Im Lauf der Jahrhunderte hat man immer wieder die Kriterien und Konzeptionen des Schönen in Frage gestellt, seine Definition unterlag einem fortwährenden Wandel. Doch hat man dabei auch jene in der Sprache verankerte Vorbedingung bedacht, nämlich überhaupt „das Schöne“ sagen zu können? Als Angelpunkt unserer Metaphysik lehrt uns das Schöne, die Vielfalt des Sinnlichen zugunsten der Einheitlichkeit einer „Idee“ aufzugeben. Das Schöne bestürzt und bewegt uns, indem es als Absolutes ins Sichtbare einbricht; zugleich ist es der letzte Erlösungsweg, der uns nach dem Tod der Götter noch bleibt. Das chinesische Denken freilich hat nie „das Schöne“ abstrahiert und isoliert. In der Herausarbeitung dieses Unterschiedes sucht François Jullien Möglichkeiten freizulegen, die sich nicht dem Monopol des Schönen unterordnen; der zeitgenössischen Kunst, im Krieg mit dem Schönen befindlich, neue und fruchtbare Wege zu eröffnen. Das Schöne wird von erschöpfenden Gemeinplätzen befreit: um es in seiner Fremdartigkeit wiederherzustellen.
François Jullien, geboren 1951, lehrt an der Universität Paris VII klassische chinesische Philosophie und Ästhetik, ist Direktor des UFR (Langues et Civilisations de l’Asie Orientale) und war Präsident des Collège International de Philosophie.
DIE FREMDARTIGE IDEE DES SCHÖNEN
PASSAGEN FORUM
Aus dem Französischen
von Christian Leitner
Deutsche Erstausgabe
Titel der Originalausgabe: Cette étrange idée du beau
Aus dem Französischen von Christian Leitner
Cet ouvrage a été réalisé grâce au soutien de l’Université Paris Diderot – Paris 7. Cet ouvrage, publié dans le cadre du Programme d’Aide à la Publication (P.A.P.) MUSIL, bénéficie du soutien du Ministère français des Affaires Etrangères et de l’Ambassade de France en Autriche.
Die deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-7092-5012-9 (E-Book)
ISBN 978-3-7092-0050-6 (Broschur)
© 2010 by Éditions Grasset & Fasquelle, Paris
© der dt. Ausgabe 2012 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
http://www.passagen.at
Grafisches Konzept: Gregor Eichinger
Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
I. |
Schön, das Schöne |
II. |
Vom Schönen: Philosophische Übungen |
III. |
Spurrillen einer unmöglichen Definition |
IV. |
Befund: China kannte das Monopol des Schönen nicht |
V. |
Was geht uns durch das Schöne verloren? |
VI. |
Das Schöne, Angelpunkt der Metaphysik |
VII. |
Trennung-Vermittlung: Worauf sich das Schöne gründet |
VIII. |
Oder: „Den Geist übermitteln“ durch das Greifbare |
IX. |
Die Schönheit kommt von der Form |
X. |
Oder: Die Transformation malen |
XI. |
Varietät oder Varianz |
XII. |
Essenz/Valenz |
XIII. |
Ähnlichkeit/Resonanz |
XIV. |
Gegenwart/Tränkung |
XV. |
Vom Akt oder von der Schönheit |
XVI. |
Die „schöne Vorstellung von einem Dinge“ |
XVII. |
„Das ist schön“ – oder: Was kann ich anderes tun als zu „urteilen“? |
XVIII. |
Geht es um Lust? |
XIX. |
Demokratie des Schönen |
XX. |
Die Bestürzung über das Schöne |
XXI. |
Das tote Schöne |
XXII. |
Das Schöne als Kult |
XXIII. |
Das Schöne hinter sich lassen? |
XXIV. |
Das Schöne in seiner Fremdartigkeit wiederherstellen |
Anmerkungen
Für Liliana Albertazzi, Hüterin der Avantgarden
Es gibt nichts Verdächtigeres als die Behaglichkeit, mit der man über das Schöne verhandelt hat.
Mir graut vor dem Geschwätz, das durch sie begünstigt wird, indem sie sogleich jedes Hinterfragen zum Schweigen bringt – ein solches betrifft allenfalls das ewige Problem der Definition des Schönen, ohne dass jemals die vorauszusetzende Frage gestellt würde: War es angebracht, die Wertschätzung des wahrgenommenen Objekts unter diesem hegemonial gewordenen, ja zum Absoluten erhobenen Terminus – „das Schöne“ – zu isolieren? War es nicht bereits voreilig, ein solches „Objekt“ (des Schönen) zu setzen? Und entsprach dies nicht zuerst den Notwendigkeiten unserer Metaphysik? Aber das Schöne hat nichtsdestoweniger über der europäischen Kultur gethront, ohne dass man die Befangenheiten erkundet hätte, auf die es sich stützte. Die Moderne hat gegen das Schöne revoltiert, ohne jene nennenswert zu erhellen.
