DAS BUCH
Durch puren Zufall erfährt das FBI am 3. März um 19 Uhr abends von einem perfiden Mordanschlag auf Florentyna Kane, die amerikanische Präsidentin. Um 20.30 Uhr wissen fünf Personen alle Details – eine Stunde später sind vier von ihnen tot. Nur der Agent Mark Andrews bleibt übrig. Er hat genau sieben Tage Zeit, das Attentat zu verhindern. Andrews kann sich niemandem anvertrauen, denn der unbekannte Täter scheint aus den eigenen Reihen zu kommen. Und die Frau, die er liebt, ist die Tochter des hauptverdächtigen Senators.
DER AUTOR
Jeffrey Archer, geboren 1940 in London, verbrachte seine Kindheit in Weston-super-Mare und studierte in Oxford. Archer schlug eine bewegte Politiker-Karriere ein, die bis 2003 andauerte. Weltberühmt wurde er als Schriftsteller, sein Durchbruch war die Familiensaga »Kain und Abel«. Archer zählt heute zu den erfolgreichsten Autoren Englands. Sein historisches Familienepos »Die Clifton-Saga« stürmt auch die deutschen Bestsellerlisten und begeistert eine stetig wachsende Leserschar. Archer ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in London und Cambridge.
JEFFREY ARCHER
KAINS ERBE
ROMAN
Aus dem Englischen von
Ilse Winger und Margarete Venjakob
Bearbeitet von Barbara Häusler
WILHELM HEYNE ,VERLAG
MÜNCHEN
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Die Originalausgabe SHALL WE TELL THE PRESIDENT? erschien erstmals 1977 bei Jonathan Cape Ltd.
Der Roman erschien in Deutschland bereits unter dem Titel Das Attentat bei Lübbe.
Die Verwendung des Liedtextes im Kapitel 18 erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Chappell & Co., London
Die Personen und Ereignisse dieses Buches sind – mit Ausnahme historischer Persönlichkeiten und Handlungen – frei erfunden. Jede Ähnlichkeit ist zufällig.
Vollständige deutsche Erstausgabe 06/2018
Copyright © 1977, 1986 by Jeffrey Archer
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Barbara Häusler
Covergestaltung: bürosüd
unter Verwendung von © Trevillion images/Lee Avison
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-20778-6
V003
www.heyne.de
Für Adrian und Anne
Vorbemerkung
Als ich diesen Roman vor langer Zeit schrieb, verlegte ich die Handlung sechs oder sieben Jahre in die Zukunft. Später wurde mir klar, dass ich meine Geschichte umschreiben musste.
In dem Roman »Abels Tochter«, den ich in der Zwischenzeit als Fortsetzung zu »Kain und Abel« geschrieben hatte, wird die Hauptfigur Florentyna Kane nämlich der erste weibliche Präsident der Vereinigten Staaten. Es erschien mir daher nur logisch, die Neufassung »Kains Erbe« um meine erfundene Präsidentin Florentyna Kane kreisen zu lassen und eine Verbindung zu »Kain und Abel« und »Abels Tochter« zu schaffen – und meine Familiensaga damit abzuschließen.
Die wesentlichen Handlungselemente der ersten Fassung habe ich in dieser überarbeiteten Version beibehalten, jedoch einige Änderungen – bedeutende wie auch geringfügige – durchgeführt.
