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Für Silke und Luis

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

2. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96425-8

© Piper Verlag GmbH, München 2012

Umschlagkonzeption: Büro Hamburg

Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Umschlagabbildung: Rio de Janeiro (Fernando Bueno/Getty Images)

Karte: cartomedia Karlsruhe

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Tudo bem?

Die Portugiesen haben Brasilien vor gut 500 Jahren entdeckt, obwohl Pedro Álvares Cabral eigentlich nach Indien segeln wollte. Meine Premiere ereignete sich etwas später, aber absichtlich. An einem kalten und dunklen Morgen im Januar 1986 stiegen wir in ein Flugzeug und flogen aus dem Münchner Winter in den Hochsommer Südamerikas. BRIC-Staaten kannte man damals noch nicht und auch nicht den Gastgeber der Fußball-WM 2014 und von Olympia 2016, doch Brasilien war längst ein Ziel der Sehnsucht.

Im Rucksack hatten wir überflüssige Malariapillen und im Kopf die Bilder und Legenden aus Rio de Janeiro, Manaus, Salvador da Bahia, Iguaçu, von Stränden, Fußball, Samba, Festen, Wasserfällen, Riesenschlangen, Flüssen und Mädchen von Ipanema. Nach zehn Stunden ging die Maschine zwischen Palmen und Atlantik in Recife im brasilianischen Nordosten nieder. Es war grell, bunt, laut und heiß. Ein uns vorausgeeilter Freund trug einen schicken Strohhut zum krebsroten Gesicht und beherrschte schon die lässige Zauberformel tudo bem, alles klar. Der Geruch von Alkohol stieg uns sofort in die Nase, viele Autos fuhren bereits wie beschwipst mit Ethanol. Willkommen in Brasilien. Bem-vindos ao Brasil. Bra-si-u.

Der arme Bundesstaat Pernambuco war kein schlechter Start für uns Debütanten, die Gegend gehörte einst zu den Zentren von Zuckerrohrplantagen und Sklaverei. Hier vermischen sich indianisches, afrikanisches, portugiesisches und sogar holländisches Erbe mit dem Tourismus der Neuzeit. Recife bedeutet Riff und wird wegen seiner Flüsse und Brücken in leichter Übertreibung auch brasilianisches Venedig genannt. Die modrige Altstadt hatte morbiden Charme und das Strandrevier Boa Viagem (Gute Reise) einen Hauch von Miami Beach. Wir sicherten uns umgehend einen Sonnenbrand und schwammen im Meer – von Haien war noch keine Rede, von denen sollte ich erst 25 Jahre danach erfahren. Wir schlürften Caipirinha, in Deutschland seinerzeit noch exotisch, und die klare Milch aus Kokosnüssen, denen Künstler mit Macheten Löcher für die Strohhalme in die Schale hieben. Wir erklommen schwitzend das benachbarte Kolonialjuwel Olinda, aßen gegrillten Käse, der beim Kauen quietschte, und entdeckten zum ersten Mal das Kreuz des Südens am Himmel. Wir tranken eisiges Bier, sahen spannende Gesichter und hörten gute Musik. Wir waren begeistert.

Obendrein steckte uns dieser Tick an. Daumen hoch, dazu zwei Wörter: tudo bem, gesprochen »tudu beng«, alles klar, oder tudo joya, alles Schmuck, oder tudo beleza, alles Schönheit. Der brasilianische Optimismus erschien unerschütterlich zu sein, dabei war der Aufschwung in jenen Jahren noch eine Vision. Erst 1985 hatte die Militärdiktatur abgedankt, und es regierte der korruptionsbewährte Ersatzmann José Sarney, der gewählte Präsident Tancredo Neves war vor seinem Amtsantritt gestorben. Brasilien galt als Belindia, eine Mischung aus Elite und Entwicklung à la Belgien und Armut und Rückstand à la Indien. Als verschlafener Riese, mit dem man gut feiern konnte, aber besser keine Geschäfte machte. Lebensfroh, verschuldet, inflationär, gefährlich. »Land der Zukunft« nannte der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig seine Hommage an sein tropisches Exil, ehe er sich 1942 in Petrópolis bei Rio das Leben nahm. »Ja, Land der Zukunft«, spotteten die Brasilianer, »wir werden es immer bleiben.«

Beim ersten Mittagsschlaf im Sand wurden unserem Freund Andi die Schuhe geklaut, er erstand zügig Ersatz. »O Brasil não é para principiantes«, »Brasilien ist nichts für Anfänger«, fand Tom Jobim, der Komponist des »Garota de Ipanema«. Wir Anfänger amüsierten uns aber prächtig, und Brasilien war noch herrlich billig, trotz ständig steigender Preise. Der Cruzeiro oder Cruzado oder wie die Währung gerade hieß, verlor stündlich an Wert, die Tarife des Taximeters wurden mit Tabellen umgerechnet. Die Inflation von 1979 bis 1994 betrug, Achtung: 13 342 346 717 617,70 Prozent, 13,3 Billionen Prozent. Am Duschkopf im Hotel musste man für warmes Wasser eine Elektroheizung mit halb nackten Kabeln anknipsen und hoffen, keinem Stromschlag zu erliegen. Ferngespräche gestalteten sich so kompliziert wie Flugreservierungen. Andererseits: Tem jeito, alles lässt sich regeln. Das Motto Ordem e progresso (Ordnung und Fortschritt) stand wie eine Verheißung im grün-gelb-blauen Banner mit dem Sternenhimmel, ein Stern für jeden Bundesstaat.

