Über dieses Buch

»Katherine Mansfields Frauen leben in der Spannung zwischen ihrer traditionellen Rolle und dem Traum eines anderen Lebens.«
  Ursula Grawe

Die Frauen in Katherine Mansfields Erzählungen sehnen sich nach Wahrhaftigkeit und Intensität, nach ihrem ganz eigenen Leben. Nicht immer können sie das erreichen, aber ihr Wille und ihre Kompromisslosigkeit machen Mut.

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

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Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Sie hatte schreckliche Mühe, rechtzeitig fertigzuwerden. Nach dem Abendessen steckte Frau Brechenmacher vier ihrer fünf Kinder ins Bett und erlaubte nur Rosa aufzubleiben und zu helfen, die Knöpfe an Herrn Brechenmachers Uniform zu putzen. Dann fuhr sie mit einem heißen Eisen über sein bestes Hemd, putzte seine Stiefel und besserte hier und da etwas an seiner schwarzen Seidenkrawatte aus.

»Rosa«, sagte sie, »hol mir mein Kleid und häng’s vor den Ofen, damit sich’s glatthängt. Und vergiss nicht – pass mir ja auf die Geschwister auf und bleib nicht später auf als bis halb neun und lang mir nicht die Lampe an – du weißt, was sonst passiert.«

»Ja, Mamma«, sagte Rosa, die neun war und sich alt genug fühlte, um mit tausend Lampen fertigzuwerden. »Aber lass mich aufbleiben – der Bub möcht aufwachen und Milch wollen.«

»Halb neun!«, sagte die Frau. »Der Vater wird’s dir auch noch mal sagen.«

Rosa ließ die Mundwinkel hängen.

»Aber … aber …«

»Hier kommt der Vater. Du geh ins Schlafzimmer und hol mir mein blaues Seidenhalstuch. Du kannst mein schwarzes Tuch tragen, wenn ich weg bin – da!«

Rosa zog ihrer Mutter das Tuch von den Schultern, legte es sich sorgfältig um und knotete die beiden Enden auf dem Rücken zusammen. Wenn sie schon um halb neun ins Bett musste, würde sie jedenfalls das Tuch umbehalten. Ein Entschluss, der sie mit ihrem Schicksal versöhnte.

»Also, wo sind meine Kleider?«, rief Herr

»Hier sind sie – alles fertig für dich auf dem Tisch und warmes Wasser in der Zinkwanne. Tauch den Kopf rein. Rosa, gib deinem Vater das Handtuch. Alles fertig, bis auf die Hosen. Ich hab keine Zeit gehabt, sie kürzer zu machen. Du musst sie in die Stiefel stecken, bis wir da sind.«

»Na«, sagte Herr Brechenmacher, »man kann sich hier drinnen ja nicht rühren. Ich brauch das Licht. Geh und zieh dich im Gang an.«

Sich im Dunkeln anzuziehen, war für Frau Brechenmacher nichts Neues. Sie hakte Rock und Mieder zu, steckte das Halstuch mit einer hübschen Brosche fest, an der vier Medaillen für die Mutter Gottes hingen, und legte den Lodenumhang mit der Kapuze um.

»Komm her und mach mir die Schnalle zu«, rief Herr Brechenmacher. Er stand in der Küche und blähte sich auf, und die Knöpfe an seiner blauen Uniform blitzten mit einer Begeisterung, wie sie nur Beamtenknöpfe aufbringen können. »Wie schau ich aus?«

»Fesch«, erwiderte die kleine Frau, zerrte an der Gürtelschnalle und zog hier ein bisschen, zupfte dort noch ein wenig an ihm herum. »Rosa, komm und schau deinen Vater an.«

Herr Brechenmacher stolzierte in der Küche auf und ab, ließ sich in den Mantel helfen und wartete, bis seine Frau die Laterne angezündet hatte.

»Die Lampe, Rosa«, warnte die Frau und schlug die Haustür hinter sich zu.