Jeffrey Archer
1
Dienstag, 20. Januar, 12 Uhr 26
»Ich, Florentyna Kane, schwöre feierlich …«
»Ich, Florentyna Kane, schwöre feierlich …«
»… dass ich das Amt eines Präsidenten der Vereinigten Staaten getreulich ausüben werde …«
»… dass ich das Amt eines Präsidenten der Vereinigten Staaten getreulich ausüben werde …«
»… und mit allen meinen Kräften die Verfassung der Vereinigten Staaten erhalten, schützen und verteidigen werde …«
»… und mit allen meinen Kräften die Verfassung der Vereinigten Staaten erhalten, schützen und verteidigen werde. So wahr mir Gott helfe.«
Während ihre Hand noch immer auf der Douay-Bibel lag, lächelte sie – der 43. Präsident – dem First Gentleman zu. Es war das Ende eines Kampfes und der Beginn eines neuen. Florentyna Kane wusste, was Kampf bedeutete. Ihren ersten hatte sie ausgefochten, um in den Kongress gewählt zu werden, dann in den Senat; und schließlich, vier Jahre später, war sie der erste weibliche Vizepräsident der Vereinigten Staaten geworden. Nach einer verbissenen Vorwahlschlacht war es ihr mit knapper Not gelungen, Senator Ralph Brooks beim Nationalkonvent der Demokraten im Juni im fünften Wahlgang zu schlagen. Im November war sie aus der noch grimmigeren Schlacht gegen den republikanischen Kandidaten, einen ehemaligen Kongressabgeordneten aus New York, siegreich hervorgegangen. Florentyna Kane wurde mit 105.000 Stimmen oder einem Prozent Vorsprung Präsidentin – der knappsten Mehrheit in der amerikanischen Geschichte, knapper sogar als die John F. Kennedys, der 1960 mit 118.000 Stimmen Vorsprung über Richard Nixon gesiegt hatte.
Während der Beifall verklang, wartete die Präsidentin, bis die einundzwanzig Salutschüsse abgefeuert waren. Florentyna Kane räusperte sich und wandte sich fünfzigtausend aufmerksamen Bürgern vor dem Kapitol zu, und weiteren zweihundert Millionen, die irgendwo im Lande vor ihren Fernsehschirmen saßen. Decken und Wintermäntel, die bei diesem Anlass normalerweise notwendig waren, brauchte man diesmal nicht. Für Ende Januar war das Wetter außergewöhnlich mild, und die Rasenfläche gegenüber der Ostfront des Kapitols, auf der eine große Menschenmenge lagerte, war zwar feucht, aber nicht mehr schneebedeckt.
»Vizepräsident Bradley, Herr Vorsitzender des Obersten Gerichtshofs, Präsident Carter, Präsident Reagan, ehrwürdige Geistlichkeit, liebe Mitbürger.«
Der First Gentleman hörte zu und lächelte, als er Worte und Sätze wiedererkannte, die er selbst zur Rede der Präsidentin beigesteuert hatte.
Der Tag hatte am Morgen um halb sieben begonnen.
Nach dem glanzvollen Konzert, das ihnen zu Ehren am Vorabend der Inauguration veranstaltet worden war, hatten sie beide nicht sehr gut geschlafen. Florentyna hatte zum letzten Mal ihre Antrittsrede durchgelesen, entscheidende Worte mit Rotstift unterstrichen und noch geringfügige Änderungen vorgenommen.
Als Florentyna an diesem Morgen aufgestanden war, hatte sie rasch ein blaues Kleid aus ihrer Garderobe gewählt. Sie steckte die kleine, zarte Brosche an, die Richard, ihr erster Mann, ihr kurz vor seinem Tod geschenkt hatte.
Jedes Mal, wenn sie diese Brosche trug, dachte sie an ihn; wie er an jenem Tag das Flugzeug nicht mehr erreicht hatte wegen eines Streiks des technischen Personals, dann jedoch ein Auto mietete, um nur ja an Florentynas Seite sein zu können, wenn sie ihre Rede in Harvard hielt.
Richard sollte ihre Rede jedoch nie hören, die Newsweek als »Plattform für die Präsidentschaft« bezeichnete, denn als Florentyna das Krankenhaus erreichte, war er bereits tot.
Abrupt kehrte sie in die reale Welt zurück, deren mächtigste politische Führerin sie war. Und doch nicht mächtig genug, um Richard zurückzuholen. Florentyna betrachtete sich prüfend im Spiegel. Sie fühlte sich zuversichtlich. Schließlich war sie nun schon seit fast zwei Jahren Präsidentin, seit Präsident Parkins plötzlichem Tod.
Historiker wären überrascht, wenn sie herausfänden, dass sie vom Tod des Präsidenten erfahren hatte, als sie gerade versuchte, einen Single Putt gegen ihren ältesten Freund und künftigen Ehemann Edward Winchester ins Loch zu bringen.