Wir flogen mit Fluglinien, die es mittlerweile nicht mehr gibt. Varig, Transbrasil, Cruzeiro, Vasp – alle verschwunden. Die Nachfolger heißen TAM, Gol, Azul, Webjet, TRIP, Avianca, man reserviert online, und der brasilianische Luftraum wird immer enger. Wir kauften uns am Kiosk den Reiseführer »Quatro Rodas« (»Vier Räder«), Brasiliens Michelin. Wir fuhren Tage und Nächte in tiefgekühlten Bussen, über Landstraßen von einem Busbahnhof (rodoviária) zum nächsten. Jeder Besucher erlebt da auf dem Landweg ansatzweise ein Roadmovie wie in »Central do Brasil«, dem rührenden Meisterwerk des Regisseurs Walter Salles.

Brasilien ist 24-mal so groß wie Deutschland. Es reicht in seiner Länge von Chuí an Uruguays Grenze bis zum Monte Caburaí an der Schwelle zu Venezuela – früher galt Oiapoque als nördlichster Ort, auf der anderen Seite des Flusses liegen Französisch-Guayana und die Europäische Union. Und in seiner Breite spannt sich der Koloss von João Pessoa im Osten bis an die peruanische Grenze im Regenwald von Acre, noch östlicher liegt die Trauminsel Fernando de Noronha vor Pernambuco. Ein Kontinent mit 7500 Kilometer Küste, enormem Regenwald, Bodenschätzen, Tieren und Pflanzen aller Art und bald 200 Millionen Bewohnern, darunter 238 indigenen Völkern, von denen einige mit der Moderne nichts zu tun haben wollen. Brasilien hat die zweitgrößte dunkelhäutige Bevölkerung nach Nigeria (»Gibt es bei euch auch Schwarze?«, fragte einst US-Präsident George W. Bush seinen verdutzten Kollegen Lula) und einige der größten japanischen, italienischen und deutschen Gemeinden außerhalb Japans, Italiens und Deutschlands. Brasilien besitzt das größte Flusssystem der Erde und das zweitgrößte Oktoberfest: das von Blumenau mit seinen Maßkrügen, Lederhosen und Blaskapellen.

Auf dem Markt Ver-o-Peso, »Achte aufs Gewicht« (und achte auf deine Kamera), in Belém an der Amazonasmündung erstand ich aus unerfindlichen Gründen ein Haigebiss. Dort gibt es auch eingelegte Flussdelfinpenisse und präparierte Piranhas, falls jemand so was mag. In dieser Tropenstadt wurden wir außerdem Zeuge, wie in einer Freiluftbar einer dem anderen nach einem angeregten Gespräch die Bierflasche über den Schädel zog und das Opfer mit Handtuch über dem blutenden Schädel fürsorglich ins Taxi packte. Rio de Janeiro empfing uns dann wie eine Erscheinung, die Cidade Maravilhosa trommelt einem auf die Sinne. Ein sagenhafter Wurf der Natur. Hier der schönste Blick auf Erden, von Zuckerhut und Corcovado, und die coolsten Menschen. Dort Gewalt und Misere. In jener Zeit amüsierte sich noch der Posträuber Ronald Biggs in den Hügeln, den haben wir leider verpasst. Dafür gingen wir nachts an der Copacabana baden – ein No-go bei Dunkelheit, es ist aber nichts passiert.

In Salvador bekamen wir die bunten Bändchen mit den drei Knoten für drei Wünsche umgebunden. Wir landeten in Ceará in einem Kaff namens Canoa Quebrada, »Zerbrochenes Kanu«, an unendlichen Sanddünen bei Fortaleza, wo unser Freund Armin nach schattenloser Plauderstunde mit Sonnenstich in die Hängematte fiel. Wir wackelten über eine Urwaldpiste nach Trancoso an einem Bilderbuchstrand Bahias, wo eine Köchin am fußballfeldgroßen Platz versicherte, sie träume ihre Rezepte. Man hätte sich an beiden Orten eine Hütte kaufen sollen, man wäre heute reich und entspannt, denn solch ehemalige Geheimtipps avancierten zu Hotspots.

Seither kam ich sehr oft nach Brasilien, als Urlauber und als Reporter. Wir standen vor den Wassermassen von Iguaçu, wanderten auf Boipeba, staunten über die Schmetterlinge am Rio Xingu und lernten, dass São Paulos Sushi unschlagbar ist. Ich erlebte Porto Alegre als Mekka der Antikapitalisten und eine sündteure Silvesternacht in Praia do Rosa bei Florianópolis. Ich erfuhr, dass die Dengue-Moskitos vom Stamm Aedes aegypti bevorzugt vormittags bis in Kniehöhe stechen und die Gesundheitsbehörde Fiocruz und Labors nach einem Impfstoff fahnden. Ich verstand, dass man ohne die Steuernummer CPF nicht mal ein Kartenhandy kriegt, aber selbst für eine Zeitung eine Plastiktüte bekommt. Und vor allem sah ich, wie sehr sich dieses Brasilien veränderte.

1994 bekamen die Brasilianer endlich eine Währung, die ihnen nicht zwischen den Fingern zerrann, den Real. Der frühere Gewerkschaftsführer Luiz Inácio Lula da Silva wurde Präsident und Weltstar, ihm folgte die ehemalige Guerillera Dilma Rousseff, einst Opfer der Folterknechte. Ein Wirtschaftswunder nahm seinen Lauf. Ein Ökonom ernannte Brasilien, Russland, Indien und China zum BRIC-Klub der aufsteigenden Schwellenländer. Statt Schuldenbergen und Hyperinflation werden Wachstum und Devisenreserven gemeldet. Brasilien wurde plötzlich zur Hoffnung für Investoren und Immigranten. Die Republik besitzt eine der größten funktionierenden Demokratien der Welt, hat trotz aller Probleme freundliche Menschen, interessante Städte und traumhafte Landschaften und wird sogar von Naturkatastrophen weitgehend verschont. Sollten Stefan Zweig und auch die Hymne endlich recht bekommen? Gigante pela própria natureza, és belo, és forte, impávido colosso, e o teu futuro espelha essa grandeza, heißt es da. »Von Natur aus ein Gigant, bist du schön und stark, unerschrockener Koloss, und in deiner Zukunft spiegelt sich diese Größe.«