Den ganzen Tag über war kein Schnee gefallen; der gefrorene Boden war glatt wie eine Eisfläche. Sie war seit Wochen nicht aus dem Haus gekommen, und der Tag hatte sie so mitgenommen, dass ihr ganz schwindlig und dumpf im Kopf war – als habe Rosa sie aus dem Haus gestoßen und ihr Mann laufe ihr davon.

»Warte, warte doch!«, rief sie.

»Nein, ich krieg nasse Füße – schick dich lieber.«

Es ging leichter, als sie ins Dorf kamen. Man konnte sich an den Zäunen entlanghangeln, und vom Bahnhof zum Gasthaus war ein schmaler Schlackenpfad gestreut, wegen der Hochzeitsgäste. Das Gasthaus sah sehr festlich aus. Aus allen Fenstern schien Licht, von den Fensterbänken hingen Kränze aus Tannengrün. Die Eingangstüren, die aufgerissen wurden, waren mit Zweigen geschmückt, und im Vestibül bewies der Wirt seine Überlegenheit, indem er die Kellnerinnen, die unermüdlich mit Biergläsern, Tabletts voller Tassen und Untertassen und Weinflaschen hin und her liefen, anschnauzte.

»Die Treppe rauf – die Treppe rauf!«, rief der Wirt dröhnend. »Lassts die Mäntel im Treppenhaus.«

Herr Brechenmacher war so völlig eingeschüchtert durch dieses großartige Gehabe, dass er seine Rechte als Ehemann ganz vergaß und sich bei seiner Frau dafür entschuldigte, sie bei dem Versuch, sich den Vortritt vor allen zu erkämpfen, gegen das Geländer geschubst zu haben.

Herr Brechenmacher wurde von seinen Kollegen mit lautem Hallo begrüßt, als er durch die Tür in den Festsaal

Am Kopfende des Mitteltisches saßen Braut und Bräutigam, sie in einem weißen, mit Streifen und Schleifchen aus farbiger Litze besetzten Kleid, in dem sie wie eine Torte aussah, die man nur anzuschneiden und in mundgerechten, kleinen Häppchen dem Bräutigam zu servieren brauchte, der einen viel zu großen, weißen Anzug trug und einen verrutschten weißen Seidenschlips. Zu beiden Seiten saßen, mit feinem Gespür nach Rang und Würde gruppiert, Eltern und Verwandte; und auf einem Hocker zur Rechten der Braut ein kleines Mädchen in zerknittertem Musselinkleidchen, dem ein Kränzchen aus Vergissmeinnicht schief überm Ohr hing. Alle lachten und redeten, schüttelten sich die Hände, prosteten sich zu, stampften mit den Füßen – ein durchdringender Geruch von Bier und Schweiß erfüllte die Luft.

Frau Brechenmacher folgte ihrem Mann ans untere Ende des Saals, nachdem sie die Brautleute begrüßt hatten; sie wusste, sie würde sich amüsieren. Sie blühte regelrecht auf und bekam eine warme, rosige Farbe, als sie den vertrauten Festgeruch einatmete. Jemand zupfte sie am Rock, und als sie hinuntersah, saß da Frau Rupp, die Metzgersfrau, zog

»Der Fritz holt Ihnen ein Bier«, sagte sie. »Sie, Ihr Rock steht hinten offen. Wir haben so gelacht, wie Sie durch den Saal gegangen sind und das weiße Bändel von Ihrem Unterrock rausgehängt ist!«

»Ach, das ist ja furchtbar!«, sagte Frau Brechenmacher, sank auf ihren Stuhl und biss sich auf die Lippen.

