Als Ravensburger E-Book erschienen 2018

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH

© 2018 Ravensburger Verlag GmbH

Text © Gina Mayer
Vermittelt durch die Literaturagentur Arteaga, München

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Redaktion: Beate Spindler

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-47882-8

www.ravensburger.de

18. September, 10:54 a.m.

Hallo Zoe,

was ist los? Du bist jetzt schon über eine Woche in Snowfields und ich höre NICHTS von dir!

Wie ist es im Internat, wie findest du deine neue Klasse? Hast du schon einen Ersatz für mich gefunden, eine neue beste Freundin? Und wie klappt es mit dem Reiten?

Wie ich dich kenne, hast du die anderen längst abgehängt und bist die Klassenbeste.

Was ist mit Caleb? Musst du jetzt Mr. Cole zu ihm sagen, weil er dein Lehrer ist?

Schreib mir! Und zwar SOFORT! Ich geh sonst davon aus, dass du mich vergessen hast, und LÖSCHE dich.

LG

Kim

18. September, 10:59 a.m.

Liebe Kim,

NICHT löschen! Hier kommen ganz schnell ein paar Antworten:

1. Megaanstrengend

2. NEIN, niemals, Kim. Ich vermisse dich wie verrückt!

3. Weiß noch nicht.

4. Die Beste im Reiten? Die sind alle besser als ich. Und am allerbesten ist immer Isabelle Dufresne.

5. Caleb

Sorry, sorry, sorry, dass ich mich nicht gemeldet habe. Es ist gerade alles zu viel.

Am Wochenende mehr, ich versprech’s! Wie geht es dir? Ich wünschte, du wärst hier!

LG

Zoe

Zoe senkte den Blick und drehte sich langsam nach links. Sie ließ die rechte Schulter fallen, hob die linke und schloss ihre Hände. Atmete ruhig und gleichmäßig, während sie unter den gesenkten Lidern hindurch verstohlen zu Silver linste.

Die Stute stand ein paar Meter von ihr entfernt am Rand des Round-Pens und scharrte gelangweilt mit den Hufen. Dann schnaubte sie. Es klang wie ein Seufzen.

Zoe hätte auch gerne geseufzt. Oder noch lieber laut geschrien. Vor Frust.

Nächster Versuch. Sie drehte sich zur Seite, zeigte Silver die rechte Schulter, senkte den Blick, diesmal ohne zu schummeln. Atmete ruhig. Wartete.

Silver kam nicht.

Zoe hob den Kopf und sah zu Caleb, der mit verschränkten Armen am Zaun des Round-Pens lehnte. Dahinter stand der Rest der Klasse.

„Es geht nicht“, sagte sie.

Caleb lächelte. Er war wie immer von Kopf bis Fuß schwarz angezogen und trug die dunklen Haare zu einem Zopf gebunden.

„Warum nicht?“, fragte er.

„Keine Ahnung.“

„Was meint ihr?“ Caleb drehte sich zu den anderen.

Allgemeines Schulterzucken. Nicht einmal Isabelle meldete sich zu Wort, dabei kannte sie die Antwort garantiert. Isabelle Dufresne wusste und konnte immer alles.

Sie war erst dreizehn, genau wie Zoe. Aber im Gegensatz zu Zoe war Isabelle ein Vollprofi im Reitsport. Ihrer Familie gehörte das Dufresne Stud & Stallion Breeding in Quebec – das berühmteste Gestüt in ganz Nordamerika.

Isabelle hatte mit drei Jahren mit dem Reiten begonnen und bereits alle wichtigen Nachwuchspreise im Dressurreiten gewonnen. Sie brachte jedes Pferd mit einem Wimpernschlag dazu, genau das zu tun, was sie wollte. Und zu allem Überfluss sah sie auch noch super aus und sprach mit einem süßen frankokanadischen Akzent.

Zoe hatte den Namen Dufresne noch nie gehört, bevor sie nach Snowfields gekommen war. Sie verstand auch nichts vom Reiten – und vom Pferdeflüstern erst recht nicht, wie ihr jetzt täglich vor Augen geführt wurde.

„Kommt schon. Irgendjemand wird Zoe doch helfen können“, sagte Caleb.