São Paulo ist die größte deutsche Industriestadt außerhalb Deutschlands und das New York Lateinamerikas. In zwölf sündteure Stadien lädt Brasilien 2014 zur Fußball-WM, das Finale ereignet sich in Rios mühsam umgebautem Maracanã-Stadion – 64 Jahre nach dem Trauma von 1950 gegen Uruguay. Der sechste Titel soll her, zuletzt hatte die Seleção oft enttäuscht. 2016 darf Rio dann die Olympischen Spiele ausrichten, das Gesicht der Stadt wird geliftet. Einige Favelas wurden ohne Rücksicht auf Verluste geräumt und von der Friedenspolizei besetzt – Brasiliens hohe Mordrate ging an den einen Orten zurück und stieg an anderen an. Obendrein fand man im Meer Öl und Gas. »Brazil takes off«, jubelte der Economist und ließ die Jesus-Statue Cristo Redentor auf seinem Cover wie eine Rakete starten. Europa versank in der Krise, Brasilien hob ab.

Budweiser, Beck’s und Burger King sind mittlerweile brasilianisch, wer hätte das gedacht. Die Liste einheimischer Weltmarken reicht von der Brauerei AB-InBev über den Flugzeugbauer Embraer bis zu den Gummischlappen Havaianas. Der Milliardär Eike Batista aus Rio wollte sogar der reichste Krösus werden, ehe sein Vermögen zerschmolz. Immer noch leidet das Land unter seinem Custo Brasil, den brasilianischen Nebenkosten. Manches Projekt verirrt sich im Dschungel von Korruption, Bürokratie und Gemütlichkeit. Mit Milliarden Reais sollen marode Straßen, Eisenbahnen und Flughäfen endlich der Neuzeit angepasst werden. Es heißt, auch Terminals wie Guarulhos oder Galeão würden eines Tages funktionieren. Doch erst mal protestierten im Juni 2013 Hunderttausende Brasilianer während des Konföderationen-Pokals gegen erhöhte Fahrpreise im Nahverkehr, überteuerte Lebenskosten, kleptomanische Politiker und horrende Ausgaben für WM und Olympia. Es waren die größten Demonstrationen seit Jahrzehnten, es gab zwischen friedlichen Kundgebungen auch ein paar Krawalle und brutale Einsätze der Militärpolizei, kaum jemand hatte mit diesem gewaltigen Wutanfall gerechnet, binnen weniger Tage litt das Bild vom aufstrebenden Brasilien. Plötzlich ging die Mittelschicht auf die Straße. O gigante acorda stand auf Plakaten, »der Riese wacht auf«, oder Copa pra quem?, »WM für wen?«. Vernünftige Schulen und Krankenhäuser seien wichtiger als luxuriöse Fußballstadien, verkündeten die Widersacher – zu Recht. »Entschuldigen Sie die Störung« war auf Transparenten zu lesen, »wir verändern Brasilien«. Der Anthropologe Roberto DaMatta nannte es »eine Revolte des gesunden Menschenverstandes. Es geht gegen eine totale Ineffizienz. Es gibt dieses Wunderland nicht, von dem manche gesprochen hatten.« Brasiliens Luftschloss schien zu zerplatzen. Der Economist ließ die Rakete über Rio abstürzen und fragte: »Hat es Brasilien vermasselt?«

Preislich sind Rio de Janeiro und São Paulo bereits Weltspitze und für gewöhnliche Brasilianer kaum mehr zu bezahlen, Gäste werden sich wundern. Zwar stiegen Millionen Brasilianer in die Mittelschicht auf und verstärken den Kaufrausch in den Shopping Malls, doch trotzdem trennen Villen und Baracken nach wie vor Welten. Immer mehr Autos kriechen durch immer längere Staus, betankt mit Treibstoff aus dem Meeresboden und von Zuckerrohrfeldern. Sojaplantagen wuchern. Ich lernte, dass die dampfende Boomtown Cuiabá der geografische Mittelpunkt Südamerikas ist und sein Agrarzentrum. Wir trafen dort den Sojakönig Blairo Maggi, dem in diesem Bundesstaat Mato Grosso, »Dichter Wald«, 400 000 Hektar Sojafelder gehören. Er war gleichzeitig Gouverneur und übernahm nachher als Senator den Umweltausschuss – der Bock als Gärtner. Der Regenwald schrumpft derweil, wir flogen mit Ökologen über den Amazonas und fuhren mit dem Boot. Wir sahen, wie in der Wildnis ein monströser Staudamm Ureinwohner und Bäume verdrängt und an einer Urlaubsküste ein deutsches Atomkraftwerk aus der Mottenkiste gepackt wird – alles dem Fortschritt zuliebe.

Um einige dieser Phänomene geht es in diesem Buch, vielleicht hilft es dabei, den strauchelnden Aufsteiger zu verstehen. Ich begegnete dem Schönheitsguru Ivo Pitanguy, einem Schatzsucher in Copacabana, einem Pionier in Brasília. Ich besuchte bizarre Messen, ein Fußballmuseum und ein deutsch-brasilianisches Experiment im Karneval, der Mutter aller Partys. Ich sah mir die Gassenfeger an: Telenovelas von TV Globo. Ich versuchte, in Ansätzen Brasiliens Portugiesisch zu ergründen, die Originalsprache des zweiterfolgreichsten Liedes und fünfterfolgreichsten Romans aller Zeiten.

