Cover

Die Menschheit hat die Himmelskörper unseres Sonnensystems besiedelt. Doch der Friede bröckelt, denn die Kolonien begehren gegen die Vorherrschaft der Erde auf, und auf dem Jupitermond Ganymed haben die Kämpfe schon begonnen. Das Schicksal der Menschheit steht auf Messers Schneide …

Das Sonnensystem ist in Aufruhr. Auf Ganymed muss eine Elitesoldatin mit ansehen, wie ihre Truppe von einem monströsen, übermenschlichen Superkrieger vernichtet wird. Auf der Erde kämpft eine hochrangige Politikerin mit aller Macht gegen den heraufziehenden interplanetarischen Krieg an. Und auf der Venus breitet sich ein fremdartiges Protomolekül aus, das an dem Planeten ungeahnte Veränderungen bewirkt und sich nun auf die anderen Himmelskörper des Sonnensystems zu verbreiten droht. Woher kommt es, und was bedeutet das für die Menschheit? Währenddessen begibt sich Kapitän James Holden auf eine neue Mission. Von den leeren Weiten des äußeren Sonnensystems bringt er einen Wissenschaftler auf den Jupitermond Ganymed, der dort nach einem vermissten Kind suchen will – doch dass das Schicksal dieses Kindes mit der Zukunft des Sonnensystem und der Menschheit zusammenhängt, begreift Holden erst, als es schon fast zu spät ist. Ein atemberaubender Wettlauft gegen die Zeit beginnt.

Mit seiner international erfolgreichen Space Opera sprengt James Corey alle Maßstäbe der Science Fiction:

Erster Roman: Leviathan erwacht

Zweiter Roman: Calibans Krieg

Dritter Roman: Abaddons Tor

@HeyneFantasySF

www.heyne-magische-bestseller.de

JAMES COREY

CALIBANS
KRIEG

Roman

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

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Titel der englischen Originalausgabe
CALIBAN’S WAR
Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski

Deutsche Erstausgabe 05/2013
Redaktion: Ralf Dürr
Copyright © 2012 by James S. A. Corey
Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: animagic
Umschlagmotiv: © Daniel Dociu
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-09597-0
V006

Für Bester und Clarke,
die uns hierhergeführt haben

PROLOG Mei

»Mei?«, sagte Miss Carrie. »Räum doch bitte die Malsachen weg. Deine Mutter ist hier.«

Sie brauchte mehrere Sekunden, um zu erfassen, was die Lehrerin von ihr verlangte. Es lag nicht daran, dass Mei die Worte nicht verstand, denn sie war vier Jahre alt und kein Kleinkind mehr. Allerdings passten die Worte nicht zu der Welt, die sie kannte. Ihre Mutter konnte nicht kommen und sie abholen. Mommy hatte Ganymed verlassen und lebte auf der Ceres-Station, weil sie – wie Daddy es ausdrückte – ein bisschen Mommy-für-sich-allein-Zeit brauchte. Dann raste ihr Herz, und Mei dachte: Sie ist wieder da.

»Mommy?«

Mei saß vor der Kinderstaffelei, und zusätzlich blockierte Miss Carries Knie den Blick auf die Tür zum Vorraum. Ihre Hände waren von den roten, blauen und grünen Fingerfarben klebrig und gründlich verschmiert. Sie beugte sich vor und langte nach Miss Carries Bein, um es wegzuschieben und sich zugleich hochzuziehen.

»Mei!«, rief Miss Carrie.

Mei betrachtete die Farbe, die sie auf Miss Carries Hosen hinterlassen hatte, und erkannte die unterdrückte Wut in dem breiten, dunklen Gesicht der Frau.

»Entschuldigung, Miss Carrie.«

»Schon gut«, antwortete die Lehrerin mit einer gepressten Stimme, die Mei verriet, dass sie nicht bestraft werden würde, obwohl es überhaupt nicht gut war. »Wasch dir bitte die Hände, und dann kommst du wieder her und räumst deine Malsachen auf. Ich nehme inzwischen das Bild herunter, damit du es deiner Mutter geben kannst. Ist das ein Hündchen?«

»Das ist ein Weltraummonster.«

»Das ist aber ein sehr schönes Weltraummonster. Jetzt geh, und wasch dir die Hände, meine Liebe.«

Mei nickte, drehte sich um und rannte zur Toilette. Der Kittel flatterte hinter ihr wie ein Lappen, der sich in einem Luftschacht verfangen hatte.

»Und fass nicht die Wand an!«

»Entschuldigung, Miss Carrie.«

»Schon gut. Aber putz das ab, wenn du dir die Hände gewaschen hast.«

Das kleine Mädchen drehte das Wasser voll auf und spülte die Farbe in Kringeln ins Waschbecken. Dann tat sie so, als trocknete sie sich die Hände ab, ohne darauf zu achten, dass die Tropfen in alle Richtungen flogen. Es fühlte sich an, als hätte sich die Schwerkraft verändert und zöge sie zur Tür und zum Vorraum statt nach unten. Angesteckt durch ihre Aufregung, sahen die anderen Kinder zu, wie Mei die Fingerabdrücke mehr oder weniger ordentlich von der Wand abwischte, die Farbtiegel in die Schachtel schob und die Schachtel ins Regal stellte. Dann zog sie sich den Kittel über den Kopf, statt Miss Carrie um Hilfe zu bitten, und stopfte ihn in den Recycler.