Das Schweigen wurde noch unbehaglicher. Die meisten der Schüler senkten die Blicke, nur Cyprian Frazers leuchtend blaue Augen starrten Zoe an. Aber er war der Letzte, der etwas sagen würde. Er redete ja auch sonst so gut wie kein Wort.

„Cathy?“, fragte Caleb.

Das Mädchen mit den neonblauen Haaren, das neben Isabelle stand, zog seine gepiercten Augenbrauen zusammen.

„Was?“

„Weißt du, was Zoe falsch macht?“

Cathy kaute auf ihrem Kaugummi herum. Mit ihrer demonstrativen Gleichgültigkeit in Verbindung mit einer unglaublichen Schlamperei trieb sie die Lehrer in Snowfields in den Wahnsinn. Ständig vergaß sie ihre Hausaufgaben, kam zu spät zum Unterricht oder verlegte ihre Unterlagen – und wurde oft auch noch patzig, wenn sie zurechtgewiesen wurde. Strafarbeiten und offizielle Verweise ignorierte sie einfach.

Jetzt formte sich vor ihrem Gesicht eine riesige pinke Kaugummiblase. Sie ließ sie platzen, kaute dann noch eine ganze Weile weiter, bevor sie sich endlich zu einer Antwort bequemte.

„Keine Ahnung.“

„Aber du weißt, wie man es richtig macht.“

Cathy kaute. Caleb schien ihre Unhöflichkeit gar nicht zu bemerken.

„Wärst du so freundlich?“ Er machte eine kleine Verbeugung und wedelte dabei mit der Hand wie ein Hofmarschall vor der Königin.

Cathy machte eine spöttische Grimasse, dann öffnete sie das Tor und trat neben Zoe.

Zoe biss sich auf die Lippen. Sie kam sich so blöd vor. Warum tat Caleb ihr das an, warum stellte er sie so bloß? Wieso erklärte er ihr nicht einfach, warum ihr Join-Up nicht funktioniert hatte?

Wortlos zog sie sich an den Rand des Platzes zurück und schaute dabei zu, wie Cathy die gleichen Bewegungsabläufe absolvierte wie sie. Wie sie den blau gefärbten Haarschopf senkte und sich langsam zur Seite drehte, den Blick zu Boden gerichtet, bis sie Silver die rechte Schulter zeigte.

Diesmal blieb die Stute nicht gelangweilt stehen. Langsam setzte sie sich in Bewegung und kam auf Cathy zu. Erst als das Pferd direkt vor ihr stand, hob Cathy die Hand und streichelte Silver über die silberweiße Stirn. Zum ersten Mal, seit sie den Round-Pen betreten hatte, glitt ein Lächeln über ihr Gesicht.

„Gut gemacht. Danke, Cathy“, sagte Caleb.

Zoe spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie kniff sich unauffällig in den linken Oberschenkel, so fest, dass sich ein blauer Fleck bilden würde. Jetzt nur nicht heulen. Bloß nicht zeigen, wie verletzt sie war.

„Möchtest du es noch mal versuchen, Zoe?“, fragte Caleb.

Wut stieg in ihr auf. Gut so. Wut war auf jeden Fall besser als Tränen und Selbstmitleid.

„Wieso denn?“, fragte sie scharf. „Ich hab immer noch keinen blassen Schimmer, was ich falsch gemacht habe. Und solange es mir niemand erklärt, krieg ich es auch nicht besser hin.“

Caleb lächelte geduldig wie ein Vater, dessen Kleinkind im Supermarkt einen Tobsuchtsanfall bekommt.

„Komm mal her, Zoe.“ Caleb trat in die Mitte des Round-Pen, während Cathy den Reitplatz wieder verließ.

Widerwillig ging Zoe zu ihm. Er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie neben sich.

Sie merkte, wie ihre Knie weich wurden und ihre Beine zu zittern begannen. Es machte sie nervös, so dicht neben Caleb zu stehen.

„Ganz ruhig“, sagte Caleb so leise, dass nur sie es hören konnte. Hatte er das Zittern bemerkt?

Sie spannte alle Muskeln an, versteifte ihren Körper und ballte die Hände zu Fäusten. Das Zittern hörte auf.

„Falsch“, sagte Caleb. „Entspann dich.“

Entspann dich. Wenn sie nicht so verzweifelt gewesen wäre, hätte sie laut gelacht. Wie sollte sie sich entspannen – in dieser Situation? Sie spürte die Blicke der anderen, auch ihre Neugier, ihre Herablassung, ihr Mitleid, ihre Erleichterung, dass sie nicht an Zoes Stelle waren.