»Na, nun ist’s egal«, sagte Frau Rupp, streckte die fetten Hände über den Tisch und betrachtete mit ausgesprochener Genugtuung ihre drei Trauerringe, »obwohl man vorsichtig sein muss, besonders auf einer Hochzeit.«

»Und erst auf so einer!«, rief Frau Ledermann, die an der anderen Seite von Frau Brechenmacher saß. »Dass die Theresa das Kind mitbringt! Schließlich ist es das ihrige, wissen Sie, und soll in Zukunft bei ihnen wohnen. Ein uneheliches Kind auf der Hochzeit von der eigenen Mutter – wenn das keine Sünde gegen die Kirche ist!«

Die drei Frauen saßen da und starrten auf die Braut, die ganz stillhielt, ein kleines, abwesendes Lächeln um den Mund; nur ihre Augen irrten unruhig hin und her.

»Bier haben sie dem Kind auch noch gegeben«, flüsterte Frau Rupp, »und Weißwein und Eis. Dabei hat es einen schwachen Magen; sie hätte es daheimlassen sollen.«

Frau Brechenmacher drehte sich nach der Brautmutter um. Die ließ ihre Tochter nicht aus den Augen, hatte die gebräunte Stirn wie ein alter Affe gerunzelt und nickte von Zeit zu Zeit feierlich mit dem Kopf. Ihre Hände zitterten, als sie den Bierkrug hob; und als sie getrunken hatte, spuckte sie auf den Boden und fuhr sich brutal mit dem Ärmel über den Mund. Dann setzte die Musik ein, und sie folgte

»Immer lustig, Alte«, rief ihr Mann und stieß sie in die Rippen, »wir sind nicht auf Theresas Beerdigung.« Er zwinkerte den Gästen zu, die in lautes Gelächter ausbrachen.

»Ich bin doch lustig«, brummte die alte Frau und schlug im Takt zur Musik mit der Faust auf den Tisch, um zu beweisen, dass sie in Festtagsstimmung war.

»Sie kann nicht vergessen, wie wild es die Theresa getrieben hat«, sagte Frau Ledermann. »Wer könnte das auch – mit dem Kind da? Ich hab gehört, die Theresa ist am letzten Sonntag hysterisch geworden und hat gesagt, sie wird den Mann nicht heiraten. Sie haben den Pfarrer holen müssen.«

»Wo ist denn der andere?«, fragte Frau Brechenmacher. »Warum hat der sie nicht geheiratet?«

Die Frau zuckte die Achseln.

»Weg – verschwunden. Er war Handlungsreisender und hat nur zwei Nächte bei ihnen gewohnt. Er hat Hemdenknöpfe verkauft – ich hab ihm selbst welche abgekauft, und es sind wunderschöne Hemdenknöpfe gewesen – aber was für ein Saukerl! Ich weiß gar nicht, was er an so einem einfachen Mädel gefunden hat – aber stille Wasser sind tief. Ihre Mutter sagt, seit sie sechzehn war, ist sie außer Rand und Band.«

Frau Brechenmacher blickte in ihren Bierkrug und blies ein kleines Loch in den Schaum.

»So darf eine Hochzeit nicht sein«, sagte sie; »es ist nicht christlich, zwei Männer zu lieben.«

»Mit dem da wird sie auch noch was erleben«, rief Frau Rupp. »Er hat letzten Sommer bei mir logiert, und ich hab

Frau Brechenmacher sah ihren Mann unter seinen Kollegen am Nebentisch sitzen. Sie wusste, er trank viel zu viel – er fuchtelte wild mit den Armen und versprühte Speichel beim Sprechen.

»Ja«, pflichtete sie bei, »das stimmt. Mädel müssen viel lernen.«

Eingeklemmt zwischen diesen beiden dicken, alten Frauen, hatte sie wenig Aussicht, zum Tanzen aufgefordert zu werden. Sie sah zu, wie sich die Paare im Kreis drehten, vergaß ihre fünf kleinen Kinder und ihren Mann und kam sich beinahe wieder wie ein junges Mädchen vor. Die Musik klang so traurig und süß. Krampfhaft öffnete und schloss sie die abgearbeiteten Hände im Schoß. Solange die Musik spielte, scheute sie sich, jemandem ins Gesicht zu sehen, und lächelte mit einem kleinen, nervösen Zucken um den Mund.

