgte nach Bürklin, der folgenden Vorteil von Leitfadeninterviews beschreibt: „Leitfadeninterviews haben einen hohen heuristischen Wert: Sie sind als nicht-quantifizierende Verfahren darauf ausgelegt, eine Person oder einen speziellen Fall (eine Untersuchungseinheit) ganzheitlich zu verstehen“ (Bürklin 1995: 143). Bürklin kommt zu der Feststellung, dass sich diese Interviewform für die Formulierung von Hypothesen deshalb sehr gut eigne, gerade im Zusammenhang noch unerforschter Gebiete. Als Experten kommen nach Meuser und Nagel folgende Personen infrage: „[…]
Die Auswahl der Experten richtete sich danach, ob sie über Informationen bezüglich des Familienrechtsdiskurses, der sozialen Bewegungsdynamik und/oder über Einsichten in das Netzwerk Musawah verfügten. Personen aus Politik, Zivilgesellschaft und dem Wissenschaftsbereich sowie Journalisten und Musawah-Netzwerkanhängerinnen stellten sich als diesbezügliche Informationsträger oder Experten heraus. Analog zu den verschiedenen Personengruppen wurden zwei unterschiedliche Fragenkataloge verwendet: Einer richtete sich an politische und zivilgesellschaftliche Akteure und ein anderer an Wissenschaftler und Journalisten. Der jeweilige Interviewleitfaden war nach dem oben erklärten klassischen Analyseraster der Bewegungsforschung strukturiert. Eine Frage lautete beispielsweise, welchen gemeinsamen familienpolitischen Ansatz die Partei oder die Organisation vertritt, eine weitere, wie diese Ansätze umgesetzt werden, mit welchen anderen Akteuren die jeweilige Partei oder Organisation kooperiert und welche Akteure sie in ihrer Arbeit behindern. Insgesamt wurden 55 Interviews mit Experten realisiert und mit einer Videokamera13 aufgenommen.
In der Zeit von Dezember 2010 bis Januar 2011 fand die Feldforschung in Malaysia statt, während derer Akteure und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Lagern befragt wurden. Dazu gehörten beispielsweise Aktivistinnen von Musawah und SIS. Ebenso wurden Interviews mit einem Parteianhänger der islamistischen Oppositionspartei Parti Islam Se-Malaysia (islamische Partei Malaysias – PAS) und mit Parteianhängerinnen der Frauensektion PAS Dewan Muslimat (Frauensektion) sowie mit Mitgliedern der islamisch-konservativen NGO Pertubuhan Jamaah Islah Malaysia (islamische Reformbewegung – JIM) und deren Frauensektion Wanita JIM geführt. Mit dem Ex-Präsidenten der Angkatan Belia Islam Malaysia (islamische Jugendbewegung – ABIM), der gleichzeitig der Ex-Vorsitzende des Allied Coordinating Committee of Islamic NGOs (ACCIN) ist und sich heute in der Sofa-Stiftung, einer daʿwa14-Institution engagiert, wurde ebenfalls ein Interview durchgeführt. Zudem ist dieser Interviewpartner als Lehrkraft an der juristischen Fakultät Ahmad Ibrahim Kulliyyah of Laws (AIKOL) der International Islamic University Malaysia (IIUM) tätig. Weitere Interviewte waren drei Aktivistinnen des transnationalen islamistischen Hizb-ut-Tahrir15-Netzwerks (Partei der Befreiung) und Akteure des transnationalen Fethullah-Gülen-Netzwerks. Befragungen fanden außerdem mit Vertretern der Think-Tanks Institut Kefahaman Islam Malaysia (Institute of Islamic Understanding Malaysia − IKIM) und International Institute of Advanced Islamic Studies (IAIS) statt. Islamische Rechtswissenschaftler, ein Sozialwissenschaftler, ein Journalist und ein Mitarbeiter einer deutschen politischen Stiftung gehörten darüber hinaus zu den Gesprächspartnern.
In Marokko wurden im September und im Oktober 2011 Interviews mit einer Musawah-Unterstützerin und einer Vertreterin des feministischen Vereins Union de l’Action Féminine (Vereinigung für weibliches Handeln – UAF) geführt. Interviewanfragen an weitere säkulare Feministinnen lehnten diese ab, auf die diesbezüglichen Begründungen wird im Folgenden noch eingegangen. Aus dem islamisch-konservativen und islamistischen Sektor sind folgende Akteure befragt worden: Parteianhängerinnen und ein Parteianhänger der islamistischen Partei Parti de la Justice et du Développement (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung − PJD), ein Parteimitglied der konservativen Unabhängigkeitspartei Istiqlal, eine Vertreterin des religiösen Konsultativorgans, des Höchsten Rates der ʿulamāʾ16 und der Generalsekretär der Liga Mohammadia der ʿulamāʾ (Rabita Mohammadia des Ouléma). Weitere Gespräche betrafen Vertreterinnen islamisch-konservativer Frauenrechtsvereine wie die Präsidentin der Organisation du Renouveau de la Prise de Conscience Féminine (Organisation der Erneuerung des weiblichen Bewusstseins − ORCF), eine Vertreterin des Netzwerks Mountada Azzahrae de la Femme Marocaine (Forum Azzahrae) sowie eine Anhängerin der verbotenen Vereinigung Al-ʿAdl wa l-Iḥsān (Vereinigung für Gerechtigkeit und Spiritualität). Zudem war ein Anhänger der Bewegung der Einheit und der Reform (Mouvement de l’Unité et de la Réforme – MUR) zu einem Gespräch bereit. Ein Politikwissenschaftler und ein Mitarbeiter einer deutschen politischen Stiftung gehörten ebenso zu den Interviewpartnern wie ein Mitarbeiter der Islamic Educational, Scientific and Cultural Organization (ISESCO).