Sie hatten ihr Spiel unterbrochen, als Hubschrauber über ihren Köpfen kreisten. Einer davon landete, ein Captain der Marines sprang heraus, rannte auf sie zu, salutierte und sagte: »Madam President, der Präsident ist tot.« Jetzt hatte das amerikanische Volk bestätigt, dass es gewillt war, weiterhin mit einer Frau im Weißen Haus zu leben. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hatten die Vereinigten Staaten eine Frau in die begehrteste politische Position gewählt, die sie zu vergeben hatten. Florentyna warf einen Blick aus dem Schlafzimmerfenster, auf den breiten, ruhig dahinfließenden Potomac, der im Licht des frühen Morgens schimmerte.
Sie verließ das Schlafzimmer und ging geradewegs in das private Esszimmer, wo Edward, ihr Ehemann, mit ihren Kindern William und Annabel plauderte. Florentyna küsste alle drei, dann setzten sie sich zum Frühstück.
Sie lachten über die Vergangenheit und sprachen über die Zukunft, aber als die Uhr acht schlug, verabschiedete sich die Präsidentin, um sich ins Oval Office zu begeben. Ihre Assistentin und Pressechefin Janet Brown saß auf dem Korridor.
»Guten Morgen, Madam President.«
»Guten Morgen, Janet. Alles in Ordnung?«, fragte Florentyna lächelnd.
»Ich glaube schon, Madam.«
»Gut, warum planen Sie den Tag nicht wie gewohnt? Kümmern Sie sich nicht um mich. Ich werde Ihren Anordnungen folgen. Was soll ich zuerst machen?«
»842 Telegramme und 2412 Briefe sind eingetroffen. Die werden warten müssen, bis auf die Briefe an die Staatsoberhäupter. Die Antworten werden bis spätestens zwölf Uhr fertig sein.«
»Gut, schreiben Sie das heutige Datum, das wird ihnen gefallen. Ich werde jeden Brief persönlich unterzeichnen, sobald er fertig ist.«
»Gern, Madam, und hier ist Ihr Tagesprogramm. Der offizielle Teil beginnt um elf Uhr mit einem Imbiss im Weißen Haus mit den früheren Präsidenten Carter und Reagan. Dann fahren Sie zur Inauguration. Nach dem Lunch im Senat nehmen Sie vor dem Weißen Haus die Parade ab.«
Janet Brown schob ihr ein geheftetes Bündel Karteikarten zu, 7,5 mal 12,5 Zentimeter im Format, wie sie es täglich seit fünf Jahren tat, nachdem sie zu Florentynas Stab gestoßen war – damals, als diese zum ersten Mal in den Kongress gewählt worden war. Auf den Karten war im Stundentakt das Tagesprogramm der Präsidentin zusammengefasst. Florentyna überflog es und dankte Janet Brown. Edward Winchester erschien in der Tür. Wie immer lächelte er bewundernd, als sie sich ihm zuwandte. Sie hatte ihren impulsiven Entschluss, ihn zu heiraten – damals auf dem Golfplatz, beim achtzehnten Loch, an jenem denkwürdigen Tag, als sie von Präsident Parkins Tod erfuhr –, kein einziges Mal bereut und war überzeugt, dass Richard diese Entscheidung gebilligt hätte.
»Ich werde bis elf Uhr über meinen Akten sitzen«, teilte sie ihm mit. Er nickte und ging hinaus.
Vor dem Haus hatten sich bereits eine Menge Gratulanten angesammelt.
»Ich wünschte, es würde regnen«, sagte H. Stuart Knight, der Chef des Secret Service, zu seinem Referenten. Auch für ihn war es einer der wichtigsten Tage im Leben. »Ich weiß, dass die meisten dieser Leute harmlos sind, aber Menschenansammlungen machen mir Angst.«
Vor dem Haus standen etwa hundertfünfzig Menschen, fünfzig davon waren Knights Leute. Die Vorhut, die immer fünf Minuten vor dem Präsidenten losfuhr, prüfte bereits akribisch die Route zum Weißen Haus. Männer des Secret Service beobachteten kleine Menschenansammlungen entlang der Strecke. Einige der Leute schwenkten Fähnchen. Sie waren hier, um der Inauguration beizuwohnen und ihren Enkelkindern eines Tages erzählen zu können, dass sie dabei gewesen waren, als Florentyna Kane Präsidentin der Vereinigten Staaten wurde.
Um zehn Uhr neunundfünfzig öffnete der Butler das Tor, und die Menge begann zu jubeln.