Das „Schöne“ versteht sich also nicht von selbst. Doch wie kann man die Fragen aus einer angemessenen Distanz stellen, um ein solches Maß an Konformismus ins Wanken zu bringen?
Im Zeitalter unserer klassischen Vernunft konnte man sich ohne Mühe vorstellen, einen christlichen Philosophen und sein chinesisches alter ego miteinander diskutieren zu lassen. Ein naiver Gedanke vielleicht, denn in welcher Sprache hätte man sie sprechen lassen sollen, ohne dass der Austausch sogleich auf das Gebiet der einen oder der anderen kippte? Damals hielt man die Sprache für transparent und neutral, ohne zu ahnen, dass wir in ihren Verwerfungen zu denken beginnen.
Es wird folglich notwendig sein, dass wir dazwischen gehen, um die Bedingungen für ein Aufeinandertreffen zwischen ihnen einzurichten; und dass wir, anstatt den Begriff frontal dekonstruieren zu wollen, ihn umkreisen, ihn immer wieder auf Umwegen attackieren, dabei ein ums andere Mal zurückprallen, sodass schrittweise, über den eröffneten Abstand hinweg, der Sockel des von uns Ungedachten sichtbar wird.
Denn den Weg über China zu nehmen bedeutet nicht etwa, einen exotistischen Juckreiz zu befriedigen, sondern – indem man durch Rückzug an Boden gewinnt – die Frage mit größerer Radikalität zu betrachten, oder vielmehr eine Frage eben dort aufkommen zu lassen, wo keine erkennbar gewesen war. Das „Schöne“ wird in der Folge beginnen, aus seiner Banalität herauszusteigen; ja sogar eine faszinierende Fremdheit freizulegen.
Es gibt einen weiteren Dialog, den ich hier hätte entwickeln wollen: nicht nur mit China, sondern mit der zeitgenössischen Kunst. Ruft auf diesen Seiten nicht alles dazu auf? Zumindest einige erste Elemente dafür werden gegeben, werden als Steine in Warteposition gesetzt. Denn die Künstler, nicht die Philosophen, sind die ersten Abenteurer, oder sagen wir, die Pioniere des Denkens. Die Philosophie, das weiß man, steht immer spät auf.
Gehen wir also vom Nächstliegenden aus, dicht an der Sprache, von den Ausdrucksmitteln der Sprache, die das Denken vorbestimmen. Was geschieht, wenn wir vom einen zum anderen übergehen, vom Adjektiv zum Substantiv: von „schön“ zum „Schönen“? „Schön“ (als Adjektiv) hat ein breites Spektrum, es lässt uns zwischen diesen Möglichkeiten umherwandern. Einerseits, im engeren Sinn, dient es dazu zu sagen, was man als angenehm für Gehör oder Gesichtssinn erkennt, was also einen Genuss in der Wahrnehmung hervorruft; doch andererseits, in einem weniger begrenzten oder selektiven Sinn, was ein viel allgemeineres, ungeteiltes Gefühl der Bewunderung oder Zufriedenheit empfinden lässt: was schicklich, vollendet, gelungen ist. „Eine schöne Frau“ sagt die Sprache, aber auch „ein schöner Zug“, im Französischen spricht man von einer „belle santé“ (einer „schönen Gesundheit“) und einer „belle affaire“ (einer „schönen Geschichte“)… Bella cosa far niente. Der Zug oder die Geschichte sind nicht eigentlich „schön“. Wenn man zum Substantiv übergeht, wird dagegen die engere Bedeutung des Schönen isoliert und erhält ausschließlichen Charakter: Das Schöne (die Schönheit) ist die Eigenheit dessen, was schön ist. Aus der Verschwommenheit des Schicklichen wird, allein durch den Artikel, eine Bedeutung hervorgehoben und isoliert, die man „ästhetisch“ nennen kann. Die Schönheit eines Gesichts, einer Landschaft, eines Gemäldes.