Einmal war ich mit mehreren Kollegen zur Präsidentschaftswahl nach Brasília eingeladen, die Hauptstadt des Architekten Oscar Niemeyer ist jedes Mal interessant. Die Regierung zeigte uns das digitalisierte Wahlsystem, nach den Knopfdrücken der Wähler gewann Lulas Kandidatin Rousseff den ersten Wahlgang. Unsere staatlichen Gastgeber neigten zur Überbetreuung, so bekam jeder von uns beim Inlandsflug der Heimreise einen Begleiter zur Seite gestellt. Wahrscheinlich, damit wir uns nicht in der Luft verirrten. Auf dem Weg von Brasília nach Rio saß ein junger Funktionär im Anzug neben mir. Bei den ersten Turbulenzen erfuhr ich, dass er unter Flugangst litt, und ich bestellte ihm zur Beruhigung ein Bier. Deutlich entspannter fragte er, ob mir aufgefallen sei, dass er humple. »Foi um tubarão«, sagte er. »Es war ein Hai.«

Ein Hai? Ja, ein Hai habe ihm vor seiner Heimat Recife den rechten Unterschenkel abgebissen, beim Surfen – vor Boa Viagem, »Gute Reise«, unserem ersten Strand in Brasilien. Nachher las ich, dass Schwimmer und Surfer dort unterdessen mit Schildern gewarnt würden. Ich stammelte irgendwas, denn auf den Bericht einer Haiattacke war ich nicht vorbereitet. Mein Nachbar erzählte unaufgeregt von Schock, Blut, Rettern, Prothese und dass die Haie keine Schuld hätten. Auch gebe es jetzt Schutznetze. »Tudo bem«, sagte er. »Alles gut.«

Lebenskünstler

Das Leben kann so herrlich und einfach sein in Brasilien, was soll man da irgendwo anders auf der Welt? So setzte eine Brauerei den Fußballstar Neymar in einen Campingstuhl am Strand, als er vor ein paar Jahren die ersten Millionenangebote europäischer Spitzenklubs bekam. Wieso er nicht nach Europa gehe, fragt ihn in dem Werbespot für die Energiebrause Guaraná Antarctica der Sambasänger Thiaguinho. »Europa?«, sagt Neymar, verzieht den Mund und nimmt einen Schluck aus der eisgekühlten Dose. Man sieht, wie er an Training im Schneetreiben denkt und an eine frostige Küste auf der anderen Seite des Meeres, wo sie nicht einmal wissen, was Guaraná Antarctica ist. Dann zeigt die Kamera wieder Neymar und Thiaguinho in Badehose, über ihnen die Sonne, hinter ihnen Palmen, vor ihnen Wellenreiter und neben ihnen Mädchen im Bikini. »Agora não«, beantwortet Neymar die Frage nach Europa, »jetzt nicht«, und tanzt mit seiner Entourage barfuß im Sand.

Tatsächlich ist Brasilien manchmal unschlagbar. Das süße Guaraná muss nicht jeder mögen, aber wer jemals mit einem kalten Bier oder einer aufgeschnittenen Kokosnuss an Stränden wie Lopes Mendes auf der Ilha Grande lag oder in Boipeba, der war dem Paradies schon recht nah. Doch vor allem besitzt Brasilien eine so außerordentlich kontaktfreudige und tendenziell feierfreudige Bevölkerung, dass es notfalls sogar ohne Strand geht.

Eines frühen Abends – nur eine banale Episode – saß ich mit einem in São Paulo verheirateten Freund aus den USA vor einer Bar der Metropole. Er musste bald gehen, ich blieb und wollte kurz austrinken. Dann nahm am Tisch nebenan ein Pärchen Platz. Nach zwei Minuten waren wir im Gespräch, die nächsten Fassbiere (chopp) kamen wie üblich von selbst. Man braucht ja allenfalls den Daumen zu heben, die meisten brasilianischen Kellner bringen unaufgefordert Nachschub. Mais um? Noch eines? Man erzählte sich, was man so macht, obwohl so öde Themen wie der Job am Tresen eher unwichtig sind. Die Bekanntschaften berichteten mir, sie seien Schönheitschirurgen – allerdings nicht für Menschen, sondern für Haustiere. Enorme Nachfrage, gutes Geschäft. Das war kein Witz, wir befanden uns in São Paulo, wo es auch Friseursalons für Hunde gibt. Nach zwei Stunden luden mich die Haustierschönheitschirurgen in ihr Strandhaus ein, nach drei Stunden lagen wir uns wie die besten Freunde in den Armen. Leider blieb es bei der einen Begegnung, lustig war’s jedenfalls.

Wozu die ständigen Komplikationen? Wofür der permanente Stress? Ein »Wie geht’s?« kann in Deutschland unter Umständen eine komplizierte Antwort oder ein gegrummeltes »geht schon« zur Folge haben oder gar ein ehrliches »beschissen«. In Brasilien folgt der Floskel Tudo bem? (Alles klar?) in der Regel die Replik tudo bom (alles o.k.) oder schlicht tudo (alles) oder ótimo (bestens). Dazu der erhobene Daumen. Eine Website namens »Ah Duvido!« behauptet, dass acht von zehn Brasilianern bevorzugt über Fußball, Klatsch (fofoca), Karneval, Bier und Sex sprechen, gerne alle durcheinander. Im Rahmen der Massenproteste könnte sich das verändert haben. In seinem Grundsatzbuch »Raízes do Brasil« (»Brasiliens Wurzeln«) hat der Historiker und Sozialwissenschaftler Sérgio Buarque de Holanda – Vater des Sängers und Poeten Chico Buarque – die Lebensfreude 1936 etwas tiefsinniger erforscht. Als entscheidenden Wesenszug entdeckte er die cordialidade: die Herzlichkeit.