Im Vorraum wartete Miss Carrie mit zwei weiteren Erwachsenen, aber ihre Mommy war nicht dabei. Es war eine Frau, die Mei nicht kannte. Sie hatte das Bild mit dem Weltraummonster in der Hand und lächelte höflich. Der andere war Doktor Strickland.

»Nein, sie geht immer brav zur Toilette«, erklärte Miss Carrie gerade. »Natürlich gibt es hin und wieder kleine Unfälle.«

»Natürlich«, sagte die Frau.

»Mei!« Doktor Strickland beugte sich zu ihr herunter, bis er kaum noch größer war als sie. »Was macht denn mein kleiner Liebling?«

»Wo ist meine …«, setzte sie an, aber bevor sie »Mommy« sagen konnte, hob Doktor Strickland sie hoch und nahm sie auf die Arme. Er war größer als Daddy und roch nach Salz. Er kippte sie rückwärts, kitzelte sie an den Seiten, und sie lachte schallend, bis sie nicht mehr sprechen konnte.

»Danke«, sagte die Frau.

»Es war mir ein Vergnügen.« Miss Carrie gab der Frau die Hand. »Wir haben Mei wirklich gern hier bei uns im Unterricht.«

Doktor Strickland kitzelte Mei, bis die Tür des Montessori-Hauses hinter ihnen zufiel. Dann erst kam Mei zu Atem.

»Wo ist meine Mommy?«

»Sie wartet auf uns«, erklärte Doktor Strickland. »Wir bringen dich jetzt zu ihr.«

Die neueren Gänge Ganymeds waren breit und üppig bewachsen, sodass die Luftaufbereiter nur selten laufen mussten. Die zierlichen Wedel der Arecapalmen sprossen in Dutzenden hydroponischen Pflanztöpfen. An den Wänden rankten Efeututen mit ihren breiten, gelbgrün gestreiften Blättern. Die dunkelgrünen primitiven Blätter der Sansevierien wuchsen ganz unten. Vollspektrum-LED-Leuchten strahlten weißgoldenes Licht ab. Daddy hatte ihr gesagt, so sehe das Sonnenlicht auf der Erde aus. Mei stellte sich den Planeten als riesiges, kompliziertes Gebilde aus Pflanzen und Gängen vor, über denen die Sonne als strahlende Linie an der hellblauen Himmelsdecke befestigt war und wo man über die Mauern klettern und wer weiß wo herauskommen konnte.

Mei lehnte den Kopf an Doktor Stricklands Schulter, spähte über seinen Rücken und nannte die Namen aller Pflanzen, an denen sie vorbeikamen. Sanseviera trifasciata, Epipremnum aureum. Daddy musste immer grinsen, wenn sie die Namen richtig aufsagte. Als sie es für sich allein tat, wurde sie sofort ruhiger.

»Gibt es noch mehr?«, fragte die Frau. Sie war hübsch, aber Mei mochte ihre Stimme nicht.

»Nein«, antwortete Doktor Strickland. »Mei hier ist die Letzte.«

»Chysalidocarpus lutescens«, sagte Mei.

»Gut«, antwortete die Frau, und dann, gleich noch einmal und etwas leiser: »Schon gut.«

Je weiter sie sich der Oberfläche näherten, desto enger wurden die Korridore. Die älteren Gänge wirkten immer schmutzig, obwohl man dort eigentlich überhaupt keinen Schmutz entdecken konnte. Sie waren wohl einfach abgenutzt. Meis Großeltern hatten nach ihrer Ankunft auf Ganymed in den Wohnvierteln und Laboratorien in der Nähe der Oberfläche gelebt und gearbeitet. Damals hatten die Leute noch nicht sehr tief gegraben. Die Luft hier oben roch komisch, und die Luftaufbereiter summten und brummten und mussten ständig laufen.

Die Erwachsenen redeten nicht viel, aber ab und zu erinnerte Doktor Strickland sich an Mei und stellte ihr Fragen: Was war ihre Lieblingsfigur in den Zeichentrickfilmen, die sie in den Feeds der Station sehen konnte? Wer war in der Schule ihre beste Freundin? Was hatte sie zu Mittag gegessen? Mei rechnete damit, dass er auch die nächsten Fragen stellen würde, die eigentlich immer kamen. Die Antworten hatte sie schon parat.

Spürst du ein Kratzen im Hals? Nein.

Bist du verschwitzt aufgewacht? Nein.

War in dieser Woche Blut in deinem Aa? Nein.

Hast du zweimal am Tag deine Medizin genommen? Ja.

Dieses Mal verzichtete Doktor Strickland jedoch darauf. Die Flure, durch die sie gingen, wurden immer älter und schmaler, bis die Frau hinter ihnen laufen musste, damit die Männer, die ihnen entgegenkamen, genug Platz hatten. Die Frau hatte Meis Bild mitgenommen. Sie hatte es zu einer Röhre zusammengerollt, damit das Papier keine Falten bekam.