Sie konnte sich nicht entspannen. Wenn sie nachgab, würde sie in Tränen ausbrechen und das wäre schrecklich.

„Vergiss sie“, sagte Caleb wieder so leise, dass nur sie ihn hören konnte. Er wusste genau, was in ihr vorging. Aber das machte die Sache nicht besser.

Zoe war kurz davor, vom Platz zu rennen. Doch dann hörte sie die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf, so deutlich, als stünde sie ebenfalls neben ihr.

Die Leute sind nicht wichtig, sagte Irmhild Sullivan. Konzentrier dich auf die Musik.

Mit diesem Spruch hatte sie Zoe früher bei ihren Flötenkonzerten das Lampenfieber genommen.

Die anderen sind nicht wichtig, dachte Zoe jetzt. Es kommt allein auf Silver an. Und nun spürte sie, wie sich ihre Schultern ganz von selbst senkten, wie ihre Arme sich lockerten, wie ihr Blick sich nach innen kehrte und ihr Atem ruhig wurde.

Passiv stellen, nannte Caleb diese Körperhaltung, mit der man ein Pferd dazu brachte, sich zu nähern. Weil man ihm dadurch signalisierte, dass man keine Gefahr darstellte, aber die Richtung angab.

„Gut“, sagte Caleb.

Sie hörte das sanfte Tappen von Silvers Hufen und dann schwebte die samtweiche Nase der Stute auch schon vor ihr.

Jetzt hob Zoe den Kopf, aber sie sah Silver nicht an. Mit ihrem Blick hätte sie das Pferd dazu gebracht, sich wieder zu entfernen. Sie hob nur die Hand und tätschelte den silbrig glänzenden Hals.

„Danke, Silver“, murmelte sie.

Lauter Applaus vor dem Round-Pen. Normalerweise hätte sie sich darüber geärgert. Allen anderen in der Pferdeflüsterer-Klasse gelang das Join-Up auf Anhieb, nur Zoe hatte es bisher noch nie geschafft. Aber als sie in die Gesichter ihrer Klassenkameraden blickte, sah sie darin weder Spott noch Herablassung, nur ehrliche Freude, dass der Knoten bei ihr endlich geplatzt und die Übung gelungen war.

„Ich bringe Silver auf die Koppel“, sagte Caleb nach der Stunde. „Begleitest du mich, Zoe?“

Sie nickte, ein bisschen unsicher. Was kam jetzt?

Er wartete, bis die anderen außer Hörweite waren, dann erst begann er zu sprechen.

„Wie geht es dir?“, fragte er.

„Was ist das denn für eine Frage?“ Zoe fuhr sich genervt durch die blonden Haare. „Ich bin die Allerschlechteste in der Klasse, wie soll es mir damit schon gehen?“

Er schüttelte lächelnd den Kopf, als wäre das eine vollkommen absurde Behauptung. Dabei war es offensichtlich, dass Lichtjahre zwischen Zoe und dem Rest der Klasse lagen.

„Du darfst dich nicht mit den anderen vergleichen“, sagte Caleb. „Sie sind mit Pferden aufgewachsen und reiten seit Jahren. Aber für dich ist alles neu.“

„Wenn ich mit Shaman übe, läuft es super“, sagte Zoe. „Er versteht sofort, was ich will, und macht genau, was ich sage. Aber bei den anderen Pferden klappt gar nichts, überhaupt nichts.“

„Was für ein Quatsch! Heute bist du ein Riesenstück vorangekommen. Und in der nächsten Stunde geht es wieder einen Schritt weiter. Oder vielleicht in der übernächsten. Wir haben alle Zeit der Welt.“

Jetzt waren sie an der Koppel. Zoe öffnete das Gatter, führte Silver auf die Weide und zog ihr das Halfter über die Ohren.

Während die Stute davontrabte, hörte sie hinter sich ein leises Schnauben und Shamans herber, unverwechselbarer Geruch stieg ihr in die Nase. Sie drehte sich um und schlang die Arme um den Hals des großen schwarzen Mustangs.