Die Herzlichkeit widerspricht zwar bisweilen der Gesamtsituation: Die Elite mauert sich ein, und Politiker stopfen sich die Taschen voll. Millionen Landsleute leben in Favelas, Tausende Arbeiter werden wie moderne Sklaven behandelt und Ureinwohner oft ignoriert. Vor allem aber wurden zwischen 1980 und 2010 in Brasilien unfassbare 1,1 Millionen Morde registriert, mehr als in jedem Kriegsgebiet der Welt. Jedes Jahr werden hier im Schnitt 40 000 Menschen umgebracht, die Mehrheit der Opfer sind junge Männer mit dunkler Hautfarbe. Besucher werden höchstwahrscheinlich nichts davon mitbekommen, doch Horrormeldungen gehören zu den Nachrichten wie der Wetterbericht. Anfang 2013 verbrannten und erstickten in der Diskothek »Kiss« von Santa María 242 Gäste, weil die Band auf der Bühne gezündelt hatte und es nicht genügend Notausgänge gab – tödlicher Schlendrian.

Die skandalösen Gegensätze von Schönheit und Ungerechtigkeit, Freundlichkeit und Brutalität bilden die brasilianischen Kontraste. Im Juni 2013, als dieses Buch schon fast gedruckt wurde, gingen plötzlich Massen gegen die Macht auf die Straße. Tristeza não tem fim, felicidade sim, heißt es in dem nostalgischen Karnevalslied von Tom Jobim und Vinícius de Moraes. »Traurigkeit hat kein Ende, Glück schon.« Die Sehnsucht nennt sich saudade (»Saudaadschi«), das Gefühl klingt in dieser Musik mit, deren Schwermut gelegentlich an Portugals Fado erinnert. Ohnehin ist Brasilien natürlich bei allen Klischees so tiefgründig und vielschichtig, dass Fremde es nur ansatzweise verstehen können. Es verwirrt Ausländer bereits, dass allein die Ansprache je nach Nähe, Alter und Bedeutung variiert. Doutor, Doktor. O Senhor, der Herr. Você, was Du ist und auch Sie. Mancherorts tu, du. Zeitangaben können ebenfalls missverständlich sein: Ein estou chegando, ich komme gleich, kann auch bedeuten: Ich fahre gerade erst los. Dazu wuchert ein Dickicht an Vorschriften und Paragrafen. Brasilien neigt zu Bürokratie nach Art der verblichenen Sowjetunion und hat eine verblüffende Freude an Statistiken. Doch die einfache und schwere Kunst des Lebens versammelt in dieser Republik ein Heer an Artisten.

Brasilianer sind meistens einfach nett, eine simple und angenehme Eigenschaft. Und in Notfällen beherrscht Brasilien die elegantesten Ausweichmanöver, die Wunderformel jeito oder jeitinho befreit aus Schluchten und Engpässen. Diese urbrasilianische Vokabel bedeutet Ausweg, Kniff, Kompromiss, Improvisationsgabe. Es ist im weitesten Sinne eine Volte, ein Freundschaftsdienst, ein Kavaliersdelikt, ein Gefallen. Ein Lebensgefühl. O jeito de ser brasileiro, der Trick, Brasilianer zu sein. Wie sonst käme man durch den Alltag? Keine Panik, es gibt eine Lösung, oft. Man tut etwas oder lässt etwas tun, was eigentlich so nicht geht. Sempre dá um jeito. Im Zweifel helfen Freunde oder Verwandte oder despachantes, Besorger, die sich bei den Behörden anstellen und überall irgendjemanden kennen.

Vorschriften werden gerne ausgedribbelt, wobei viele Funktionäre und besonders Militärpolizisten auch ziemlich humorlos sein können. Angeber plustern sich da im Zweifel wie Gockel auf: Você sabe com quem está falando? – Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie sprechen? Federleicht mutiert der jeito zur corrupção. Das klingt auf Portugiesisch irgendwie sportlicher als das deutsche Wort Korruption, macht die Sache allerdings nicht billiger. Zum Beispiel gilt das halbe Parlament als Selbstbedienungsladen, und Provinzfürsten beherrschen mit ihren Clans ganze Regionen. »Wisst Ihr, was ein Abgeordneter macht?«, fragte vor den Wahlen 2010 der Clown Tiririca. »Ich auch nicht, aber wenn ihr mich wählt, dann sage ich es euch nachher.« Er bekam die meisten Stimmen aller Abgeordneten und wurde allen Ernstes Mandatsträger in Brasília. 2013 hatte die Mittelschicht genug, ging gegen die Politelite auf die Barrikaden und hoffte, dass nicht alles »in Samba« oder »in Pizza« ende, also in Wohlgefallen.

Untersuchungen über die brasilianische Zufriedenheit kommen zu unterschiedlichen Erkenntnissen. Die Stiftung Getúlio Vargas ermittelte mit einer Umfrage in 158 Ländern, dass Brasilien die glücklichste Nation sei. Die OECD setzte Brasilien in derselben Disziplin, gemessen an Beruf, Bildung, Gemeinschaft, Gesundheit, Umwelt und Sicherheit, dagegen auf den viertletzten Platz – hinter Deutschland. Eine weitere Studie entdeckte 2012, dass Brasilianer auf die Frage, ob man Glück kaufen könne, überdurchschnittlich häufig mit sim antworteten, Ja. Wer es sich leisten kann, der präsentiert ein teures Auto und eine teure Uhr und beschäftigt eine empregada, eine Putzfrau oder ein Kindermädchen oder eine Köchin oder einen ganzen Hofstaat. Status und Kasten sind unverwüstliche Erbstücke der Kolonialzeit. Vor allem aber hat Brasilien verstanden, dass Freizeit kein Wurmfortsatz des Arbeitstages ist. Wobei Rios Einwohner, die Cariocas, finden, dass sie das noch weitaus besser kapieren als die Paulistanos aus São Paulo.