Vor einer Tür, die kein Schild trug, blieb Doktor Strickland stehen und schob Mei auf die andere Hüfte hinüber, um das Handterminal aus der Hosentasche zu ziehen. Er tippte etwas in ein Programm ein, das Mei noch nie gesehen hatte, und dann öffnete sich die Tür. Die Dichtungen knackten laut, wie man es manchmal in alten Filmen sah. Der Flur, den sie betraten, war voller Abfall und alter Metallkisten.

»Das hier ist nicht das Krankenhaus«, stellte Mei fest.

»Dies hier ist ein ganz besonderes Krankenhaus«, erklärte Doktor Strickland. »Ich glaube nicht, dass du schon einmal hier warst, oder?«

Für Mei sah es überhaupt nicht nach einem Krankenhaus aus, sondern eher wie eine der verlassenen Röhren, über die Daddy manchmal sprach. Überflüssige Räume aus der Zeit, als Ganymed gebaut worden war, die höchstens noch als Lagerräume benutzt wurden. Dieser hier besaß allerdings am anderen Ende eine Luftschleuse, und als sie hindurchtraten, sah es tatsächlich beinahe nach einem Krankenhaus aus. Jedenfalls war es dort sauberer, und es roch nach Ozon wie in den Dekontaminationszellen.

»Mei! Hallo, Mei!«

Es war einer der großen Jungs. Sandro. Er war schon fast fünf. Mei winkte ihm zu, als Doktor Strickland mit ihr vorbeiging. Mei fühlte sich besser, weil die großen Jungs anscheinend auch hier waren. Wenn sie hier waren, dann war vermutlich alles in Ordnung, auch wenn die Frau, die Doktor Strickland begleitete, nicht ihre Mommy war. Da fiel ihr ein, dass …

»Wo ist meine Mommy?«

»Wir werden deine Mommy gleich treffen«, versprach Doktor Strickland ihr. »Aber vorher müssen wir noch ein paar Kleinigkeiten erledigen.«

»Nein«, sagte Mei. »Ich will nicht.«

Er trug sie in einen Raum, der aussah wie ein Untersuchungszimmer, nur dass an den Wänden keine Comiclöwen hingen, und die Tische waren auch nicht wie grinsende Nilpferde geformt. Doktor Strickland setzte sie auf einen stählernen Behandlungstisch und strich ihr über den Kopf. Mei verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn finster an.

»Ich will zu meiner Mommy.« Mei grunzte genauso ungeduldig, wie es ihr Daddy getan hätte.

»Du wartest einfach hier, und ich sehe, was ich für dich tun kann«, antwortete Doktor Strickland lächelnd. »Umea?«

»Ich glaube, wir sind so weit. Fragen Sie bei der Operationszentrale nach, laden Sie, und raus damit.«

»Ich sage sofort Bescheid. Sie bleiben hier.«

Die Frau nickte. Doktor Strickland ging hinaus. Die Frau mit dem hübschen Gesicht beobachtete Mei, ohne zu lächeln. Mei mochte sie nicht.

»Ich will mein Bild haben«, verlangte Mei. »Das ist nicht für Sie. Das ist für meine Mommy.«

Die Frau hob das Bild hoch, als hätte sie es ganz vergessen, und entrollte es.

»Das ist Mommys Weltraummonster«, erklärte Mei. Jetzt lächelte die Frau. Sie hielt das Bild hoch, das Mei sich sofort schnappte. Dabei verknitterte sie es ein wenig, aber das war ihr egal. Wieder verschränkte sie die Arme vor der Brust, machte eine finstere Miene und grunzte.

»Magst du Weltraummonster, Mädchen?«, fragte die Frau.

»Ich will zu meiner Mommy.«

Die Frau kam näher. Sie roch nach künstlichen Blumen, und die Finger waren dürr. Sie hob Mei von der Liege herunter und stellte sie auf den Boden.

»Komm mit, Mädchen, ich will dir etwas zeigen.«

Die Frau entfernte sich, Mei zögerte einen Moment. Sie mochte die Frau nicht, aber allein sein mochte sie noch weniger. Also folgte sie ihr. Die Frau ging einen kurzen Gang hinunter und tippte in die Tastatur einer großen Metalltür, die an eine Luftschleuse erinnerte, einen Code ein. Als die Tür aufschwang, trat sie hindurch. Mei folgte ihr. Der Raum dahinter war kalt. Mei mochte es nicht. Hier gab es auch keinen Behandlungstisch, sondern nur einen großen Glaskasten, so ähnlich wie ein Aquarium, aber im Inneren trocken, und was dort drinnen saß, war auch kein Fisch. Die Frau winkte Mei näher heran und klopfte an die Scheibe.

Das Ding im Inneren hob den Kopf. Es war ein Mann, aber er war nackt, und die Haut sah nicht wie Haut aus. Die Augen glühten blau, als hätte er ein Feuer im Kopf. Und mit den Händen stimmte etwas nicht.

Er streckte sie zum Glas aus, und Mei schrie.

