Die Operation Janus ist in vollem Gange: Die verdeckte Kampagne soll zahlreiche Planeten der Solaren Liga zum Aufstand gegen das repressive System bewegen. Vermeintlich mit der Unterstützung des benachbarten Sternenkönigreiches von Manticore. Doch hinter der Aktion steckt niemand anderes als das feindliche Mesanische Alignment. Ihr Ziel: Einen Krieg ungekannten Ausmaßes zwischen Manticore und der Solaren Liga zu entfachen …
David Weber ist ein Phänomen: Ungeheuer produktiv (er hat zahlreiche Fantasy- und Science-Fiction-Romane geschrieben), erlangte er Popularität mit der Honor-Harrington-Reihe, die inzwischen nicht nur in den USA zu den bestverkauften SF-Serien zählt. David Weber wird gerne mit C. S. Forester verglichen, aber auch mit Autoren wie Heinlein und Asimov. Er lebt heute mit seiner Familie in South Carolina.
Aus dem amerikanischen Englisch von
Dr. Ulf Ritgen
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by Words of Weber, Inc.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Shadow of Victory«, Teil 2
Originalverlag: Baen Books, Published by
Arrangement with Baen Books, Wake Forest, NC, USA
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30131 Hannover
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Beke Ritgen, Bonn
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
Titelillustration: © Arndt Drechsler, Regensburg
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-5616-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Entschuldigen Sie mal, Mr. Osborne, aber genau um dergleichen zu verhindern, ist der Eridanus-Erlass gedacht, und die Liga ist verfassungsmäßig verpflichtet, ihn durchzusetzen, nicht ihn zu ignorieren!
Commander Bryson Neng,
Solarian League Navy, Eins-O, SLNS Hoplite
»Also gut, Paul.«
Innis MacLay ließ seine große Hand auf die Schulter seines Sohnes sinken. Gern hätte er dem Jungen jetzt durch das Haar gewuschelt, so wie früher, als Paul noch klein gewesen war. Aber der Stolz eines Vierzehnjährigen ließ offene Zurschaustellung von Zuneigung schlichtweg nicht zu. Was schon unter gewöhnlichen Umständen galt, das galt an einem Tag wie diesem erst recht.
»Ich verlasse mich auf dich«, fuhr er, so weit in seinen Gedanken gekommen, fort und blickte Paul fest in die haselnussbraunen Augen, ein Erbteil seiner Mutter. Ruhig wurde dieser Blick erwidert. »Sicher treiben sich immer noch ein paar VSler in der Gegend herum. Ich vertraue darauf, dass du deine Mutter und Schwestern beschützt. Das tust du doch für mich, oder?«
»Ja, Da.«
Innis bemerkte, dass Pauls Stimme tiefer klang als sonst. Noch war der eigentliche Stimmbruch nicht erfolgt, aber er rückte unverkennbar näher. Hatte sich wirklich so viel verändert in den beiden Monaten seit Beginn des Aufstands?
Bei diesem Gedanken brannten ihm kurz Tränen in den Augen. Er umklammerte die Schulter seines Sohnes noch ein wenig fester. Dann wandte er sich ab, kniete sich vor die beiden elfjährigen Zwillinge, um sie an sich zu drücken.
»Und ihr beide kümmert euch um eure Mutter, klar?«, ermahnte er Jennifer und Keeley ernst, und seine Stimme klang ein wenig barscher als bei Paul. Auch sie erwiderten seinen Blick – Keeley spielte die Folgsame, was nur schlecht zu dem verschmitzten Funkeln in ihren Augen passte, während Jennifers dunklere, sanftere Augen von Besorgnis umschattet waren. »Ich habe gesagt, ihr kümmert euch um sie«, wiederholte Innis nachdrücklich und umarmte die beiden.
»Wie immer, Dadaigh«, versprach Keeley.
»Dann möge der Herr eure màthair beschützen!«, seufzte er und streckte die Arme nach seiner Frau aus.
Sie warf sich ihm förmlich an die Brust. Offenkundig war Maggie MacLay um einiges besorgter als ihre Töchter, dabei aber fest entschlossen, sich das nicht anmerken zu lassen. Innis zog sie eng an sich.
»Und wann kommst du wieder nach Hause?«, fragte sie und erwiderte die Umarmung.
»Wer weiß das schon, Rùnag«, antwortete er. »Sieht nicht so aus, als würde es lange dauern, aber MacCrimmon und MacQuarie haben uns schon ein paar Mal an der Nase herumgeführt. Aber länger als einen Monat dauert’s sicher nicht.« Noch einmal drückte er sie fest an sich, ehe er sich zu voller Größe aufrichtete und aus dieser Höhe auf ihren Scheitel blickte. »Wir haben immer noch Freunde beim Raumhafen, und MacCrimmons Shuttle ist stets innerhalb von dreißig Minuten startbereit.« Er blinzelte ihr zu. »Für mich klingt das ganz nach jemandem, der es allmählich für an der Zeit hält, den Planeten zu verlassen – vielleicht sogar das ganze System.«
»Möge Gott geben, dass dem wirklich so ist«, sagte sie sehr viel leiser als er, und als sie zu ihm aufblickte, glitzerte es verräterisch in ihren Augen. »Und du vergisst gefälligst nicht, dass so ein großer, sturer fùidir wie du leichter zu treffen ist als die meisten anderen!«
»Oh, aye, das behalte ich immer schön im Kopf, Rùnag!«, versicherte er ihr und lachte, weil sie ihn als ›Clown‹ bezeichnet hatte.