Das gilt schon für das Griechische – denn was ließe sich nicht darauf zurückzuführen? „Von schönem Wuchs“, sagt Homer, kalos to sôma. Doch liest man bei ihm auch, dass ein „schöner Hafen“ (kalos limen) ein gut gelegener Hafen oder ein „schöner Wind“ (kalos anemos) ein günstiger Wind ist. Odysseus irrt lange Zeit auf der Suche nach diesen zwei Dingen umher, um heimkehren zu können. „Schön“ heißt hier, was in der Welt als Ressource dient und sich zur Verwendung anbietet, was der Situation dienlich ist und was man nutzen kann, ohne dass der eine oder der andere Sinn – Gehör oder Gesichtssinn – es als selbstlosen Selbstzweck von der dinglichen Funktionalität loslöste. Ohne dass diese ihn zur Musik erheben, könnte es der Wind in den Segeln oder in der Landschaft sein: Nausikaa am Strand, oder der Gesang der Sirenen. „Das Schöne“ (to kalon) hingegen bezeichnet ausschließlich das, was, vom Nutzen losgelöst und diese Abhängigkeiten durchbrechend, für eine spezifische Eigenschaft gehalten wird – ob es sich nun um moralische oder um physische Schönheit handelt. Wie zu erwarten substantialisiert (essentialisiert) das Substantiv. Aus der semantischen Weite alles Angeeigneten trifft es seine Auslese und behält nur das bei, was Gegenstand eines reinen und klar definierten Genusses ist. Das Schöne ist damit bereits als eigenständiges Verlangen, als eine Berufung des Menschen etabliert – wir sind auf unserem Weg…
Wie ergeht es ihm aber nun in anderen Sprachen? Ist dort eine derartige semantische Selektion bekannt, die von der Morphologie ganz allein bewirkt wird? Betrachten wir das Chinesische. Was wir heute aus dem Chinesischen als „schön“ (mei ) übersetzen, oszilliert gleichmäßig zwischen beiden Aspekten. Einerseits eine offene Bedeutung – jene der Vortrefflichkeit und der Genugtuung, wie sie sich in jeder Erfahrung feststellen lassen: die Fülle eines Vermögens, einer Fähigkeit ist „schön“ (mei); und auch „eine Nachbarschaft ist schön, wenn dort das Gefühl der Menschlichkeit herrscht“ (Gespräche des Konfuzius, IV, 1). Andererseits erklärt Konfuzius die Musikstile von Wu und Shao als „vollkommen schön“ (mei), wobei der eine zugleich „vollkommen gut“ ist, der andere hingegen nicht; oder er nennt ein Auge „schön“ (mei), in dem das Weiße und das Schwarze klar getrennt sind und einen Kontrast bilden. Aber nun ist es eben so, dass die chinesische Sprache an und für sich keine morphologische Unterscheidung zwischen Adjektiv und Substantiv kennt; sie sagt nicht „das Schöne“ (oder die Schönheit): das Schöne als Begriff und die Schönheit als Eigenschaft. Sie isoliert vom Wort „schön“ (mei) keine rein ästhetische Bedeutung, die das Denken in der Folge hypostasieren könnte. Und auch nur aufgrund eines Imports aus dem Okzident kam es dazu, dass man am Ende des 19. Jahrhunderts, in China wie in Japan, „Ästhetik“ – „Kallistik“ sagte man im 18. Jahrhundert auch in Europa – als „Studium des Schönen“ (mei-xue im Chinesischen, bi-gaku im Japanischen) übersetzen musste.
Was lässt sich daraus – bereits jetzt – Entscheidendes ableiten?
Denn was macht Platon beim Errichten seines philosophischen Systems in Summe anderes, als eben jenen Rohstoff zu nutzen, den ihm die griechische Sprache zur Verfügung stellt? Als zu lernen, von einem schönen Gegenstand zum Schönen als solchem überzugehen? Dies ist gerade die Eingangstür der Philosophie, die zu durchschreiten der Gesprächspartner des Sokrates in seinem Dialog über das Schöne (Hippias maior) Mühe hat, weil er lange braucht, um diesen Unterschied zu erkennen. Philosophische Übungen für Anfänger: Ich frage dich nicht, was „schön ist“, sondern was „das Schöne“ ist (ti esti to kalon). Lerne, vom Adjektiv zum Substantiv überzugehen – anders gesagt, von der Benennung einer Eigenschaft zum Wesen, vom Konkreten zum Abstrakten, von den Einzelfällen zur Allgemeinheit: nicht länger zu benennen, sondern zu definieren. Man sollte meinen, dass es sich um einen einfache Explizierung handelt, doch der Schritt, der hier getan wird, ist entscheidend, oder vielmehr ergibt sich alles andere aus ihm – es gibt keine Umkehr mehr, ein Zurückgehen ist unmöglich: Wenn Gegenstände als schön beurteilt werden, heißt das, dass es „das Schöne“ gibt, das sie schön macht. Im Substantiv „das Schöne“ ist „schön“ auf nichts anderes mehr bezogen, sondern zieht sich in das zurück, was zu seiner Substanz wird; es setzt seiner endlosen Verstreuung über die Gegenstände ein Ende, um sich als Subjekt zu behaupten. Das Schöne ist folglich nicht länger eine „schöne Jungfrau“ (eine schöne Stute, eine schöne Leier, ein schöner Kessel), sondern ist dieses „in sich“ – auto – das sich all dieser Vielfalt hinzufügt und, von ihr ablösbar, die einzige Ursache für ihre Eigenschaft ist. Von „schön“ zu „das Schöne“: Die (europäische) Philosophie ist aus diesem hinzugefügten Artikel geboren und entwickelt sich im Rahmen dieser Verschiebung.