1 Bobbie

»Snoopy ist schon wieder draußen«, sagte der Gefreite Hillman. »Sein vorgesetzter Offizier muss ziemlich sauer auf ihn sein.«

Gunnery Sergeant Roberta Draper vom Marsianischen Marinecorps verstärkte die Vergrößerung ihres Helmdisplays und blickte in die Richtung, in die Hillman deutete. In 2500 Metern Entfernung trampelten vier UN-Marinesoldaten umher und hoben sich als Silhouetten vor der riesigen Kuppel des Gewächshauses ab, das sie bewachten. Die Kuppel war in so gut wie jeder Hinsicht derjenigen, die ihre eigene Abteilung bewachte, zum Verwechseln ähnlich.

Einer der vier UN-Soldaten hatte seitlich am Helm schwarze Flecken, die an die Ohren eines Beagles erinnerten.

»Ja, das ist Snoopy«, stimmte Bobbie zu. »Heute war er zu ausnahmslos allen Patrouillengängen eingeteilt. Ich frage mich, was er angestellt hat.«

Der Wachdienst vor den Gewächshäusern von Ganymed drehte sich vor allem darum, die Langeweile zu bekämpfen. Dazu gehörten auch Spekulationen über das Leben der Marinesoldaten auf der anderen Seite.

Die andere Seite. Achtzehn Monate vorher hatte es noch keine Seiten gegeben. Die inneren Planeten waren eine große, glückliche und leicht verhaltensgestörte Familie gewesen. Dann hatte sich Eros in Bewegung gesetzt, und jetzt teilten die beiden Supermächte das Sonnensystem unter sich auf. Der einzige Mond, den keine Seite aufgeben wollte, war Ganymed, die Kornkammer des Jupiter-Systems.

Er war der einzige Mond mit einer Magnetosphäre und deshalb der einzige Ort, wo in Jupiters starkem Strahlungsgürtel Nutzpflanzen in Kuppeln gedeihen konnten. Trotzdem mussten die Gewächshäuser und Wohnbezirke mit Abschirmungen versehen werden, um die Zivilisten vor den acht Rem zu schützen, die Jupiter jeden Tag auf die Oberfläche des Mondes abstrahlte.

Bobbies Rüstung war stark genug abgeschirmt, um Minuten nach einer Atombombenexplosion durch den Krater marschieren zu können, und daher ebenfalls geeignet, marsianische Marinesoldaten davor zu schützen, von Jupiter gebraten zu werden.

Hinter den irdischen Soldaten, die dort drüben patrouillierten, glühte die Kuppel auf, als ein Strahl des schwachen Sonnenlichts, das die riesigen Orbitalspiegel einfingen, auf das Bauwerk fiel. Trotz der Spiegel wären die meisten terrestrischen Pflanzen vor Lichtmangel gestorben. Nur die stark modifizierten Spielarten, die die Wissenschaftler auf Ganymed entwickelt hatten, konnten in dem spärlichen Licht gedeihen, das die Spiegel lieferten.

»Bald geht die Sonne unter.« Bobbie beobachtete immer noch die irdischen Marinesoldaten vor der kleinen Wachhütte, die umgekehrt auch sie überwachten. Abgesehen von Snoopy entdeckte sie noch jemanden, den sie Stumpy nannten, weil er oder sie höchstens eineinviertel Meter groß zu sein schien. Sie fragte sich, wie die anderen sie selbst nannten. Vielleicht war sie bei denen da drüben der »Rote Riese«, denn ihre Rüstung trug noch die marsianischen Tarnfarben. Bobbie war noch nicht lange auf Ganymed, und der Anzug war noch nicht in das hier übliche gesprenkelte Grau und Weiß umgefärbt worden.

Im Laufe von fünf Minuten verdunkelten sich nacheinander die Orbitalspiegel, während Ganymed für die nächsten paar Stunden im Schatten Jupiters verschwand. In den Gewächshäusern flammte bläuliches Kunstlicht auf. Es wurde zwar nicht merklich dunkler, aber auf einmal verlagerten sich die Schatten auf eine seltsame Art und Weise. Die Sonne, die von hier aus keine Scheibe mehr, sondern lediglich der hellste Stern am Himmel war, tauchte hinter Jupiters Krümmung. Einen Moment lang wurde das schwache Ringsystem des Planeten sichtbar.

»Sie gehen rein«, meldete der Gefreite Travis. »Snoopy bildet die Nachhut. Der arme Kerl. Können wir auch abhauen?«

Bobbie ließ den Blick über das eintönige schmutzige Eis Ganymeds wandern. Trotz der hoch technisierten Rüstung glaubte sie, die Kälte des Mondes zu spüren.

»Nein.«

Ihre Leute grollten, folgten ihr aber, als sie in der niedrigen Schwerkraft rund um die Kuppel hüpfte. Abgesehen von Hillman und Travis hatte sie noch einen unerfahrenen Soldaten namens Gourab dabei. Obwohl er erst seit anderthalb Monaten bei den Marinesoldaten war, grummelte er in dem gleichen leiernden Tonfall wie die anderen beiden.