»Heilige Mutter Gottes«, rief Frau Rupp, »jetzt haben sie dem Kind von der Theresa auch noch ein Stück Wurst gegeben. Damit es Ruhe gibt. Jetzt kommt nämlich die Geschenküberreichung – Ihr Mann muss eine Rede halten.«

Frau Brechenmacher richtete sich kerzengerade auf. Die Musik brach ab, und die Tänzer nahmen wieder an den Tischen Platz.

Nur Herr Brechenmacher blieb stehen – eine große silberne Kaffeekanne in den Händen. Alles lachte über seine Rede, außer seiner Frau; alles johlte über seine Grimassen

Die Braut hob den Deckel, warf einen Blick hinein, schloss ihn dann mit einem kleinen Aufschrei, saß da und biss sich auf die Lippen. Der Bräutigam riss ihr die Kanne aus der Hand und zog eine Kinderflasche und zwei kleine Wiegen mit chinesischen Püppchen daraus hervor. Als er diese Schätze vor Theresas Nase baumeln ließ, bog sich der ganze erhitzte Saal vor Lachen.

Frau Brechenmacher fand daran gar nichts komisch. Sie starrte in die lachenden Gesichter um sich herum, und sie kamen ihr plötzlich alle ganz fremd vor. Sie wollte heim und das Haus nie wieder verlassen. Sie bildete sich ein, die Leute lachten alle über sie, mehr Leute sogar, als im Saal waren – alle lachten über sie, weil sie so viel stärker waren als sie.

 

Schweigend gingen sie heim. Herr Brechenmacher marschierte voran, sie stolperte hinterher. Weiß und verlassen lag die Straße vom Bahnhof zu ihrem Haus – ein kalter Windstoß blies ihr die Kapuze vom Kopf, und plötzlich fiel ihr ein, wie sie die erste Nacht gemeinsam nach Haus gekommen waren. Jetzt hatten sie fünf Kinder und doppelt so viel Geld; aber –

»Und was soll das alles?«, murmelte sie vor sich hin, und erst als sie zu Haus war und ihrem Mann einen kleinen Imbiss aus Fleisch und Brot zubereitet hatte, hörte sie auf, sich diese sinnlose Frage zu stellen.

Herr Brechenmacher brockte das Brot klein in den Teller, fuhr mit der Gabel darin herum und kaute gierig.

»Schmeckt’s?«, fragte sie, lehnte die Arme auf den Tisch und bettete ihre Brüste hinein.

Er spießte einen Brocken auf die Gabel, wischte damit um den Tellerrand und hielt ihn ihr vor den Mund. Sie schüttelte den Kopf.

»Hab kein Hunger«, sagte sie.

»Aber das ist der beste Bissen, und ganz voll Fett.«

Er leerte den ganzen Teller; dann zog er seine Stiefel aus und schleuderte sie in die Ecke.

»Ziemlich mies – diese Hochzeit«, sagte er, streckte die Füße von sich und wackelte mit den Zehen in den gestrickten Socken.

»Jaaah«, antwortete sie, hob die abgelegten Stiefel auf und stellte sie zum Trocknen auf den Ofen.

Herr Brechenmacher gähnte, streckte sich und sah sie dann grinsend von unten an.

»Erinnerst du dich an die Nacht, wo wir heimgekommen sind? Du warst wie frisch vom Land.«

»Ach, geh! Das hab ich schon lang vergessen.« Und ob sie sich erinnerte!

»Du hast mir eine saftige Watschen gegeben … Aber ich hab’s dir bald gezeigt.«

»Hör mal auf. Du hast zu viel getrunken. Komm ins Bett.«

Er ließ den Stuhl nach hinten wippen und schüttelte sich vor Lachen.