„Na, mein alter Junge? Wie geht es dir?“

Noch vor wenigen Wochen war der Hengst total verstört gewesen. Nicht einmal Caleb, dem er gehörte, konnte ihn nach draußen auf die Koppel bringen. Und auch die anderen Pferde hatte Shaman nicht an sich herangelassen. Deshalb hatte er den ganzen Tag allein im Stall verbracht.

Shaman hatte nur Zoe von Anfang an akzeptiert. Keiner wusste, warum er ausgerechnet ihr vertraute, warum er sie sogar auf sich reiten ließ, obwohl sie keine Ahnung von Pferden hatte. Selbst Caleb hatte keine Erklärung dafür.

Aber nachdem Zoe Shaman aus Snowfields entführt hatte und mit ihm in die Wildnis der Wälder geflohen war, um sein Leben zu retten, hatte der Hengst sich verändert. Er war immer noch scheu und schreckhaft, doch er ließ sich jetzt auf die Weide bringen und brach nicht mehr aus.

Streicheln und liebkosen durfte ihn allerdings nach wie vor niemand außer Zoe. Caleb begegnete er mit misstrauischer Zurückhaltung, bei allen anderen ergriff er die Flucht, wenn sie ihn bloß ansahen.

Zoe vergrub ihre Nase in Shamans Mähne und spürte sein samtiges Fell an ihrer Wange. Wenn sie bei ihm war, wusste sie, dass es richtig gewesen war, auf diese Schule zu wechseln.

Als sie sich aus der Umarmung löste, fiel ihr Blick auf Caleb. Sein Gesicht war voller Wehmut und Sehnsucht. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Shaman ihm blind vertraut hatte, in der Caleb alles für ihn gewesen war. So wie jetzt Zoe.

Doch nach einem schweren Turnierunfall hatte Shaman das Vertrauen in ihn verloren, und es war Caleb bis heute nicht gelungen, es wieder zurückzugewinnen.

Calebs Traurigkeit berührte Zoe, aber oben auf der Welle ihres Mitleids schwamm auch eine leise Genugtuung. Weil sie etwas geschafft hatte, das Caleb mit all seinem Pferdewissen nicht gelungen war: Sie hatte Shaman gerettet. Wenn Zoe nicht gewesen wäre, hätte der Mustang nicht in Snowfields bleiben können, vielleicht wäre er sogar eingeschläfert worden.

Doch dann schämte sie sich für dieses Gefühl. Es war nicht ihr Verdienst, dass Shaman ihr vertraute. Seine Zuneigung war ihr einfach so zugeflogen.

Caleb nickte, als wollte er etwas bestätigen, das Zoe gar nicht gesagt hatte.

„Pass auf, dass du ihn nicht auch enttäuschst“, sagte er leise.

Wie zum Teufel schaffte er es, immer zu erraten, was sie dachte?

Als Caleb weg war, wuschelte Zoe Shaman noch einmal durch die Mähne, dann gab sie ihm einen zärtlichen Klaps auf den Hals.

„Ich muss leider los“, flüsterte sie.

Shamans dunkelbraune Augen, die von goldenen Sprenkeln durchzogen waren, musterten Zoe voller Enttäuschung.

„Schau mich nicht so an“, sagte sie. „Ich würd auch lieber mit dir spazieren gehen. Aber leider warten die Hausaufgaben auf mich.“

Berge von Hausaufgaben, um genau zu sein. Sie musste noch einen Aufsatz für Englisch schreiben, Französisch-Vokabeln lernen und ein Referat für Politik vorbereiten.

Die Anforderungen in Snowfields waren hoch, nicht nur im Reitunterricht, sondern auch in allen anderen Fächern. Am Ende ihrer Schulzeit sollten die Schüler schließlich in der Lage sein, die gleichen Abschlussprüfungen zu machen wie auf einer normalen Schule.

Zoe hatte immer gute Noten gehabt und sie war es zum Glück auch gewohnt, dass die Hausaufgaben und Prüfungen quasi nebenher liefen. Früher hatte sie mehrere Stunden am Tag Flöte geübt, heute brauchte sie diese Zeit für die Reitstunden und den Spezialunterricht in Natural Horsemanship. Das Flötespielen war allerdings lange nicht so frustrierend gewesen wie die Unterrichtsstunden bei Caleb.