Sie konnte den Männern keine Vorwürfe machen. Es war eine absolut sinnlose Aufgabe. Beschäftigungstherapie für die marsianischen Soldaten. Wenn die Erde beschloss, Ganymed für sich allein zu beanspruchen, konnten vier um ein Gewächshaus spazierende Soldaten sie nicht davon abhalten. Dutzende Kriegsschiffe von Erde und Mars kreisten in einem angespannten Waffenstillstand in Umlaufbahnen. Falls dort oben Feindseligkeiten ausbrachen, würden die Bodentruppen es erst herausfinden, wenn das Bombardement längst eingesetzt hatte.

Links neben Bobbie erhob sich die Kuppel fast einen halben Kilometer hoch: dreieckige Glasscheiben zwischen glänzenden kupferfarbenen Streben, die das ganze Gebäude in einen riesigen Faradaykäfig verwandelten. In den Kuppeln war sie noch nie gewesen. Als der Mars Truppen ausgehoben und eilig zu den äußeren Planeten geschickt hatte, war sie dabei gewesen und versah seitdem ihren Wachdienst. Für sie war Ganymed ein Raumhafen, eine kleine Marinebasis und der noch kleinere Vorposten, den sie gegenwärtig als ihre Heimat bezeichnete.

Während sie um die Kuppel schlurften, betrachtete Bobbie die wenig bemerkenswerte Landschaft. Solange es keine Katastrophen gab, veränderte Ganymed sich kaum. Die Oberfläche bestand vor allem aus Silikaten und Wassereis, das ein paar Grad wärmer war als der Weltraum. Die Atmosphäre enthielt Sauerstoff in so niedriger Konzentration, dass man sie für industrielle Zwecke als Vakuum betrachten konnte. Ganymed erodierte und verwitterte nicht. Der Mond veränderte sich nur, wenn aus dem Weltraum Steinbrocken herabfielen oder wenn warmes Wasser aus dem Kern an die Oberfläche quoll und kurzlebige Seen erzeugte. Dies geschah jedoch nicht sehr oft. Daheim auf dem Mars verwandelten Wind und Staub beinahe stündlich die Landschaft. Hier waren die Fußabdrücke des Vortages, des vorletzten und der Tage davor noch gut erhalten. Wahrscheinlich würden diese Abdrücke sogar die Besitzer der Stiefel überleben. Insgeheim fand sie das ein wenig unheimlich.

Auf einmal übertönte ein rhythmisches Quietschen das leise Zischen und Poltern ihres motorverstärkten Anzugs. Normalerweise minimierte sie das Helmdisplay. Dort wurden so viele Daten dargestellt, dass ein Marinesoldat buchstäblich alles wusste und zugleich nicht mehr sah, was direkt vor ihm vorging. Jetzt vergrößerte sie die Anzeige und blätterte blinzelnd und mit Augenbewegungen bis zum Diagnosemenü ihres Anzugs. Ein gelbes Warnlicht verriet ihr, dass der Antrieb des linken Knies nicht mehr viel Hydrauliköl hatte. Anscheinend war irgendwo ein Leck entstanden, aber es konnte nicht groß sein, weil der Anzug es nicht fand.

»He, Jungs, wartet mal«, sagte Bobbie. »Hilly, hast du Hydrauliköl dabei?«

»Ja«, bestätigte Hillman und holte es sofort heraus.

»Könntest du meinem linken Knie einen Spritzer verpassen?«

Als Hillman vor ihr kniete und an dem Anzug hantierte, stritten Gourab und Travis sich über irgendeine Sportart. Bobbie hörte nicht zu.

»Der Anzug ist alt«, erklärte Hillman. »Du solltest dir einen neuen besorgen. So was wird mit der Zeit immer öfter passieren.«

»Ja, das sollte ich wohl machen«, stimmte Bobbie zu. In Wirklichkeit war das leichter gesagt als getan. Bobbie hatte nicht die richtige Figur für die normalen Anzüge. Jedes Mal, wenn sie eine neue Spezialanfertigung bestellte, musste sie einen wahren Spießrutenlauf über sich ergehen lassen. Sie war etwas über zwei Meter groß und lag damit nur knapp über der durchschnittlichen Größe marsianischer Männer, wog aber nicht zuletzt dank ihrer polynesischen Vorfahren bei einem G mehr als einhundert Kilogramm. Dabei hatte sie kein Gramm Fett am Leib. Ihre Muskeln schienen vielmehr bereits zu wachsen, wenn sie nur durch einen Trainingsraum spazierte. Als Marinesoldatin musste sie natürlich ständig trainieren.

Der Anzug, den sie jetzt trug, war nach zwölf Jahren aktivem Dienst der erste, der tatsächlich gut passte. Inzwischen zeigte er zwar Verschleißspuren, aber es war einfacher, ihn zu reparieren, als um einen neuen betteln zu müssen.

Hillman steckte gerade das Werkzeug wieder ein, als es in Bobbies Funkgerät knackte.

»Vorposten vier für Strichmännchen. Melden Sie sich, Strichmännchen.«

»Vorposten vier«, antwortete Bobbie. »Hier ist Strichmännchen eins. Sprechen Sie.«

»Strichmännchen eins, wo steckt ihr? Ihr seid eine halbe Stunde zu spät dran, und hier unten ist der Teufel los.«

»Entschuldigung, Posten vier, wir hatten Schwierigkeiten mit der Ausrüstung.« Bobbie fragte sich, was die Gegenstelle von ihnen wollte, hütete sich aber, über einen nicht abhörsicheren Kanal nachzufragen.