»Das hast du an dem Abend nicht zu mir gesagt. Jessas Maria, hast du dich angestellt!«

Aber die kleine Frau nahm die Kerze und ging ins Nebenzimmer. Die Kinder schliefen fest. Sie hob das Bettzeug an, um zu sehen, ob das Baby noch trocken war, dann begann sie, Bluse und Rock aufzuknöpfen.

Dann verblasste sogar die Erinnerung an die Hochzeit. Und als Herr Brechenmacher ins Zimmer getorkelt kam, lag sie auf dem Bett, einen Arm quer übers Gesicht gelegt, wie ein Kind, das erwartet, dass man ihm wehtut.

1911

Plötzlich – schreckhaft – wacht sie auf. Was ist geschehen? Etwas Schreckliches ist geschehen. Nein – nichts ist geschehen. Es ist nur der Wind, der das Haus schüttelt, an den Fenstern rüttelt, ein Stück Eisen gegen das Dach schlägt und ihr Bett erzittern lässt. Blätter flattern am Fenster vorbei, auf und davon; am Ende der Allee schwirrt eine ganze Zeitung wie ein verirrter Drachen durch die Luft, fällt und spießt sich auf einer Kiefer auf. Es ist kalt. Der Sommer ist vorbei – es ist Herbst – alles ist hässlich. Karren rattern, von einer Seite zur andern schwankend, vorbei; zwei Chinesen wanken dahin unter der Last ihrer hölzernen Joche, an denen Gemüsekörbe hängen – ihre Zöpfe und blauen Kittel flattern im Wind. Ein weißer Hund auf drei Beinen läuft kläffend am Tor vorbei. Es ist alles aus! Was? Ach, alles! Und mit zitternden Fingern beginnt sie, ihr Haar zu flechten und wagt nicht, in den Spiegel zu sehen. Mutter redet mit Großmutter in der Vorhalle.

»So ein Trottel! Stell dir vor, bei diesem Wetter etwas auf der Leine hängen zu lassen … Mein bestes kleines Spitzendeckchen regelrecht zerfetzt … Was ist denn das für ein Geruch? Der Haferbrei brennt an. Ach, Himmel – dieser Wind!

Sie hat um zehn Uhr Klavierstunde. Beim Gedanken daran beginnt der Mollsatz der Beethoven-Sonate in ihrem Kopf zu erklingen, die Triller lang und beängstigend wie kleine Trommelwirbel … Marie Swainson von nebenan läuft in den Garten, um die Astern zu pflücken, ehe sie ruiniert sind. Ihr Rock fliegt in die Höhe; sie versucht, ihn herunterzuschlagen, ihn zwischen die Beine zu klemmen,

»Zum Donnerwetter, lass doch die Haustür zu! Geh hintenrum!«, ruft jemand. Und dann hört sie Bogey:

»Mutter, du wirst am Telefon verlangt. Telefon, Mutter. Der Schlachter.«

Wie abscheulich das Leben ist – abstoßend, einfach abstoßend … Und jetzt ist auch noch das Hutband gerissen. Das musste ja kommen. Sie wird einfach die alte Schottenmütze aufsetzen und sich zur Hintertür hinausstehlen. Aber Mutter hat sie gesehen.

»Matilda. Matilda. Komm soofort zurück! Was hast du denn da bloß auf dem Kopf? Das sieht ja aus wie eine Kaffeemütze. Und warum hängt dir diese Mähne ins Gesicht?«

»Ich kann nicht zurückkommen, Mutter. Ich komme zu spät zur Klavierstunde.«

»Komm sofort zurück!«

Nein und noch mal nein. Sie hasst Mutter. »Geh zum Teufel«, ruft sie und läuft die Straße entlang.