Die Präsidentin und ihr Mann winkten den lächelnden Menschen zu, und nur aus langjähriger, beruflicher Erfahrung wussten sie, dass fünfzig Augenpaare nicht auf sie gerichtet waren.
Um elf Uhr hielten zwei schwarze Limousinen lautlos vor dem Nordeingang des Weißen Hauses. Die Ehrengarde der Marineinfanteristen salutierte vor den beiden Expräsidenten und deren Frauen, als diese von Präsidentin Kane vor der Säulenhalle begrüßt wurden – eine Ehre, die gewöhnlich nur Staatschefs auf Staatsbesuch zuteilwurde. Die Präsidentin führte sie persönlich in die Bibliothek, wo sie zusammen mit Edward, William und Annabel den Kaffee nehmen sollten.
Der ältere der Expräsidenten brummte, seine Gebrechlichkeit sei darauf zurückzuführen, dass er in den letzten acht Jahren auf die Kochkünste seiner Frau angewiesen gewesen sei. »Sie hat jahrzehntelang keine Bratpfanne angerührt, aber sie macht es von Tag zu Tag besser. Sicherheitshalber hab ich ihr das New-York-Times-Kochbuch gekauft; das ist so ungefähr die einzige Publikation dieser Zeitung, die mich nicht verrissen hat.« Florentyna lachte nervös. Sie wollte mit den offiziellen Feierlichkeiten fortfahren, andererseits war sie sich bewusst, dass es den Expräsidenten Freude bereitete, wieder im Weißen Haus zu sein. Daher tat sie so, als höre sie aufmerksam zu. Sie hatte die Maske aufgesetzt, die ihr nach fast zwanzig Jahren in der Politik zur zweiten Natur geworden war.
»Madam President …« Florentyna musste rasch schalten, damit niemand ihre instinktive Reaktion auf diese Anrede bemerkte. »Es ist eine Minute nach zwölf.« Sie sah zu ihrer Pressesekretärin auf, erhob sich und führte die Expräsidenten und deren Frauen zu den Stufen des Weißen Hauses. Ein letztes Mal stimmte die Musikkapelle der Marines »Hail to the Chief« an. Um ein Uhr würde sie es erneut zum ersten Mal für die neue Präsidentin spielen.
Die beiden früheren Präsidenten wurden zum ersten Wagen der Autokolonne geleitet – eine schwarze Limousine mit kugelsicherem Verdeck. Der Sprecher des Repräsentantenhauses, Jim Wright, und der Vorsitzende der Mehrheitspartei im Senat, Robert Byrd, der den Kongress vertrat, saßen bereits im zweiten Auto. Direkt dahinter kamen zwei Wagen mit Sicherheitsbeamten. Florentyna und Edward folgten im fünften Auto, im nächsten dann Vizepräsident Bradley aus New Jersey und seine Frau.
H. Stuart Knight führte eine weitere Routinekontrolle durch. Aus seinen fünfzig Leuten waren jetzt hundert geworden. Bis Mittag würden es einschließlich der Stadtpolizei und des FBI-Kontingents fünfhundert sein. Nicht zu vergessen die Jungs vom CIA, dachte Knight reumütig. Doch die sagten ihm bestimmt nicht, ob sie da sein würden oder nicht, und selbst er konnte sie in einer Menschenmenge nicht immer erkennen. Er hörte den Beifall der Zuschauer, der einen Höhepunkt erreichte, als die Präsidentin in Richtung Kapitol losfuhr.
Edward plauderte liebenswürdig, doch Florentynas Gedanken waren anderswo. Sie winkte mechanisch, ging im Geist aber noch einmal ihre Rede durch. Der Konvoi rollte am renovierten Willard Hotel und sieben in Bau befindlichen Bürogebäuden vorbei, an übereinandergeschachtelten Wohneinheiten, die den Felsbehausungen von Indianern glichen, an neuen Geschäften und Restaurants und breiten Gehsteigen und am J. Edgar Hoover Building, dem Hauptquartier des FBI, das trotz der Bemühungen einiger Senatoren immer noch den Namen seines ersten Direktors trug. Wie sich diese Straße doch in den letzten fünfzehn Jahren verändert hatte!