Sie dachte an den Aufenthaltsraum im Internatsgebäude, wo die Schüler ihre Hausaufgaben erledigten. Es war ein großer heller Saal, in dem man nie allein war. Trotzdem fühlte sich Zoe dort immer schrecklich einsam.

Sie fand einfach keinen Anschluss zu den anderen. Vielleicht lag es daran, dass sie ein paar Wochen nach Unterrichtsbeginn ins Internat gekommen war. Ihre Klassenkameraden hatten sich bereits kennengelernt, hatten Kontakte geknüpft und Freundschaften geschlossen. Sie brauchten Zoe nicht mehr.

Manchmal setzte sich Zoe mit ihren Heften und Büchern auf ihr Bett im Schlafsaal. Es war ein Vierbettzimmer, aber tagsüber hielt sich niemand darin auf. Dort war sie wirklich allein. Das war einfacher, als inmitten der anderen einsam zu sein.

Shaman stupste ihr mit der Nase gegen die Schulter. Dann warf er den Kopf nach oben und wieherte, als wollte er sie auf den strahlend blauen Himmel aufmerksam machen. Die Bäume am Waldrand leuchteten in flammenden Herbstfarben: gelb, orange und rot.

Der See glitzerte im warmen Sonnenlicht. Irgendwo zwitscherte ein Vogel. Es klang, als machte er sich über Zoe lustig.

„Du hast recht, Shaman“, sagte sie. „Der Tag ist viel zu schön, um ihn mit Schularbeiten zu verbringen.“

Während Zoe Shaman das Halfter überzog, das sie Silver vorher abgenommen hatte, begann er vor Vorfreude zu tänzeln.

„Wir gehen nur spazieren. Ich darf dich nicht reiten“, warnte sie ihn. Und zugleich merkte sie, wie ihre Stimmung sofort wieder sank.

Als sie im Sommer mit Shaman unterwegs gewesen war, allein und frei im Wald, war sie jeden Tag auf ihm geritten. Sie hatte vorher noch nie auf einem Pferd gesessen und sich alles selbst beigebracht. Wie sie es genossen hatte, auf Shaman über die Wiesen und durch die Talsenken zu galoppieren! Ohne sich auch nur einen Gedanken über ihre Haltung und ihren Reitstil zu machen.

Caleb war ziemlich entsetzt gewesen, als er Zoe nach ihrer Rückkehr die erste Reitstunde gegeben hatte.

„Wir müssen noch mal ganz von vorn anfangen“, erklärte er.

An jeder ihrer Bewegungen hatte er etwas auszusetzen. Sie saß viel zu weit vorn im Sattel, ihre Haltung war nicht aufrecht genug. Sie hielt die Zügel falsch, sie gab keine klaren Signale. Und, und, und.

Je mehr Caleb sie korrigierte, desto unsicherer und verkrampfter wurde Zoe. Desto schlechter ritt sie. Aber das Schlimmste war, dass es ihr streng verboten war, Shaman zu reiten.

Die Direktorin der Schule, Mrs. Fitzgerald, hatte Zoe bei ihrem Antrittsbesuch in ihrem Büro ausdrücklich untersagt, auf Shamans Rücken zu steigen.

„Ich weiß, du bist überzeugt, dass du ihn kontrollieren kannst“, sagte sie. „Aber Shaman ist ein sehr verstörtes Pferd. Ich kann leider nicht verantworten, dass du ihn reitest.“

„Nie mehr?“, fragte Zoe entsetzt.

Mrs. Fitzgerald zögerte einen Moment lang. „Lass uns noch einmal über die Sache reden, wenn du die Leistungsklasse 5 erreicht hast, okay?“

„Dann werd ich mal zusehen, dass ich das so schnell wie möglich schaffe“, hatte Zoe entgegnet. Das war noch vor ihrer ersten Reitstunde gewesen. Damals war sie sicher gewesen, dass es ein Leichtes für sie wäre, reiten zu lernen.

Shaman fehlten die gemeinsamen Ausritte genauso wie Zoe. Und Zoe konnte ihm nicht einmal erklären, warum sie nicht mehr auf seinen Rücken steigen durfte.

„Im Grunde versteh ich es ja selbst nicht“, sagte sie jetzt.

Sie führte ihn den Trampelpfad zum See hinunter und von dort in den Wald. Zwischen den Stämmen der uralten Bäume wucherten meterhohe Farne. Oben im Blätterwerk gurrten Waldtauben.