Wenn man von „schön“ das Schöne ablöst, wird damit ein wichtiger Anstoß gegeben, der es erlaubt, dass das Denken nicht länger von einer Okkurrenz zur nächsten wandert wie die Biene auf Nektarsuche, dicht über den Dingen, die Welt buchstabierend, so wie es sie entdeckt, und zufrieden mit diesem Inventar – von all diesem Anekdotischen nehmen wir Abschied. Es wird sich in der Folge aus sich selbst heraus konstruieren, und zwar zuerst durch Definition – so hat es Platon ein für alle Mal bestimmt: es wird daran arbeiten, das Erfasste zu vereinheitlichen, um der entmutigenden Zersplitterung in Einzelfälle zu entkommen, und sich den souveränen Aussichtspunkt des Begriffs erlauben. – Gut, schon ist es geschehen: Die Naivität jedes Realismus (Phänomenalismus), der mit dem Finger auf das zeigt, was er vor den Augen hat, ist überwunden. Und Sokrates kann spotten: Wäre es nicht entschieden zu lächerlich hinzunehmen, dass man dieses Schöne mit einer beliebigen Materie vergleicht, und sei es, weil man sie in so vielen verschiedenen Objekten als immer Gleiche wiederfindet? Da es kein Gegenstand, Gold oder Marmor, sein kann, muss das Schöne folglich ein Begriff sein. Denn der Meinung zu sein, in der Statue der Athene sei der Marmor an einer gewissen Stelle schön, schöner als Elfenbein, „weil er in angebrachter Weise verwendet wird“, bedeutet, das Schöne nicht mehr in einem Gegebenen zu suchen, dessen Begrenztheit zu offensichtlich ist, sondern als ein Prinzip. Wer dies tut, wird mühelos das Gewimmel des Vielfältigen durchdringen. Das „Angebrachte“ (to prepon): Ist das nicht gerade die Definition des Schönen?
Nun aber die erste Enttäuschung der entstehenden Philosophie in ihrer Eroberungslust: So wie das Denken auf Abwege geriet, solange man von Gegenstand zu Gegenstand wanderte, um das Schöne durch Assimilation zu identifizieren, so verliert es sich nun wieder, indem es uns von Prinzip zu Prinzip irren lässt. Denn ist man nicht gleichwohl zur Reduktion verurteilt, egal, worauf man das Schöne auch bezieht – was dazu führt, dass das Schöne wiederum entflieht? Indem wir verfolgen, wofür die Suche nach dem Schönen eine Übung ist (immer noch im Hippias maior): Ist ein hölzerner Löffel schöner als ein Löffel aus Gold, weil er eher dem Gebrauch „angemessen“ ist? Und wer versichert uns andererseits dass das, was wir als „angebracht“ hinnehmen, nicht bloß diesen Anschein erweckt? Verbessern wir also den Begriff des Angebrachten durch das „Nützliche“ (chresimon) und laden so seine Zielgerichtetheit mit größerer Wirksamkeit auf. Besteht dann aber nicht die Gefahr, dass das Nützliche sich zu weit vom Guten entfernt, indem es auf eigennützige Zwecke abzielt? Ersetzen wir also das Nützliche durch das „Vorteilhafte“ (ophelimon); aber das Vorteilhafte seinerseits würde, wenn es das Gute hervorbringt, vom Guten unterschieden sein, et cetera.
Wenn es die Mühe wert ist, diese dialektischen Übungen, denen Platon „das Schöne“ unterzogen hat, noch einmal und immer wieder durchzugehen, dann deshalb, weil sie uns ermessen lassen, in was für Schwierigkeiten wir uns unwiderruflich befinden, sobald wir einmal „das Schöne“ als Begriff gesetzt haben. Der Weg der Abstraktion selbst, der das Schöne als Begriff definiert, dieser Weg, der sich als Königsweg angekündigt hatte, wird vermutlich auch nicht – zumindest nicht so bald – der Ausweg sein, auf den man gehofft hat. Warum also zuwarten, zu dem zurückzukehren, was uns der Hausverstand sagt und worauf sich die Sprache von Anfang an verständigt: dass das Schöne „der Genuss ist, den Gehör und Gesichtssinn bereiten“, wie es, nach allen Argumenten, Sokrates in fine vorschlägt? Aber wenn man das Schöne in dieser Weise auf die Wahrnehmung beschränkt, lässt sich dann noch von moralischer Schönheit sprechen? Und warum überhaupt zweien unserer Sinne, dem Gehör und dem Gesichtssinn, das Privileg über dieses Angenehme in der Wahrnehmung zugestehen, auf Kosten der anderen? Insofern es nicht einem Sinn allein eigen ist, aber auch nicht allen fünfen zugehörig, lässt das Schöne unklar, wie es zugleich in den Bereich dieser beiden und jedes einzelnen für sich fallen kann. Wieder einmal bleibt das Wesen der Gemeinsamkeit ungreifbar. Denn wenn am Ende des Weges dieser Genuss des Gehörs und des Gesichtssinns zur Abgrenzung der anderen Genüsse einzig dadurch definiert wird, dass er der „unschuldigste“ (asines) und beste ist, dann ist das lediglich ein erster – schwankender – Schritt, das Schöne vom Angenehmen zu unterscheiden und sein „uneigennütziges“ Wesen, wie man es, allerdings deutlich später, bezeichnen wird, zur Geltung zu bringen. Um die Wahrheit zu sagen, die Untersuchung, an ihr Ende geführt, beginnt gerade erst.