Die Autos näherten sich dem Kapitol, und Edward unterbrach die Träumereien der Präsidentin. »Gott sei mit dir, Liebes.« Sie lächelte und fasste nach seiner Hand. Die sechs Wagen hielten an.
Präsidentin Kane betrat das Erdgeschoss des Kapitols. Edward blieb einen Augenblick zurück, um dem Chauffeur zu danken. Die anderen Wageninsassen wurden beim Aussteigen sofort von Sicherheitsbeamten umringt. Sie winkten der Menge zu, dann gingen sie einzeln zu ihren Plätzen auf der Einführungsplattform. Inzwischen führte der Zeremonienmeister Präsidentin Kane schweigend durch den Tunnel, wo alle zehn Schritte Marineinfanteristen salutierten, zu den Empfangsräumen. Dort wurde sie von Vizepräsident Bradley begrüßt. Sie standen da, redeten Belanglosigkeiten, und keiner hörte auf die Erwiderungen des anderen.
Die beiden Expräsidenten kamen lächelnd aus dem Tunnel. Zum ersten Mal sah der ältere von ihnen so alt aus, wie er tatsächlich war, sein Haar schien über Nacht ergraut zu sein. Wieder formelles Händeschütteln zwischen ihnen und Florentyna, eine Formalität, die sie heute noch siebenmal wiederholen würden.
Der Zeremonienmeister führte sie durch einen kleinen Empfangsraum auf die Plattform. Wie für jede Inauguration eines Präsidenten hatte man sie auch diesmal auf der Osttreppe des Kapitols errichtet. Während die Präsidentin und die Expräsidenten winkten, erhob sich die Menschenmenge und jubelte; schließlich nahmen alle Platz und warteten schweigend auf den Beginn der Zeremonie.
»Meine Mitbürger, ich trete mein Amt in einem Augenblick an, in dem die weltweiten Probleme der Vereinigten Staaten groß und bedrohlich sind. In Südafrika ist zwischen Schwarzen und Weißen ein unbarmherziger Bürgerkrieg entbrannt. Im Nahen Osten ist man dabei, die verheerenden Folgen des letztjährigen Krieges zu beseitigen; beide Seiten beschäftigen sich jedoch mehr mit der Wiederaufrüstung als mit ihren Schulen und Farmen. An den Grenzen zwischen China und Indien sowie zwischen Russland und Pakistan droht ein Krieg – ein Krieg also zwischen vier der mächtigsten und bevölkerungsreichsten Nationen der Erde. Südamerika schwankt zwischen extremer Rechter und extremer Linker, aber weder das eine noch das andere Extrem scheint imstande zu sein, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Zwei der ursprünglichen Unterzeichnerstaaten der NATO, Frankreich und Italien, stehen kurz davor, aus der Gemeinschaft auszutreten.
1949 verkündete Präsident Harry Truman, dass die Vereinigten Staaten bereit seien, mit aller Macht und mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die Freiheit überall dort zu verteidigen, wo sie in Gefahr scheint. Heute könnte man behaupten, dass diesem Großmut kein Erfolg beschieden war, dass Amerika zu schwach war und es heute noch ist, um die ganze Last eines Weltpolizisten zu tragen. Angesichts der sich ständig wiederholenden internationalen Krisen könnte sich jeder amerikanische Bürger mit Recht fragen, warum er sich für Ereignisse interessieren soll, die sich so fern von seiner Heimat abspielen; warum er für die Verteidigung der Freiheit außerhalb seines Landes verantwortlich gemacht wird.
Ich muss diese Zweifel nicht mit eigenen Worten beantworten. ›Kein Mensch ist eine Insel‹, schrieb John Donne vor mehr als dreieinhalb Jahrhunderten. ›Jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents. ‹ Die Vereinigten Staaten erstrecken sich vom Atlantik bis zum Pazifik und von der Arktis bis zum Äquator. ›Ich bin ein Teil der Menschheit; frag daher niemals, für wen die Glocken läuten; sie läuten immer für dich.‹«
Edward gefiel dieser Teil der Rede; er drückte seine eigenen Gefühle aus. Aber er war nicht sicher gewesen, ob das Publikum mit dem gleichen Enthusiasmus reagieren würde, mit dem es Florentynas rhetorische Höhenflüge in der Vergangenheit begrüßt hatte. Der donnernde Applaus, der ihm in den Ohren dröhnte, beruhigte ihn. Der Zauber wirkte noch immer.