In Wellen, in Wolken, in großen kreisenden Wirbeln kommt der Staub beißend dahergefegt und treibt winzige Teilchen von Stroh und Spreu und Mist mit sich. Aus den Bäumen in den Gärten dringt ein gewaltiges Brausen, und vor Mr. Bullens Tor am Ende der Straße kann sie das Meer ächzen hören: »Ah! Ah! … Aaah!« Aber in Mr. Bullens Wohnzimmer ist es still wie in einer Höhle. Die Fenster sind geschlossen, die Rollos halb heruntergezogen und sie

»Setz dich«, sagt er. »Setz dich dort drüben in die Sofaecke, mein kleines Fräulein.«

Wie komisch er ist. Er lacht einen nicht direkt aus … aber er hat so etwas … Ach, wie friedlich es hier drin ist. Das Zimmer gefällt ihr. Es riecht nach Kunstseide und abgestandenem Rauch und Astern … eine große Vase voll steht auf dem Kaminsims hinter der verblassten Fotografie von Rubinstein … à mon ami Robert Bullen … Über dem schwarzen, glänzenden Klavier hängt »Die Einsamkeit« – eine düstere, tragische Frauengestalt ganz in Weiß, die mit übergeschlagenen Beinen auf einem Felsen sitzt, das Kinn in die Hand gestützt.

»Nein, nein!«, sagt Mr. Bullen, und er beugt sich über das Mädchen, langt mit den Armen über ihre Schultern und spielt ihr die Passage vor. Die dumme Gans – sie wird rot! Wie albern!

Jetzt ist das Mädchen »vor ihr« fort; die Haustür schlägt zu. Mr. Bullen kommt zurück, geht ganz leise auf und ab und wartet auf sie. Wie ungewöhnlich ihr das vorkommt! Ihre Finger zittern so, dass sie die Knoten ihrer Notenmappe nicht aufbekommt. Das macht der Wind … Und ihr Herz schlägt so heftig, sie hat das Gefühl, ihre Bluse müsse sich heben und senken. Mr. Bullen sagt kein Wort. Der schäbige, rote Klavierhocker ist breit genug, dass zwei Leute nebeneinander darauf sitzen können. Mr. Bullen setzt sich neben sie.

»Soll ich mit den Tonleitern anfangen?«, fragt sie und

Aber er antwortet nicht. Er hat sie womöglich gar nicht gehört … und dann langt er plötzlich mit seiner frischen, beringten Hand an ihr vorbei und schlägt Beethoven auf.

»Sehen wir uns doch mal den alten Meister an«, sagt er.

Aber warum ist seine Stimme so freundlich – so schrecklich freundlich –, als kennten sie sich seit vielen Jahren und wüssten alles voneinander.

Langsam blättert er die Seite um. Sie beobachtet seine Hand – es ist eine sehr schöne Hand, die immer frisch gewaschen aussieht.

»Hier«, sagt Mr. Bullen.

Ach, diese gütige Stimme – ach, dieser Mollsatz. Hier kommen die kleinen Trommeln …

»Soll ich die Wiederholung spielen?«

»Ja, mein liebes Kind.«

Seine Stimme ist viel, viel zu gütig. Die Viertel und Achtel tanzen auf den Notenlinien auf und ab wie kleine Negerjungen auf einem Zaun. Warum ist er so … Sie will nicht weinen – sie hat überhaupt keinen Grund zu weinen …

»Was ist denn, mein liebes Kind?«

Mr. Bullen nimmt ihre Hände. Seine Schulter ist da – gleich neben ihrem Kopf. Sie lehnt sich ganz leicht dagegen, die Wange an seinem rauen Tweed.

»Das Leben ist so schrecklich«, murmelt sie, aber sie findet gar nicht, dass es schrecklich ist. Er sagt etwas von »Warten« und »Geduld haben« und »die Frau, das seltsame Wesen«, aber sie hört gar nicht zu. Es ist so anheimelnd … für immer …

»Spiel das Allegretto etwas schneller«, sagt Mr. Bullen, steht auf und beginnt, wieder auf und ab zu wandern.