Dennoch hat Platon, indem er uns vom einen Ende dieser Untersuchung zum anderen geführt hat, und wenn auch nur, um endgültig zu erkennen, dass sie zu keinem Schluss kommen kann, ein für alle Mal das abgesteckt, was nach ihr, in ihrem Kielwasser, zum „Problem des Schönen“ wurde. Mit dem Hippias maior hat dieses Problem Wurzeln geschlagen, und man wird nicht mehr so leicht daraus entkommen. Wird es je möglich sein, von ihm abzulassen? Wird man sich eines Tages von ihm befreien können? Bis wohin würde sein Schlagschatten nicht reichen? Wenn auch die Antworten unendlich variieren, so bleibt doch die Frage bestehen. Von ihr bleibt, aus der Sprache bezogen, der Begriffseffekt: das Schöne. Wenn wir auch nicht definieren können, was das Schöne ist, so wird zumindest anerkannt, dass es „vorhanden ist“, wir „glauben“ (nomizein) an seine Existenz. Das heißt, wenn ich diese philosophischen Anfängerübungen noch einmal durchgehe, dann weil es Zeit ist, von außen abzumessen, wie sehr sie uns geformt haben.
Ist es tatsächlich unerheblich zu bemerken, dass Sokrates (bei Platon), wenn er uns lehren möchte, uns zum Begrifflichen zu erheben, jedes Mal mit dem Schönen beginnt (vor dem „Großen“, dem „Guten“ und dem „Gerechten“)? „Unterhalb“ der vielfältigen Aspekte der Gegenstände ist es das Schöne, was er als erstes zu setzen – genau genommen: zu „unterstellen“ (das benutzte Verb ist hupotithesthai, wie in der „Hypothese“, Phaidon 100b) – sich veranlasst sieht. Das Gute mag später zum Schlüsselstein des Gebäudes und zum höchsten Term erhoben werden, doch die Erziehung eines Philosophen muss mit dem Schönen beginnen: indem man ihn lehrt, vom Plural zum Singular überzugehen, von den „schönen Stimmen“ und den „schönen Farben“ zur Einheitlichkeit des Schönen an sich (im Herzstück der Politeia, 476 b–d). Noch mehr, mit dem Schönen – in diesem Übergang vom Adjektiv zum Substantiv (im Neutrum) – hat die Askese begonnen, und wir begeben uns auf den Weg zum Idealen: insoweit wir nur schöne Gegenstände kannten, nicht aber die Existenz des Schönen als solchen (auto), lebten wir „in einem Traum“. Indem wir das Schöne von ihnen ablösen, betreten wir das wahre Leben und werden für die „Idee“ empfänglich.
Es wir uns also keine andere Wahl bleiben, als unsere Schritte in seine Spuren zu setzen. Wir werden von eben jenem Ort, von jenem ersten Text (dem Hippias maior) ausgehen müssen, den man später als den Geburtsakt des Problems aufgefasst hat: dort wird definitiv, trotz aller Aporien, die daraus folgen, die Vorstellung begründet, dass „das Schöne“ als „etwas“ – ti – existiert, zugleich isolierbaridentifizierbar, zumindest im Prinzip, und als etwas, woraus sich das Objekt eines Diskurses machen lässt. Etwas „worüber“ (peri) man sprechen kann (Peri toû kaloû lautet der Titel), was zugleich Distanz und Meisterschaft voraussetzt, um sich seiner zu bemächtigen. Auf die Gefahr hin, dass dieses Wort, unfähig zu einem Ende zu gelangen, immer wieder, bis in alle Unendlichkeit, zurückgeworfen wird. De pulchro, werden im Gleichklang die Lateiner sagen (sie verfügen wohlgemerkt lediglich über das Neutrum, ohne den Artikel). Denn selbst wenn man darauf verzichtet, aus dem Schönen eine Idee von metaphysischem Status zu machen, bleibt Folgendes nichts desto weniger unbestritten – getragen durch die Sprache; und was explizit zu machen Platon das Genie hat, wobei eine starke Parteinahme verhehlt wird: dass es ein „etwas“ gibt, durch das das Schöne schön ist, anders gesagt, dass eine Essenz des Schönen existiert, die sich als solche dem logos darbietet, auch wenn unsere Anstrengungen sie zu erlangen noch immer eitel sind. Von nun an reicht es, dass dies „unterstellt“ wird, wie Platon sagte. Gewiss, Aristoteles glaubt nicht mehr an Ideen, die vom Wahrnehmbaren getrennt sind, aber er hält es nichtsdestoweniger für erwiesen und gar für unbezweifelbar (also für etwas, über dessen Gültigkeit nachzudenken man nicht einmal in Betracht zieht), dass es eine gewisse eigene Existenz oder „Washeit“ des Schönen gibt, mit gleichem Recht wie es das Gute gibt, also auf der ersten Stufe der Essenzen: ein An-und-für-sich (kath´hauto), das nur von sich selbst bestätigt wird, das zugleich als Ursache und als Prinzip fungiert und als solches der Erkenntnis zur Verfügung steht (Metaphysik, Zeta 6).