»Wir werden in unserem Land einen Gesundheitsdienst einrichten, um den uns die ganze freie Welt beneiden wird. Er wird allen Bürgern die gleichen Möglichkeiten zu bester medizinischer Betreuung bieten. Kein Amerikaner darf sterben, weil er es sich nicht leisten kann zu leben.«
Viele Demokraten hatten wegen Florentyna Kanes Einstellung zu einer allgemeinen Krankenversicherung nicht für sie gestimmt. Ein alter Landarzt etwa hatte zu ihr gesagt: »Die Amerikaner müssen lernen, auf eigenen Beinen zu stehen.« – »Wie sollen sie das denn machen, wenn sie bereits auf dem Rücken liegen?«, erwiderte Florentyna. – »Gott bewahre uns vor einer Frau als Präsident«, meinte der Arzt und wählte die Republikaner.
»Die Hauptgrundlage dieser Regierung werden jedoch Recht und Ordnung sein, und zu diesem Zwecke beabsichtige ich, dem Kongress einen Gesetzesentwurf bezüglich des Verbots des freien Verkaufs von Feuerwaffen vorzulegen.«
Der Applaus der Menge klang nicht gerade spontan.
Florentyna hob den Kopf. »Und so sage ich euch, meine Mitbürger, lasst die letzten Jahre dieses Jahrhunderts eine Zeit sein, in der die Vereinigten Staaten die Ersten auf dieser Welt sind – sowohl, was Gerechtigkeit betrifft, als auch Stärke, die Sorge für andere als auch den Unternehmungsgeist. Eine Zeit, in der unser Land den Krieg erklärt – den Krieg gegen Krankheit, den Krieg gegen Diskriminierung und Benachteiligung, den Krieg gegen die Armut.«
Die Präsidentin setzte sich, und das gesamte Publikum erhob sich. Zehnmal war die sechzehnminütige Rede von Applaus unterbrochen worden. Doch als sich die Präsidentin jetzt vom Mikrofon abwandte in der Gewissheit, dass die Menge auf ihrer Seite war, blickte sie nicht auf die jubelnden Menschen. Zwischen den Würdenträgern auf der Plattform suchte ihr Blick einen ganz bestimmten Menschen. Sie ging auf ihren Mann zu, küsste ihn auf die Wange und nahm dann seinen Arm, bevor der tüchtige Zeremonienmeister sie beide entschlossen von der Plattform geleitete.
H. Stuart King hasste alles, was nicht programmgemäß ablief, und heute lief nichts nach Plan. Alle würden mindestens dreißig Minuten zu spät zum Lunch kommen.
Sechsundsiebzig Gäste standen auf, als die Präsidentin den Saal betrat. Es waren die Männer und Frauen, die jetzt die Demokratische Partei beherrschten. Das Establishment des Nordens, das beschlossen hatte, die Lady zu unterstützen, war anwesend, ausgenommen jener, die für Senator Ralph Brooks gestimmt hatten.
Einige der Gäste waren bereits Mitglieder von Florentynas Kabinett, und jeder der Anwesenden hatte irgendwie dazu beigetragen, dass sie ins Weiße Haus zurückkehren konnte.
Die Präsidentin hatte weder Gelegenheit noch Lust, in Ruhe zu essen, denn jeder der Anwesenden wollte sofort mit ihr sprechen. Für das Menü hatte man ihre Lieblingsspeisen ausgewählt: zuerst Hummersuppe, dann Roastbeef und zum Abschluss die pièce de résistance des Küchenchefs: eine glasierte Schokoladentorte in Form des Weißen Hauses. Edward bemerkte, dass seine Frau das ihr servierte Tortenstück, das akkurat dem berühmten Oval Office nachgebildet war, nicht anrührte. »Deswegen hat sie nie Gewichtsproblem«, meinte Marian Edelmann, die zur allgemeinen Überraschung Justizministerin geworden war und Edward gerade einen Vortrag über die Bedeutung der Kinderrechte gehalten hatte. Edward hatte versucht zuzuhören.