Strand, Bier und Churrasco, ein schönes Grillfest – was braucht der Mensch mehr? Drei Viertel der Bevölkerung leben relativ nahe an der Küste. Der Strand sei »der demokratischste Platz des Landes«, wo sich »der General, der Lehrer, der Politiker, der Millionär und der arme Student« nahekämen, schrieb der Anthropologe Roberto DaMatta. Oder das Model, der Technokrat, der Surfer, der Beamte, der Transvestit, der Anhänger der afrobrasilianischen Macumba-Religion, der Atheist. Wobei DaMatta korrigierte, dass bei genauerer Betrachtung auch brasilianische Ufer nach Herkunft und Rassen getrennt seien. Die Abwesenheit von Vorurteilen gehört zu Brasiliens Mythen. Hautfarben spielen durchaus ihre Rolle, sonst wäre es nicht so aufgefallen, als Joaquim Barbosa als erster schwarzer Jurist Präsident des Obersten Gerichtshofes wurde. Die praia jedenfalls ist großes Kino. Sofern man nicht ein abgelegenes Stück erwischt oder die falsche Jahreszeit, denn lauwarme und verlassene Strände finden Brasilianer fade.

Je voller, lauter und heißer, desto besser. Da mögen sich Europäer noch so sehr nach wohltemperierter Einsamkeit mit stillen Sonnenuntergängen sehnen. Es kann gar nicht so voll sein, dass da nicht noch eine Großclique dazwischenpasst und ein Spiel mit den Holzschlägern. Der Strand ist die Bühne von Körperkult und Verfettung, von Party und Philosophie, Familien und Schwerenötern, Halbnackten und Tätowierten. Man hat den Eindruck, praktisch alle Frauen seien irgendwo tätowiert. Warum auch nicht, Tangas lassen allerlei Haut frei. Bloß oben ohne wie in Europa ist in Brasilien tabu. Auch das Thema Liebe führt leicht zu Fehlinterpretationen: Umarmungen und Küsschen (beijinho) sind nicht automatisch Einladungen, wobei Brasilianer auch da als Weltklasse gelten.

Laut Umfragen zählt Brasilien zu denjenigen Ländern, die am meisten Zeit für Sex verwenden. Die konsequente Verbreitung von Kondomen hat die Aids-Rate dennoch vorbildlich gebremst. Der weibliche Hintern trägt ständig verwendete Kosenamen wie bumbum und bunda, interessierte Taxifahrer kommentieren jede zweite Passantin. Nach einem dezenten Stundenhotel (motel) müssen Pärchen nicht lange suchen, es gibt da Absteigen und Paläste. Professionelle Begleiterinnen heißen Garotas de Programa. Die vormalige Hostess Raquel Pacheco wurde unter ihrem Künstlernamen Bruna Surfistinha landesweit berühmt. Von Nächten und Kunden erzählte sie in einem Bestseller, der als gesellschaftliches Phänomen diskutiert und sogar verfilmt wurde. »Não existe pecado do lado de baixo do equador«, sang Chico Buarque schon vor Jahrzehnten. »Es gibt keine Sünde unterhalb des Äquators.«

Was sagt der Vater Staat? Gesundheitsminister José Gomes empfahl Geschlechtsverkehr gegen Bluthochdruck, Diabetes und Cholesterin: »Regelmäßige physische Aktivität heißt auch Sex, sicherer Sex, versteht sich.« Auch gleichgeschlechtliche Ehen sind nach längerem Kampf erlaubt. Geregelter Schwangerschaftsabbruch dagegen ist auf religiösen Druck hin verboten, abgetrieben wird heimlich. Der progressive Versuch, den Waffenverkauf einzuschränken, wurde bedauerlicherweise sogar in einer Volksabstimmung abgelehnt. Ansonsten geben sich die Gesetzeshüter immer wieder Mühe, das Motto Ordem e progresso aus der Landesflagge in die Tat umzusetzen. Rio de Janeiro besitzt eines der modernsten Kontrollzentren der Welt, Tausende Kameras liefern Bilder auf wandgroße Monitore, Big Brother à la Carioca. Und die Stadtverwaltung schickte Choques de ordem an die Strände, die Stoßtrupps sollen aufräumen. Der Strand brauche Regeln, erläuterte der zuständige Stadtrat Alex Costa. Man begann, fliegende Händler zu gängeln, darunter die Verkäufer von gebratenem Käse und Shrimps-Spießen mit ihrem Handgrill. Die Zeiten für Fußball und Volleyball am Ufer wurden beschränkt, Arsenale von Sonnenschirmen und Liegestühlen beschlagnahmt, falsch geparkte Autos abgeschleppt. Sogar der Vertrieb von gekühlter Kokosnuss mit Strohhalm sollte in Wassernähe untersagt werden, bis das Volk auf die Palme ging.

Beim Kreuzzug gegen den Tabak hat Brasilien das Qualmen in öffentlichen Räumen verboten, und Zigarettenpackungen zeigen grässliche Fotos. Der Besitz und Genuss von Marihuana (maconha) wiederum wird nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Beim illegalen Kokain ist Lateinamerikas Gigant der mit Abstand größte Markt der Region, mit allen Nebenwirkungen. Und beim Alkohol geht es um ein nationales Vergnügen und eine nationale Sucht.