Man kann den Begriff in der Folge, wie es etwa bei den Stoikern geschieht, noch so sehr ausspannen; man kann wohl zwischen seinen unterschiedlichen Ausformungen unterscheiden: zwischen dem kosmischen Schönen, gemacht aus Form, aus Größe, aus Ordnung, aus Vielfalt oder aus Farbe, wie es in den Schriften Ciceros zelebriert wird,1 und, auf der anderen Seite, der Schönheit des menschlichen Körpers, bei dem man die richtige Proportion oder „Symmetrie“ in den Vordergrund stellt – nichtsdestoweniger bleibt es dabei, dass von nun an die Frage des Schönen, so wie die Sphinx, unerschütterlich auf ihre Beantwortung wartet. Und dass diese in sich den Abdruck des gesamten Systems trägt: so bei den Stoikern, die, indem sie das Schöne als ein angemessenes Verhältnis zwischen den Teilen untereinander auffassen, auf diese Weise die Leitidee der Fragmentierung des Ganzen in jedem einzelnen Teil der Welt reproduzieren. Eine Auffassung, der Plotin logisch widerspricht: Unter diesen Umständen wäre das Eine, das Einfache, das Nicht-Zusammengesetzte also nicht fähig, schön zu sein? Kurz: Sag mir, wie deine Definition des Schönen lautet, und ich sage dir, welcher Philosophie du angehörst. Es folgen, über diese Klüfte hinweg, so verschiedenartige Synkretismen, dass die Kommentatoren sie gänzlich zu entwirren nicht imstande sein werden. Ausgehend immer wieder von Platon (dem Hippias maior), wird die Liste der Definitionen länger und länger. Noch mitten im 18. Jahrhundert, und zwar als Eröffnung seiner Abhandlung über das Schöne, ist sich Diderot nicht zu schade, seinerseits eine Rückblick auf sie zu halten: das Schöne als innerer Sinn und Richtung (die Engländer) oder als von Abwechslung durchkreuzte Gleichförmigkeit oder als Maximum, das allen Feinheiten der Geometrie entschlüpft oder als Angemessenheit an einen Zweck oder als… Diderot fügt, wie jedes Mal, seine Antwort mit dem Anspruch hinzu, sie alle zu umfassen: Besteht das Schöne nicht, unter diesem oder jenem Blickwinkel, notwendig (essentiell) in „Verhältnissen“?
Fragen wir uns also: Hat Europa im Fahrwasser der Frage des Schönen, und bei all der Leidenschaft, die es für sie aufwendet, Fortschritte gemacht? Die Kunst hat sich ohne Unterlass verändert, ihre Revolutionen folgen wie die Glieder einer Kette aufeinander. Aber das Schöne? Kann „das Schöne“ erfinderisch sein? Einheit – Form – Farbe – Verhältnisse – Teile/Ganzes – Schicklichkeit – Maximum – Zweckgerichtetheit und so weiter: Man kann von diesen Parametern diesen oder jenen verschieben, die Betonung auf den einen oder den anderen legen, ohne dass man darum das viereckige Feld verlassen würde, wie es Platon erstmals abgesteckt hat, klar begrenzt und endgültig. Diderot sagt es zum Einstieg noch einmal: „Alle Welt beschäftigt sich mit dem Schönen“, doch fragt man, was seine genaue Definition oder sein wahres Wesen sei, dann „geben die einen ihre Unwissenheit zu, und die anderen stürzen sich in den Skeptizismus.“2 „Das Schöne“ ist in dieser Hinsicht wohl die Art von Frage, auf die der Okzident versessen ist (so auch die „Zeit“): eine Frage, die sich von nun an dem Geiste aufdrängt, getragen von der Sprache, als „notwendig“ beurteilt doch ohne Ergebnis; und das Rätselhafte hat wieder einmal nicht lange gebraucht, in die ausgefahrene Spur einzulenken. Daher kommt der Verdacht (oder könnte es bereits das Bedauern über einen solchen Anfang sein?): Hätte man nicht, anstatt sich in diese platonische Falle hineinziehen zu lassen, vielmehr damit zufrieden sein sollen, ohne „das Schöne“ als Begriff zu setzen im Gefolge von Hippias dem Sophisten all das mit einem Fingerzeig „schön“ zu nennen, was unter den einen oder den anderen Sinn fällt, was man hört oder sieht und was einen Ausruf der Freude hervorruft? Oder war es notwendig, das „Schöne“ zu denken?