»Setz dich in die Sofaecke, mein kleines Fräulein«, sagt er zu Marie.

 

Der Wind, der Wind. Sie bekommt Angst so ganz allein in ihrem Zimmer. Das Bett, der Spiegel, der weiße Krug und die Waschschüssel leuchten wie der Himmel draußen. Das Bett ist so beängstigend. Da liegt es, in festem Schlaf … Mutter bildet sich doch nicht etwa ein, dass sie all die Strümpfe stopft, die verknotet wie ein Knäuel Schlangen auf ihrer Steppdecke liegen. Daraus wird nichts. Nein, Mutter, ich sehe wirklich nicht ein, warum ich … Der Wind – der Wind! Ein komischer Rußgeruch kommt aus dem Kamin. Hat denn noch niemand Gedichte an den Wind geschrieben? … »Ich bring neue Frische in Bäume und Büsche.« … Was für ein Unsinn.

»Bist du’s, Bogey?«

»Komm, wir machen einen Spaziergang an die Esplanade, Matilda. Ich halte es einfach nicht mehr aus.«

»Gute Idee. Ich ziehe nur meinen Mantel über. Was für ein furchtbarer Tag!« Bogey trägt den gleichen Mantel wie sie. Als sie den Kragen zuknöpft, blickt sie in den Spiegel. Ihr Gesicht ist bleich, sie haben die gleichen unruhigen Augen und heißen Lippen. Ah, sie kennen die beiden im Spiegel. Adieu, ihr beiden; wir sind gleich wieder da.

»Endlich kann man aufatmen!«

»Hak dich ein«, sagt Bogey.

Sie können gar nicht schnell genug gehen. Die Köpfe

»Los! Los! Lass uns näher rangehen.«

Drüben an der Mole geht die See sehr hoch. Sie nehmen die Mützen ab, und das Haar weht ihr über den Mund und schmeckt nach Salz. Die Flut ist so hoch, dass sich die Wellen gar nicht brechen; sie klatschen gegen die raue Steinmauer und saugen die algenbewachsenen, tropfenden Stufen ein. Ein feiner Sprühregen vom Wasser fegt über die Esplanade. Sie sind über und über mit Tropfen bedeckt; ihr Mund schmeckt innen ganz nass und kalt.

Bogey ist im Stimmbruch. Wenn er spricht, jagt er die Tonleiter hinauf und hinunter. Es klingt komisch – man muss darüber lachen – aber irgendwie passt es zu diesem Wetter. Der Wind trägt ihre Stimmen – und die Sätze fliegen wie kleine, dünne Papierschlangen auf und davon.

»Schneller! Schneller!«

Es wird ganz dunkel. Die Kohlenschuten im Hafen haben zwei Lichter – eins oben am Mast und eins am Heck.

»Sieh mal, Bogey. Da drüben.«

Ein riesiger, schwarzer Dampfer mit lang gezogener Rauchfahne, mit erleuchteten Bullaugen, mit Lichtern überall nimmt Kurs aufs Meer. Der Wind hindert ihn nicht; er durchschneidet die Wellen und steuert auf die Ausfahrt zwischen zwei spitzen Felsen zu, in Richtung … Es ist das

»… Wer sind die beiden?«

»… Bruder und Schwester.«

»Sieh mal, Bogey, die Stadt. Wie klein sie aussieht! Da schlägt die Uhr an der Post zum letzten Mal. Da ist die Esplanade, wo wir an dem windigen Tag spazieren gegangen sind. Erinnerst du dich? An dem Tag habe ich in meiner Klavierstunde geweint – wie lange das her ist! Adieu, kleine Insel, adieu …«

Jetzt breitet die Dunkelheit ihre Flügel über das unruhige Wasser. Sie können die beiden nicht mehr erkennen. Adieu, adieu. Vergesst uns nicht … Aber das Schiff ist verschwunden.

Der Wind – der Wind.

1915