Beim Bier haben selbst Bayern vor Brasilianern Respekt. Allein beim Karneval fließen an den vier heißesten Tagen 400 Millionen Liter, Flaschen vorbildlich gekühlt in Sektkübeln oder Kühlmanschetten, unbedingt zur Nachahmung empfohlen. Beim Oktoberfest in Blumenau waren es zuletzt 652 000 Liter in 18 Tagen. Manche Brasilianer gehen mit der Bierdose bis ins Meer. Beim Konsum wurde Brasilien 2007 mit 10,3 Milliarden Litern nur von China, den USA und Deutschland (10,7 Milliarden Liter) bezwungen. Der Economist hat übrigens errechnet, dass Brasilianer für einen halben Liter Bier 21 Minuten lang arbeiten müssen und Deutsche nur sieben Minuten.

Não há mulher sem graça, nem festa sem cachaça, geht ein Reim: »Es gibt keine Frau ohne Charme und kein Fest ohne Schnaps.« Die Behörden warnen, Alkoholismus sei die am weitesten verbreitete Ursache für Krankheiten. Und nach dem Tod des ehemaligen Fußballspielers Sócrates 2012 entdeckte das Magazin Época »eine unterirdische Epidemie«, die jedes Jahr 30 000 Brasilianer umbringe. Erhöhte Promillewerte seien verantwortlich für 60 Prozent der Verkehrstoten und 72 Prozent der Morde.

Der Fußballer Neymar mag kein Bier, sagt er. Nach Europa zog der Stürmer dann aber doch, für viele Millionen Euro ins klimatisch und auch sonst sehr erträgliche Barcelona. Irgendwann kommt er zurück, ganz bestimmt. Darauf eine saideira, einen Absacker.

Die gesungene Sprache

Als die Fußball-WM 2014 und ihre Besucher langsam näher rückten, begann Brasilien auch mit zwischenmenschlichen Vorbereitungen. Prostituierte in Belo Horizonte bekämen einen kostenlosen Englischkurs, hieß es, die Meldung fand weltweite Beachtung. Englisch sei wichtig, um sich mit den Kunden verständigen zu können, erklärte die Vorsitzende der städtischen Berufsgruppe. Man erwäge auch, die Damen gratis in Spanisch, Französisch und Italienisch zu unterrichten. Das ist im Prinzip natürlich lobenswert, Fremdsprachen sind an Brasiliens Schulen und Universitäten schon länger populär. Doch Gästen sei trotzdem empfohlen, ein wenig Portugiesisch zu lernen, auch wenn sie nicht jedes Angebot des Landes annehmen wollen. Brasilianisches Portugiesisch lohnt sich in allen Lebenslagen.

Portugiesisch ist erstens eine Weltsprache, gesprochen von mehr als 215 Millionen Muttersprachlern und annähernd 240 Millionen Erdenbürgern insgesamt. Es ist die führende Sprache Südamerikas, obwohl der Rest der Umgebung hauptsächlich Spanisch spricht – dafür sorgen 195 Millionen Brasilianer. Außer in Portugal und Brasilien kommt man damit auch in den ehemaligen afrikanischen und asiatischen Kolonien Angola, Mosambik, Äquatorialguinea, Kap Verde, Osttimor, São Tomé und Príncipe und Chinas Macao sowie Indiens Hippiebastion Goa durch, Lissabon unterhielt ja früher ein umfangreiches Imperium. São Paulo besitzt sogar ein Portugiesisch-Museum. Und zweitens ist es eine der schönsten Arten, sich zu verständigen. Jedenfalls in der brasilianischen Version.

Deshalb dürfen sich Portugiesen und Brasilianer gegenseitig dankbar sein. Zwar macht sich Brasilien gerne über sein Mutterland lustig, der brasilianische Aufschwung und der portugiesische Absturz tun ein Übriges. Das kleine Portugal, seine Menschen und sein harter Akzent gelten auf dieser Seite des Atlantiks als eher umständlich und plump. Portugiesenwitze haben in Brasilien das Niveau von Ostfriesen- oder Österreicherwitzen in Deutschland, sind aber ebenfalls nicht böse gemeint. Zuweilen erzählt der Autor und Entertainer Jô Soares sie in seiner Nachtsendung auf TV Globo. Aber Brasilien kann froh sein, dass ihnen die Invasoren das Idiom des Luís de Camões eingeschleppt haben. Und Brasilien hat dieses português größer und weicher gemacht. Melodischer.

Das mit dem Klang ist wahrscheinlich Geschmackssache und Gewohnheit und je nach Region verschieden. So oder so müssen Ungeübte erst das herrlich genäselte ão und õe im Rachen entdecken – und auf der Tastatur. Aber wer zum Beispiel vom brasilianischen ins portugiesische Fernsehen zappt, der hat den Eindruck, irgendwo in Osteuropa gelandet zu sein. Brasiliens Portugiesisch ist geprägt vom Singsang und auch vom Vokabular seiner Ureinwohner und Immigranten und kommt wie gesungen daher. Die Musik im Brasilianischen entdeckt jeder, der João Gilberto hört, Gal Costa, Marisa Monte, Caetano Veloso, Djavan, die Tribalistas, Seu Jorge oder Maria Gadú. Ältere Lieder wie João Gilbertos »Desafinado« oder neuere wie Gadús Lied »Altar particular« könnten in keiner Sprache schöner klingen.

Unsereiner schlägt sich halbwegs durch, Brasilianer sind zum Glück nachsichtiger als Franzosen. Meine erste Sprachlehrerin vor der zweiten Brasilienreise war eine Carioca, die mit einem Brasil-Shirt als Erkennungszeichen am Münchner Marienplatz auf ihre Schüler wartete und Rio vermisste. Als Lehrbuch benutzte ich damals ein angestaubtes Werk von Langenscheidt, das eher in die Irre führte, weil das portugiesische und das brasilianische Portugiesisch deutlich fremdere Geschwister sind als Englisch und Amerikanisch. Die Eisenbahn zum Beispiel heißt in Portugal comboio und in Brasilien trem, der Aufzug dort ascensor und hier elevador. Oder, ein maßgeblicher Unterschied: Durex ist in Portugal ein Präservativ und in Brasilien ein Klebeband – brasilianische Kondome tragen den poetischen Namen camisinha, Hemdchen. Ganz zu schweigen von der Grammatik. Das brasilianische tu, du, wird in Brasilien meistens zu você und so weiter. Die Aussprache ist sowieso ganz anders, das i mutiert zu iu und das m zu ng.