Wird denn Hegel, der wieder einmal Anspruch auf das letzte Wort erhebt, in dieser Hinsicht mehr zu sagen haben als die anderen? Kann man auf diesem Weg – dem der Definition des Schönen – Fortschritte machen? Ich würde das als das Schöne definieren, was durch sich selbst schicklich ist (quod per se ipsum deceret), hatte schon der junge Augustinus vorgebracht, dem zufolge, was er von seinem heute verlorenen Werk De pulchrum berichtet: Im Unterschied zum „Angemessenen“ (aptum), das passend ist aufgrund seiner Anpassung an etwas anderes, ist das Schöne (pulchrum) die Übereinstimmung eines Objekts mit dem, was es sein soll, oder besser mit dem, was ihm gut ansteht zu sein und was seine Vollkommenheit ausmacht.3 Und hat nun Hegel nicht gleichermaßen das Schöne gemäß derselben Forderung definiert, jenen zum Trotz, die in der Hochromantik das Schöne als undefinierbar feierten, der Forderung nach einer verdoppelten, zweistufigen Übereinstimmung, anders gesagt nach einer effektiven Übereinstimmung, innerhalb des sinnlich Wahrnehmbaren, mit dem, was in sich selbst mit sich übereinstimmt, das heißt in seinem Prinzip oder in seiner Idee? Wird man einen Ausweg aus diesen Termini finden: Das Schöne ist jene Manifestation als Phänomen, die dem Begriff adäquat ist, das heißt die im Äußeren und der Objektivität das verwirklicht, was mit dem im Inneren Enthaltenen übereinstimmt, welches wiederum selbst mit sich selbst übereinstimmt (Angemessenheit zu dem sich selbst gemäßen4). Die Verkettung, in der uns das Schöne hält, ist jene, die von der Übereinstimmung des sinnlich Wahrnehmbaren zu jener inneren Übereinstimmung führt, die der Idee eigen ist; indem er uns von den schönen Gegenständen zur Universalität des Schönen übergehen ließ, und weiter indem er damit begann, das Schöne durch die Schicklichkeit zu definieren, eröffnete Platon effektiv den Weg. Eine Furche wird damit gegraben – ist es wohl eine Erzader? – die man später lediglich verlängert hat.
Was ist es nun aber, fragt Hegel, was in dieser platonischen Abstraktion gleichwohl nicht mehr unseren modernen Bedürfnissen entspricht, was verloren gegangen ist; was Hegel selbst mit jenem Terminus bezeichnet, auf den man sich in Europa seit langer Zeit geeinigt hat, um umfassend, mit einer Geste des Nacheilens, das zu bezeichnen, was diesem platonischen „Auffliegen“ des Denkens immerzu zu entweichen droht: das „Konkrete“5? Könnte eine weitere Möglichkeit zu seiner Wiedererlangung darin bestehen, den Weg über China zu nehmen? Nicht so sehr, um auf das Schöne zu verzichten, sondern um daraus endlich einen vollen Begriff zu machen? Denn der Grund dafür, dass sich die Definition des Schönen, wie man sich ihr seit Platon gewidmet hat, am Ende im Sand verliert, ist vielleicht, dass man es nicht verstanden hat auszumachen, aus welchen theoretischen Parteinahmen eine solche „Idee“ geboren wurde; aus welchen einzigartigen Ressourcen sie geschöpft hat. Denn wer sagt, dass das Problem des Schönen sich uns aufdrängt und dass es als solches unausweichlich ist? Wer sagt, dass es universell ist? Wenn man das Nachdenken darüber fruchtbar machen will, dann wird es, so meine ich, das Beste sein, es zuerst in seiner Fremdartigkeit wiederherzustellen.
Gehen wir zu unserem Zweck von eben diesem anderswo und von eben diesem Befund aus. Nicht nur nimmt die chinesische Sprache diesen leichtfüßigen Übergang von „schön“ zu „dem Schönen“ durch einfache Beifügung des Artikels nicht vor, der das Schöne in Richtung der Universalität des Begriffs wendet (auch wenn die chinesischen Denker Abstraktionsmarker zu erarbeiten in der Lage waren, so fanden sie dafür doch nicht dieselben bequemen Voraussetzungen in der Sprache, in der Morphologie selbst, vor). Doch zugleich, oder vielmehr als gegenläufige Erscheinung – und das eine ist zweifellos vom anderen nicht zu trennen – hat sich die chinesische Sprache gehütet, einem einzigen semantischen Element den Vorzug zu geben, um das anzusprechen, was wir in Europa „schön“ nennen. Hat sie also tatsächlich in der Art „schön“ gesagt, wie es die europäische Sprache tun konnte, die diesem Terminus eine hegemoniale Rolle zugestand? Denn was die europäische Sprache mit einem monopolhaften, um nicht zu sagen ausschließlichen, Terminus bezeichnet – schön oder kalos – hat das Chinesische einer viel größeren Vielfalt von Ausdrücken und Formulierungen überlassen, die über ein ganzes Gitterwerk von Korrelationen verstreut ist. Das Netz, welches die Sprache über das wirft, was „dem Gehör und Gesichtssinn Genuss bereitet“, um die Grundformel des Hippias maior wieder aufzunehmen, ist viel feinmaschiger, und es gibt eine große Anzahl entsprechender Termini, die sich, bei gleichberechtigtem Gebrauch, klar und deutlich voneinander abgrenzen; oder aber sich so gut decken, dass man Mühe hat sie zu unterscheiden. Gelegentlich variieren sie auch mit dem Idiolekt des Autors. Das Wort mei, das wir heute mit „schön“ übersetzen und das mittlerweile als patentierte Entsprechung für unseren Begriff dient, dominiert nicht, zumindest nicht in der Tradition.