»Kehren Sie sofort zum Vorposten zurück. Auf dem UN-Außenposten wurden Schüsse abgefeuert. Wir machen die Station dicht.«

Bobbie brauchte einen Moment, um die Meldung zu verdauen. Ihre Männer starrten sie unterdessen verwirrt und ängstlich an.

»Äh, schießen die Leute von der Erde auf euch?«, fragte sie schließlich.

»Noch nicht, aber sie schießen. Macht, dass ihr schleunigst herkommt.«

Hillman stand sofort auf. Bobbie beugte das Knie, und die Diagnoselampe sprang auf Grün um. Mit einem Nicken bedankte sie sich bei Hilly, dann sagte sie: »Abmarsch zum Vorposten. Los.«

Als Bobbie und ihre Leute noch einen halben Kilometer vom Stützpunkt entfernt waren, schlug der allgemeine Alarm an. Das Helmdisplay aktivierte sich automatisch und wechselte in den Gefechtsmodus. Die Sensoren machten sich ans Werk, suchten nach feindlichen Einheiten und klinkten sich in einen Satelliten ein, um Luftbilder zu empfangen. Es klickte, als sich die in den rechten Arm des Anzugs eingebaute Waffe selbsttätig entsicherte.

Im Falle eines Beschusses aus dem Orbit wären tausend Alarmsignale zu hören gewesen. Trotzdem musste sie einfach nach oben zum Himmel blicken. Keine Blitze, keine Raketenschweife. Nichts außer dem riesigen Jupiter.

Bobbie machte sich mit weiten, federnden Sprüngen auf zum Vorposten. Ihre Leute folgten kommentarlos. Wer dazu ausgebildet war, konnte mit motorverstärkten Anzügen bei niedriger Schwerkraft sehr schnell weite Strecken zurücklegen. Schon nach wenigen Sekunden tauchte der Stützpunkt hinter der Kuppel auf, und kurz darauf erkannte sie den Grund für den Alarm.

UN-Marinesoldaten griffen den marsianischen Vorposten an. Der jahrelange kalte Krieg wurde plötzlich heiß. Trotz ihrer professionellen Gelassenheit und Disziplin war sie überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass dieser Tag wirklich kommen würde.

Die anderen Angehörigen ihres Zuges hatten den Stützpunkt verlassen und ihre Positionen eingenommen, um den Vorstoß der UN abzufangen. Irgendjemand hatte den Yojimbo nach draußen gefahren. Der vier Meter hohe Kampfmech überragte die Marinesoldaten. Er sah aus wie ein kopfloser Riese in einer verstärkten Rüstung. Die mächtige Kanone schwenkte langsam hin und her und zielte auf die anrückenden Truppen der Erde. Die UN-Soldaten legten die 2500 Meter zwischen den Stellungen in vollem Lauf zurück.

Warum redet niemand?, fragte sie sich. Es war gespenstisch, dass sie alle so hartnäckig schwiegen.

Als ihre eigenen Leute gerade die Verteidigungspositionen erreicht hatten, ertönten in ihrem Anzug kreischende Warnsignale. Die Anzeigen verschwanden, weil sie den Kontakt zum Satelliten verloren hatte. Auch die Vitalfunktionen und den Ausrüstungsstatus ihres Teams konnte sie nicht mehr überwachen, weil die Verbindung zwischen den Anzügen ebenfalls gestört war. Das leise Rauschen des offenen Funkkanals brach ab, und die Stille wurde noch unheimlicher, als sie schon war.

Mit Handbewegungen dirigierte sie ihre Abteilung zur rechten Flanke und eilte zu Leutnant Givens, ihrem vorgesetzten Offizier. Sie bemerkte den Anzug des CO mitten in der Abwehrlinie, wo er fast direkt unter dem Yojimbo stand. Sobald sie ihn erreicht hatte, presste sie den Helm gegen seinen.

»Was ist hier los, Leutnant?«, rief sie.

Er sah sie gereizt an. »Das weiß ich so wenig wie Sie. Wir können ihnen nicht sagen, dass sie sich zurückziehen sollen, weil der Funk gestört ist, und visuelle Warnsignale ignorieren sie einfach. Vor dem Ausfall des Funks habe ich die Genehmigung erhalten, das Feuer zu eröffnen, wenn sie sich uns auf einen halben Kilometer angenähert haben.«

Bobbie hatte noch zweihundert weitere Fragen, doch die UN-Truppen würden die Feuerlinie in wenigen Sekunden überschreiten. Also kehrte sie zu ihren Leuten zurück, um die rechte Flanke zu sichern. Unterwegs ließ sie ihren Anzug die anrückenden Gegner zählen und als feindlich markieren. Der Anzug meldete sieben Ziele. Weniger als ein Drittel der Besatzung im UN-Vorposten.

Das ist doch völlig unsinnig.