Als die letzte Hand geschüttelt und der letzte Flügel des Weißen Hauses in Tortenform vertilgt worden war, hatten die Präsidentin und ihre Gäste, wie erwartet, fünfundvierzig Minuten Verspätung. Als sie schließlich auf der Tribüne vor dem Weißen Haus zur großen Parade eintrafen, freute sich in der Menge von 200.000 Zuschauern ohne Zweifel am meisten die Ehrengarde, die mehr als eine Stunde strammgestanden hatte. Die Präsidentin nahm ihren Platz ein, und die Parade begann. Die Ehrenformation marschierte an der Tribüne vorüber, die Kapelle des Marine Corps spielte »God bless America«. Plattformwagen aus jedem Bundesstaat – einige davon, wie der aus Illinois, brachten Florentynas polnische Herkunft in Erinnerung – verliehen der feierlichen Parade etwas Farbe und Heiterkeit.
Als die dreistündige Parade endlich vorüber und der letzte Uniformierte am Ende der Avenue verschwunden war, beugte sich Janet Brown zur Präsidentin und fragte sie, was sie bis zum ersten Inaugurationsball zu tun gedenke.
»Sämtliche Kabinettsernennungen und die Briefe an die Staatschefs unterschreiben und den Schreibtisch für morgen in Ordnung bringen«, war die prompte Antwort.
Die Präsidentin begab sich direkt ins Weiße Haus. Als sie durch die Säulenhalle an der Südseite schritt, spielte die Kapelle des Marine Corps »Hail to the Chief«. Bevor sie das Oval Office betrat, zog sie den Mantel aus. Mit gelassener Selbstverständlichkeit setzte sie sich an den großen, mit Leder bespannten Schreibtisch aus Eichenholz. Einen Moment lang blickte sie sich um. Man hatte alles dorthin gestellt, wo sie es haben wollte; hinter ihr hing ein Bild von Richard und William beim Football. Vor ihr lag ein Briefbeschwerer mit dem Zitat von George Bernard Shaw, das Annabel so oft zitierte: »Manche Menschen sehen die Dinge, wie Sie sind, und fragen, warum; ich träume von Dingen, die es nie gab, und frage, warum nicht.« Zur Linken stand die Flagge des Präsidenten, zur Rechten jene der Vereinigten Staaten. Die Mitte des Schreibtischs nahm ein Modell des Baron-Hotels in Warschau ein, das William aus Pappmaché angefertigt hatte, als er vierzehn gewesen war. Im Kamin brannte ein Kohlenfeuer, und ein Porträt von Abraham Lincoln blickte auf die neue Präsidentin herab. Vor den großen Fenstern breitete sich die grüne Rasenfläche ohne Unterbrechung bis hin zum Washington Monument aus. Die Präsidentin lächelte. Sie war wieder zu Hause.
Florentyna Kane griff nach einem Stoß offizieller Dokumente und warf einen Blick auf die Namen jener, die ihrem Kabinett angehören sollten; mehr als dreißig Ernennungen mussten vorgenommen werden. Die Präsidentin unterzeichnete jede mit einem schwungvollen Schnörkel. Die letzte Urkunde war das Ernennungsdekret für Janet Brown, ihre künftige Stabschefin. Florentyna gab Anweisung, die Papiere sofort an den Kongress weiterzuleiten. Janet Brown nahm die Schriftstücke, die in den nächsten vier Jahren die amerikanische Geschichte entscheidend beeinflussen würden, und sagte: »Danke, Madam President.« Dann fragte sie: »Was möchten Sie als Nächstes in Angriff nehmen?«
»Fang immer mit dem größten Problem an, hat Lincoln geraten. Gehen wir also die Gesetzesvorlage über die Kontrolle der Handfeuerwaffen durch.«
Janet Brown erschauderte. Sie wusste nur allzu gut, dass die Kämpfe im Repräsentantenhaus in den nächsten zwei Jahren höchstwahrscheinlich ebenso grimmig und zäh werden würden wie der Bürgerkrieg, mit dem Lincoln konfrontiert gewesen war. So viele Menschen betrachteten den Besitz von Waffen immer noch als ihr unveräußerliches Geburtsrecht. Sie konnte nur beten, dass das Ganze nicht genauso enden würde – mit der Spaltung des Repräsentantenhauses.