Brasiliens Wörter können herrlich beschreibend sein, verkleinernd und vergrößernd. Camisinha hatten wir gerade. Der Tanga nennt sich fio dental, Zahnseide, ebenfalls treffend. Das öffentliche Telefon heißt orelhão, großes Ohr, und sieht auch so aus. Dann sind da Diminutive wie chopinho (kleines Bier), jeitinho (eleganter Ausweg), rapidinho (ganz schnell), baixinho (klein gewachsen), das mindert angenehm die Dramatik. Die Hauptstadt Brasília wollte sogar in Ämtern das Gerundium verbieten, damit es nicht ständig zur Entschuldigung heißt, man sei gerade noch dabei, irgendeinen Fall zu bearbeiten.

Namen werden erst recht abgekürzt und verniedlicht, die Originale kann sich kein Mensch merken. Den früheren Fußballer Jorge José de Amorim Campos kennt jeder als Jorginho, Ronaldo de Assis Moreira als Ronaldinho. Indianisches und afrikanisches Erbe verschmolz im Wortschatz, siehe mandioca, caju, Iguaçu, candomblé, acarajé, moleque – oder Carioca, Einwohner von Rio, der Ausdruck stammt aus der Tupi-Guaraní und bedeutet »Haus des Weißen«. Ausländisches Vokabular wird phonetisch eingemeindet: Das Internet sprechen Brasilianer als »Internetschi« aus, Facebook als »Faciebookie«, Picknick als »Pickinicki«. Das Sandwich wurde zum sanduíche, Football zum futebol. Der heutige Sportminister Aldo Rebelo legte als Abgeordneter sogar einen Gesetzentwurf gegen ausländische Begriffe vor. Brasilianer und spanischsprachige Gesprächspartner einigen sich im Zweifel auf die brüderliche Zwischenlösung portiñol.

Ich nahm Portugiesischunterricht auch in Buenos Aires, ganz lustig. Die meisten Mitschüler waren Argentinier, sprachen argentinisches Spanisch mit ein paar portugiesischen Verben wie falar statt hablar (sprechen) und fanden, das sei Brasilianisch. »Ich verstehe euch«, sagte die brasilianische Lehrerin, »aber Portugiesisch ist das nicht.« Mit spanischen Begriffen sollte man eh aufpassen. Ein Teil des Vokabulars ist nahezu identisch, ein anderer Teil führt in diesem Zweig der romanischen Sprachfamilie zu Missverständnissen. Wer das brasilianische Essen als esquisito lobt, der macht sich unter Umständen unbeliebt, denn das bedeutet komisch. Borracha hat nichts mit einer Betrunkenen zu tun, es handelt sich um Gummi. Das escritório ist das Büro und nicht der Schreibtisch. Propina ist Schmiergeld und kein Trinkgeld. Und die Wochentage werden von Montag bis Freitag von segunda-feira bis sexta-feira gezählt.

Portugiesisch ist Brasiliens Identität, ein gemeinsamer Nenner eines vermischten Volkes. Schriftsteller haben die hiesige Variante nach der Unabhängigkeit 1822 von Portugal geprägt, zunächst Dichter wie Joaquim Maria Machado de Assis und José de Alencar, dessen Romanze »Iracema« (ein Anagramm des Wortes »America«) eines weißen Brasilianers mit einer Ureinwohnerin ein nationaler Mythos ist. Später folgten Literaten wie Clarice Lispector, Carlos Drummond de Andrade, João Guimarães, Gilberto Freyre, Darcy Ribeiro, José Lins mit seinem verfilmten Buch »Cidade de Deus«, Rubem Fonseca, Chico Buarque, João Ubaldo Ribeiro, Jorge Amado, Milton Hatoum und all die anderen. Der magische Amado war die Stimme Bahias, der die Gauner, Lebemänner und Huren, die Farben und Gerüche seiner Heimat in Worte gepackt hat. »Ein Schriftsteller fängt mit 80 an, schreiben zu lernen«, glaubte er. Amado starb mit 88, hatte aber vorher glücklicherweise Klassiker wie »Gabriela wie Zimt und Nelken« verfasst, »Dona Flor und ihre zwei Ehemänner« und »Die Werkstatt der Wunder«. Der Nobelpreis blieb ihm verwehrt, doch seine Werke werden bis heute gelesen. Der Popstar der brasilianischen Autoren indes ist er: Paulo Coelho.

An ihm scheiden sich die Geister, was soll man zu dem Mann sagen? Die Zahlen wiegen schwer: Laut seinem Schweizer Verlag Diogenes lag die weltweite Gesamtauflage Coelhos zuletzt bei 145 Millionen Exemplaren, übersetzt in 74 Sprachen. Mehr oder weniger alle seiner Bücher sind Bestseller. »Der Alchimist« ist das mit Abstand erfolgreichste Buch, das je ein Brasilianer, ja Lateinamerikaner verfasst hat. 65 Millionen Käufer, heißt es. Das wäre Platz fünf in der ewigen Weltrangliste hinter der Bibel, Maos Rotem Buch, Harry Potter und dem Herrn der Ringe. Das Populärmärchen vom andalusischen Schafhirten Santiago, seinen Träumen vom Goldschatz und seiner Reise nach Ägypten triumphierte als Unterhaltungsschlager.