Sie wies den Anzug an, in fünfhundert Metern Entfernung eine Linie in das Display einzuzeichnen. Ihren Untergebenen erklärte sie nicht, dass dies die Grenze war, von der an sie das Feuer eröffnen sollten. Das war nicht nötig. Ihre Leute würden schießen, sobald sie es selbst tat, ohne nach dem Grund zu fragen.

Die UN-Soldaten waren jetzt weniger als einen Kilometer entfernt, hatten ihrerseits aber noch keinen Schuss abgefeuert. Außerdem liefen sie nicht in Formation. Sechs kamen in einer unordentlichen Reihe vorneweg, der siebte folgte etwa siebzig Meter hinter ihnen. Ihr Helmdisplay wählte den Gegner auf der linken Seite als Ziel aus, weil er der nächste war. Doch irgendetwas störte sie, und sie überging die automatische Zielauswahl, visierte das hintere Ziel an und vergrößerte es.

Die kleine Gestalt wuchs in der Zieloptik heran. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter. Sie erhöhte die Vergrößerung abermals.

Die Gestalt hinter den sechs UN-Marinesoldaten trug keinen Schutzanzug. Genau genommen handelte es sich auch nicht um einen Menschen. Die Haut war mit Chitinplatten bedeckt, die an große schwarze Schuppen erinnerten. Der Kopf war entsetzlich. Doppelt so groß wie normal und mit seltsamen Auswüchsen übersät.

Das Schlimmste waren die Hände – viel zu groß für diesen Körper und im Vergleich zur Breite zu lang. Es waren Horrorhände aus dem Albtraum eines Kindes. Die Hände eines Trolls unter dem Bett oder die Klauen der Hexe, die durch das Fenster einsteigt. Sie spannten sich manisch, als wollten sie etwas Unsichtbares packen.

Die Truppen der Erde griffen nicht an. Sie flohen.

»Schießt auf das Wesen, das sie jagt«, rief Bobbie, obwohl niemand es hören konnte.

Noch bevor die UN-Soldaten die fünfhundert Meter entfernte Feuerlinie erreichten, holte das Wesen sie ein.

»Oh, verdammte Scheiße«, flüsterte Bobbie. »Oh, verdammt.«

Es packte einen UN-Marinesoldaten mit den riesigen Händen und zerfetzte ihn wie ein Stück Papier. Die aus Titanium und Keramik konstruierte Rüstung riss ebenso leicht entzwei wie der Körper, der in ihr steckte. Ausrüstungsteile und feuchte menschliche Eingeweide flogen als wirrer Haufen auf das Eis. Die übrigen fünf Soldaten liefen noch schneller, doch das Ungeheuer wurde, wenn es tötete, nicht einmal merklich langsamer.

»Schießt doch, schießt doch, schießt doch!«, schrie Bobbie, während sie das Feuer eröffnete. Ihre Ausbildung und die Technik ihres Kampfanzugs machten sie zu einer äußerst effizienten Tötungsmaschine. Sobald ihr Finger den Abzug der eingebauten Waffe berührte, jagte mit mehr als tausend Metern pro Sekunde ein Strom von zwei Millimeter großen, panzerbrechenden Geschossen auf das Wesen zu. Weniger als eine Sekunde später hatte sie bereits fünfzig Geschosse abgefeuert. Das Wesen war ein vergleichsweise langsames Ziel von annähernd menschlicher Größe, das zudem geradeaus lief. Der Zielcomputer übernahm die ballistischen Korrekturen und hätte es ihr erlaubt, ein Ziel von der Größe eines Fußballs zu treffen, das sich mit Überschallgeschwindigkeit bewegte. Jede Kugel traf.

Eine Wirkung war nicht zu erkennen.

Die Geschosse schlugen einfach durch und wurden anscheinend nicht einmal merklich langsamer, ehe sie wieder austraten. Aus den Austrittswunden platzte nicht etwa Blut, sondern ein schwarzes Geflecht heraus, das im Schnee landete. Es war, als hätte sie auf Wasser geschossen. Die Wunden schlossen sich fast schneller, als sie entstanden; als einziger Hinweis darauf, dass dieses Wesen überhaupt getroffen wurde, blieb eine Spur schwarzer Fasern liegen.

Dann erwischte es den zweiten UN-Marinesoldaten. Statt ihn in Stücke zu reißen wie den letzten, wirbelte es den voll gerüsteten Erder – der mit seiner Rüstung wahrscheinlich mehr als fünfhundert Kilo Masse hatte – herum und schleuderte ihn auf Bobbie. Ihr Helmdisplay verfolgte die Flugbahn des Soldaten und informierte sie freundlicherweise, dass das Ungeheuer den Soldaten nicht nur allgemein in ihre Richtung, sondern gut gezielt direkt nach ihr geworfen hatte. Außerdem war die Flugbahn flach, also flog der Soldat sehr schnell.

So rasch es ihr unförmiger Anzug erlaubte, wich sie zur Seite aus. Der arme UN-Marinesoldat fegte Hillman, der neben ihr gestanden hatte, von den Beinen. Zusammen kugelten die beiden mit tödlicher Geschwindigkeit über das Eis.