Auch die chinesischen (oder japanischen) Geschichten der Ästhetik, die ja Kopien des abendländischen Modells sind, können sich noch so sehr bemühen: was könnten sie je finden, wenn sie in ihrer eigenen Kultur zurückgehen, was jener „notwendigen“ Frage des Schönen entspräche, wie sie die Griechen eines Tages gestellt haben?6 Sie können nach Belieben demonstrieren, wie diese oder jene Denkschule seit der Antike eine ausgesprochene Sensibilität für das begünstigt hat, was wir heute – ausgehend von Europa, infolge einer Globalisierung in der Theorie – einhellig als das „Schöne“ bezeichnen, doch werden sie sich nichtsdestoweniger schwer tun zu sagen, welcher Terminus eine solche Bewusstwerdung in ihrer Sprache synthetisiert und expliziert. „Wenn wir uns nach China wenden“, sagt François Cheng, „sehen wir, dass die Gründer der zwei wichtigsten philosophischen Strömungen von Anfang an die Vorzüge der Schönheit in den Vordergrund gestellt haben.“7 Das will ich gerne zugeben – aber welcher Begriff bezeichnet denn auf Chinesisch, und bevor der Kontakt mit dem Abendland hergestellt wird, die „Schönheit“ auf jene einheitliche und allgemeine Weise, die sie als gemeinsamen Begriff durchsetzt?
Denn erwartungsgemäß ist bei den Konfuzianern nur von der Durchführung des Rituals und von musikalischem Gefühl die Rede, wobei diese einander ausgleichen; oder von „spiritueller Wanderschaft“ und innerer Beweglichkeit, befreit von Konventionen und günstig für die Verwirklichung eines authentischen Talents, wie jenes des Malers am Hofe von Song (im Zhuangzi). Ich warne deshalb vor jener modischen Substitution, die, weit davon entfernt, den berühmten Dialog der Kulturen zu begünstigen, im Gegenteil dazu tendiert ihn zu untergraben und ihn sogar, wie ich meine, ein für alle Mal unerreichbar macht. All jene, die – in China, in Japan – unmittelbar und ohne weitere Ausarbeitung auf den (europäischen) Begriff „schön“ rekurrieren, um über ihre eigene Tradition zu sprechen, sind, ohne es zu bemerken, Spielball einer Illusion, die auf kultureller Ebene dem analog ist, was in der Geschichte Anachronismus heißt. So als ob, weil in diesen Zivilisationen oder in anderen eine kulturelle Verfeinerung existiert, die in höchstem Grade einen reflektierten Genuss „des Gehörs oder des Gesichtssinns“ verkörpert, es notwendigerweise des Begriffs des Schönen bedürfe, um diese unter einen Hut zu bringen. Wenn man aber nun die Perspektive umkehrte? Vielleicht ist es ganz im Gegenteil dieser Hut des Schönen, der ein solches Spiel von Nuancen und Entsprechungen in unpassender Weise zudeckt und es gar auslöscht; der in der Folge ganz allein das Problem (des „Schönen“) entstehen lässt, indem er ihm den Anschein des Unumgänglichen verleiht, während es in Wirklichkeit ergebnislos ist, und so seinen Schatten über das Denken wirft.
Auf diese Bemerkung komme ich namentlich durch jenes seltsame Bedauern, das ich sogar bei den sinophilsten meiner Freunde vernehme. Denn keiner, der jenes älteste Buch Chinas in Händen gehalten hat, das Buch der Wandlungen (Yijing), dessen Text sich in aufeinanderfolgenden Schichten über den gesamten Verlauf des Altertums entwickelt hat, versäumt es festzustellen, dass nicht eine einzige der vierundsechzig Figuren dieses Buches, die auf die unterschiedlichsten Situationen verweisen, explizit das Schöne behandelt; und oft zeigen sie sich davon enttäuscht. Nur bei Figur XXII (Bi), die weit davon entfernt ist, eine der bemerkenswertesten zu sein, ist von Zierde oder Verschönerung die Rede: das chinesische Schriftzeichen, von dem sie ihren Namen hat, bildet in seinem unteren Teil eine Kauri ab, eine Muschel, die früher als Währung diente und auf Wertvolles hindeutet; und in seinem oberen Teil, verdreifacht, das Graphem für alles Pflanzliche, wodurch das Hervorsprießen und die Blüte im Frühling evoziert werden. Die Figur in ihrer Gesamtheit, so stellt man fest, bringt eine Bewegung der Veräußerlichung zum Ausdruck und lässt zugleich das Kostbare anklingen, ohne jedoch die Idee eines rein perzeptiven, visuell-auditiven Genusses zu entwickeln, der als solcher für vollwertig genommen würde.
Shi keMomentyinyangyangwen