Zoe atmete tief ein und spürte, wie sich ihre Brust weitete. Sie legte den Kopf in den Nacken, sah die Wipfel der Bäume hoch oben im Herbsthimmel schweben, und bei diesem Anblick wurde ihr fast schwindlig.

Shaman schritt zügig aus, er wollte sich bewegen. Zoe beschleunigte ebenfalls ihre Schritte und begann zu laufen. Eine Weile joggte sie neben ihm her, aber es war ein ungleiches Rennen. Während Zoe nach kurzer Zeit zu keuchen begann und schließlich völlig außer Atem stehen blieb, war Shaman nicht einmal ins Schwitzen gekommen.

Er ließ den Kopf hängen, frustriert und verständnislos. Genau wie Zoe.

Sie brachte ihn zu einer Lichtung, rannte wieder neben ihm her und gab erneut nach wenigen Minuten auf.

Sie dachte an ihre Ausritte im Sommer, bei denen sie und Shaman zu einer Einheit verschmolzen waren, einem einzigen Wesen.

Shaman ist ein sehr verstörtes Pferd.

„Unsinn!“, murmelte Zoe.

Shaman schnaubte leise. Seine goldbraunen Augen musterten sie. Bittend, aber auch ein bisschen spöttisch. Warum lässt du dir von anderen vorschreiben, was du tun und lassen sollst, schien er zu fragen. Mach doch einfach, was du willst. So wie ich.

Zoe nagte an ihrer Unterlippe, während sie in die Stille des Waldes lauschte. Vogelgezwitscher. Bienensummen. Keine Stimmen oder Schritte.

Sie griff nach Shamans Halfter und ging mit ihm zu einem Stapel Baumstämme, der am Rande der Wiese lagerte. Es war gar nicht so einfach, ohne Steigbügel auf seinen Rücken zu klettern, aber nach einigen Versuchen schaffte sie es und saß oben.

Ihr Herz schlug laut und aufgeregt, sie spürte den Puls in ihrem ganzen Körper. Shaman stand reglos da, als könnte er es nicht fassen, dass Zoe es wirklich gewagt hatte.

Es war ein seltsames Gefühl, ohne Sattel auf einem ungezäumten Pferd zu sitzen. Zoe hielt nur das Ende des Stricks in den Händen, an dem sie Shaman in den Wald geführt hatte. Wie sollte sie Shaman ohne Zügel zum Gehen bewegen?

„Alle Zeichen, die du deinem Pferd gibst, kommen aus deinem Körper“, hatte Caleb in ihrer letzten Reitstunde gesagt. „Nutze deine Beine, deine Füße, dein Gewicht.“

In der Reitstunde hatte sie kläglich versagt, als sie versucht hatte, den Wallach Joey nur mithilfe ihrer Schenkel im Slalom durch eine Reihe von Pylonen zu lenken.

Ob es ihr heute besser gelingen würde? Sie verlagerte ihr Gewicht nach vorn und hob ihren Oberkörper an.

Shaman reagierte sofort. Er setzte einen Fuß vor den anderen und ging langsam über die Wiese in Richtung Fluss.

Am Anfang war Zoe total angespannt, es war so anstrengend, das Gleichgewicht zu halten. Aber nachdem sie die erste Runde auf der Wiese gedreht hatten, wurde sie lockerer und begann zu experimentieren. Wenn sie ihren rechten Oberschenkel gegen Shamans Flanke presste und den Fuß dabei nach hinten nahm, bewegte er sich nach links. Und wenn sie links leichten Druck ausübte, ging er nach rechts.

Doch wie konnte sie ihn dazu bringen, stehen zu bleiben, ohne an den Zügeln zu ziehen? Wieder verließ sie sich auf ihre Intuition, sie setzte sich nach hinten und machte sich dabei schwer.

Shaman hielt an.

Danach versuchten sie einen lockeren Trab. Zoe spannte ihre Muskeln an und stemmte sich nach oben, um Shaman zu beschleunigen. Sobald sie sich entspannte und schwerer wurde, wurde er langsamer.

Sie spürte, dass Shaman nur auf ein Signal wartete, um losgaloppieren zu können, aber das wagte sie noch nicht.

„Beim nächsten Mal“, flüsterte sie. „Das verspreche ich dir. Aber das muss unser Geheimnis bleiben, ja?“