Als sie den Blick wieder auf das Monster richtete, hatte es bereits zwei weitere UN-Soldaten getötet.

Jetzt eröffnete die ganze Abwehrlinie der Marsianer einschließlich des Yojimbo mit seiner großen Kanone das Feuer auf das Wesen. Die beiden noch lebenden irdischen Soldaten wichen aus und rannten schräg von dem Ding weg, damit die Marsianer freies Schussfeld hatten. Das Wesen wurde Hunderte, wenn nicht Tausende Male getroffen. Es flickte sich selbst, während es mit voller Geschwindigkeit weiterlief, und wurde höchstens etwas langsamer, wenn Yojimbos Granaten in der Nähe explodierten.

Bobbie stand wieder auf und schoss wie alle anderen, doch es nützte nichts. Das Wesen stürmte in die marsianischen Linien hinein und tötete schneller, als das Auge folgen konnte, zwei Soldaten. Viel gewandter, als man es einer Maschine dieser Größe zutrauen mochte, wich der Yojimbo aus. Bobbie nahm an, dass Sa’id am Steuer saß. Er gab immer damit an, dass er den großen Mech Tango tanzen lassen konnte. Auch das nützte nichts. Noch bevor Sa’id die Kanone des Mech herumziehen und aus nächster Nähe schießen konnte, sprang das Wesen an der Seite empor, griff nach der Pilotenkanzel und riss die Tür aus dem Scharnier. Dann zerrte es Sa’id aus den Gurten und warf ihn sechzig Meter hoch in die Luft.

Die anderen Marinesoldaten zogen sich zurück und schossen dabei weiter. Ohne Funk war jedoch kein geordneter Rückzug möglich. Bobbie rannte mit den anderen in Richtung Kuppel. Ein kleiner Bereich im Hinterkopf, der noch nicht in Panik geraten war, sagte ihr, dass die Glasplatten und Metallverstrebungen keinen Schutz gegen ein Wesen boten, das einen Mann mitsamt seiner Rüstung zerfetzen oder einen neun Tonnen schweren Mech zerlegen konnte. Dieser Teil ihres Verstandes erkannte natürlich auch, dass es ihr unmöglich war, das Entsetzen zu überwinden.

Als sie die Außentür der Kuppel entdeckte, war nur noch ein Marinesoldat bei ihr. Gourab. Aus der Nähe konnte sie durch das Panzerglas des Helms sein Gesicht erkennen. Er schrie etwas, das sie nicht hören konnte. Sie wollte sich vorbeugen, um die Helme aneinanderzulegen, doch er stieß sie auf das Eis zurück und hämmerte mit einer Metallfaust auf die Steuerung der Luftschleuse. Er war immer noch dabei, sich mehr oder weniger gewaltsam einen Weg nach drinnen zu bahnen, als das Wesen ihn erreichte und ihm mit einer lässigen Bewegung den Helm vom Kopf fegte. Gourab stand noch einen Moment da, dem Vakuum ausgesetzt, blinzelte heftig und mit offenem Mund und stieß einen stummen Schrei aus. Dann riss ihm das Wesen den Kopf ebenso mühelos ab wie den Helm.

Anschließend drehte es sich um und betrachtete Bobbie, die flach auf dem Rücken lag.

Aus der Nähe konnte sie erkennen, dass es hellblaue Augen hatte. Es war ein elektrisch glühendes Blau. Die Augen waren schön. Sie hob die Waffe und drückte eine halbe Sekunde lang auf den Auslöser, bis sie sich erinnerte, dass ihr schon lange vorher die Munition ausgegangen war. Sie hätte schwören können, dass das Wesen die Waffe neugierig betrachtete, ehe es ihr in die Augen sah und den Kopf auf die Seite legte.

Das war’s dann, dachte sie. So geht es also mit mir zu Ende, und ich weiß nicht einmal, was dafür verantwortlich ist und warum es geschehen ist. Mit dem Tod konnte sie sich abfinden. Ohne Antworten zu sterben, fand sie unermesslich grausam.

Das Wesen machte einen Schritt auf sie zu, hielt inne und schauderte. Aus dem Rumpf brach ein Paar neuer Gliedmaßen hervor und zuckte wie Tentakel. Der ohnehin schon groteske Kopf schien anzuschwellen. Die blauen Augen strahlten hell wie die Lichter in den Kuppeln.

Dann explodierte es und ging in Flammen auf. Die Druckwelle schleuderte sie über das Eis. Sie rutschte, bis sie so fest gegen eine kleine Erhebung prallte, dass das schockabsorbierende Gel im Anzug erstarrte und sie unerbittlich festhielt.

Sie lag auf dem Rücken und kämpfte mit der Ohnmacht. Über ihr zuckten Blitze am dunklen Himmel. Die Schiffe in der Umlaufbahn schossen aufeinander.

Feuer einstellen, dachte sie, auch wenn sie niemand hören konnte. Die Soldaten sind doch nur geflohen. Feuer einstellen. Der Funk ging immer noch nicht, der Anzug war tot. Sie konnte niemandem erklären, dass die UN-Marinesoldaten gar nicht angegriffen hatten.

Dass etwas ganz anderes angegriffen hatte.