Auch in anderen Ländern konnten Expertinnen und Musawah-Anhängerinnen interviewt werden. Beispielsweise wurde im Rahmen der Konferenz Formation of Normative Orders in the Islamic World, die 2010 an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main stattfand, eine der renommiertesten Wissenschaftlerinnen (US 1) hinsichtlich des Phänomens „Islamischer Feminismus“ befragt. Die Interviewpartnerin ist außerdem noch Mitglied von Women’s Islamic Initiative in Spirituality and Equality (WISE). Im Rahmen der Konferenz Islamic Feminism bestand im Oktober 2010 die Möglichkeit, mit einer Kernakteurin Musawahs (UK 1) in Madrid ein Interview durchzuführen. Auf der Konferenz Islamic family law in modern Europe and the Muslim world − Normative, legal and empirical approaches beyond the women’s rights issue, die im Juni 2013 an der Radbound-Universität in Nijmegen (Niederlande) stattfand, konnten die Ergebnisse dieser Studie mit den Konferenzteilnehmern diskutiert werden, unter denen sich auch die erwähnte Musawah-Aktivistin UK 1 und ein Netzwerkmitglied aus Ägypten befanden.
Die Auswertung der Interviews erfolgte mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse mit dem EDV-Programms MaxQDA. Vorab sind in Anlehnung an die Interviewstrukturierung gemäß den Theorien über Gegenbewegungen Kategorien17 gebildet worden, die als Hilfsmittel zur „Phänomenklassifizierung“ dienten, um Unterkategorien zu erstellen (Kuckartz 2010: 62). Dieses Vorgehen entspricht der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring, die darauf abzielt, „Rückschlüsse auf bestimmte Aspekte der Kommunikation [zu] ziehen“, und folgende Perspektiven beinhaltet: Kommunikationsanalyse, systematisches, regelgeleitetes und theoriegeleitetes Vorgehen (Mayring 2010: 13). Die Bündelung der Aussagen erfolgte auf diesen Grundlagen. Es wurden kollektive Deutungsrahmen, die Mobilisierung und die Strategien als Kategorien von Akteuren ermittelt sowie im Verlauf der Auswertung Unterkategorien gebildet und geprüft, inwiefern diese Charakteristika mit denen von Musawah übereinstimmen oder diesen entgegengesetzt sind. Akteure, die eine komplementäre Rollenverteilung innerhalb der Familie propagieren, wurden als Gegenakteure Musawahs eingestuft. Als Unterkategorien ergaben sich dann die Zustimmung oder Ablehnung der CEDAW sowie die Einstellung zum Heiratsalter, zur Polygamie, zum Erbe, dem iǧtihād und zu Musawah.
Die Studie ist wie folgt aufgebaut: Kapitel 3 beinhaltet den Forschungsstand und die relevanten theoretischen Erkenntnisse. Dazu gehören das Konzept des Transnationalismus, die Ansätze der sozialen Bewegungsforschung, Theorien über Gegenbewegungen und TANs sowie transnationale Bewegungen. In Kapitel 4 wird die politische Gelegenheitsstruktur von Musawah auf der internationalen und der nationalen Ebene, zum größten Teil unter Berücksichtigung von Marokko und Malaysia, analysiert. Erst durch diese Untersuchung lassen sich die Entwicklung des kollektiven Deutungsrahmens und die Strategien Musawahs nachvollziehen. Kapitel 5 analysiert die Mobilisierungsstrukturen, die kollektiven Deutungsmuster, die einerseits als originärer frame auf der internationalen Ebene und andererseits als Gegen-frame zu den islamistischen und islamisch-fundamentalistischen Forderungen auf der nationalen Ebene gewertet werden. Es thematisiert außerdem die methodischen Ansätze des Netzwerks. Die gegnerischen Akteure, die entgegengesetzte Deutungsrahmen einnehmen, werden in Kapitel 6 analysiert. Kapitel 7 widmet sich Akteuren und Personengruppen, die Musawah