Das Lachen verflog rasch. Ein letztes Mal drückte er sie an sich, und plötzlich schnürte es ihm die Kehle zu. Vielleicht sind Paul und ich uns noch ähnlicher, als ich bislang wahrhaben wollte, ging es ihm durch den Kopf. Denn auf keinen Fall wollte er noch ein Wort sagen und damit preisgeben, wie ihm die Stimme den Dienst versagte.
Er griff nach seinem Pulsergewehr, schlang es sich über die Schulter, lächelte den vier wichtigsten Menschen in seinem Leben noch einmal zu und trat dann festen Schritts durch die Tür, hinaus in den strahlend hellen, windigen Morgen.
Chattan MacElfrish, nur wenige Jahre älter als Paul und voller Tatendrang, wartete bereits im Flugwagen auf ihn. Als Innis die Tür öffnete und einstieg, blickte Chattan von seinem Buchlesegerät auf, ließ es in seiner Tasche verschwinden und drückte den Zündknopf, um die Turbinen zu aktivieren.
»Der Familie geht’s also gut, ja?«, erkundigte er sich.
»Aye, was sonst?«, erwiderte Innis.
»So sollte es auch sein«, meinte der selbst unverheiratete Chattan, während der Flugwagen abhob. »Es ist gut zu wissen, dass sie auf dich warten, wenn das alles vorbei ist, Innis. Darum beneide ich dich.« Er lächelte, warf einen Blick auf das Chronometer und nickte zufrieden. »Und in der Zwischenzeit treten wir ein paar VSlern in den Hintern! Etwa zur Mittagszeit sind wir in Elgin.«
»Gute Nachrichten gibt es wohl keine?«, knurrte Tyler MacCrimmon, während er sich in den breiten Sessel am Kopfende des Konferenztisches sinken ließ.
Der große, geschmackvoll – und teuer – eingerichtete Besprechungsraum war gut ausgeleuchtet, auch die riesige, handpolierte Tischplatte aus Silbereichenholz, in die als Intarsienarbeit das Präsidentensiegel eingelassen war. Dieses Siegel stand nun ihm zu, nachdem er sich auf einen Verfassungsparagraphen berufen hatte, der es ihm gestattete, Alisa MacMinn ›vorübergehend‹ des Amtes zu entheben – die offizielle Begründung war: akute Erschöpfung. Das war ungleich freundlicher als Senilität, und in sämtlichen Presseverlautbarungen wurde den treuen Parteianhängern ausdrücklich versichert, die geliebte Führerin werde die Amtsgeschäfte wieder aufnehmen, sobald sie sich erholt habe.
Selbst ihre glühendsten Verfechter schienen der Ansicht, angesichts der derzeitigen Umstände sei es eine gute Idee, ihr ein wenig … Urlaub zuzugestehen.
Kristalldekanter mit teuren Brandys und Whiskys von einer Vielzahl exotischer Welten funkelten in der Bar am Ende des Raumes, und vor jedem der an diesem Tisch Versammelten stand eine Silberkanne mit Kaffee oder Tee. Im Hintergrund spielte leise Musik. Hochfloriger, weicher Teppich in tiefem Schwarzblau verschluckte jeden Schritt. Die Klimaanlage war so leise, dass man sie nur erahnen konnte. Dass sie lief, war eher an dem sanften, kaum merklichen Luftzug zu erkennen, der die wahnwitzig teuren Vorhänge aus Spinnenseide leicht wiegte, hinter denen sich, wenn nicht genutzt, die smarte Wand des Raumes verbarg.
Das Ambiente roch förmlich nach Reichtum, Macht und Privilegien, und sämtliche Anwesenden waren der Umgebung angemessen gekleidete, gepflegte, Luxus gewohnte Erscheinungen. Und doch, Frinkelo Osborne bemerkte es sofort, wirkte die Luft schwer und abgestanden. Physikalisch unmöglich, war es dennoch so, weil unverkennbar der Geruch von Furcht in der Luft hing; unsichtbar drückte Verzweiflung auf die Stimmung im Raum – ausgewachsene Verzweiflung.
Schwer hing nun auch noch MacCrimmons Frage im Raum, bislang unbeantwortet. Keiner der Minister seines Kabinetts schien willens, ihm in die Augen zu schauen, und so maß er jeden einzelnen von ihnen mit finsterem Blick. Dann wandte er sich an Keith Boyle, den Kriegsminister des Loomis-Systems.
»Also?«, setzte er tonlos nach.
»Seit gestern hat es keine signifikanten Änderungen der Lage gegeben«, lautete Boyles Antwort. Mit einer Kopfbewegung wies er auf den Offizier, der in voller Uniform unmittelbar neben ihm saß. »General Renwick ist gerade von einer Inspektion der Truppen an der Front zurückgekehrt. Man kann nicht behaupten, sein Bericht strotze vor Optimismus, aber im Laufe der letzten Nacht scheinen wir nicht allzu viel Boden verloren zu haben.«
»Na, da bin ich aber mal erleichtert!«, grollte MacCrimmon. »Und wie steht’s darum, verlorenen Boden wettzumachen?«
»Das … wird nicht so einfach.« Zorn funkelte in Boyles Augen, auch wenn er sorgsam darauf achtete, dass dieser Zorn seinem Tonfall nicht anzumerken war. »Hätten wir mehr Männer, wären wir vielleicht in der Lage dazu. Aber so habe ich General Renwick angewiesen, seinen Leuten eines einzuschärfen: dass wir uns keinesfalls leisten können, bis zum Eintreffen der Ablösung noch mehr Boden zu verlieren.«
Das Blut schoss MacCrimmon in die fleischigen Wangen. Einen kurzen Augenblick lang glaubte Osborne schon, der Kommissarische Präsident würde Boyle vor allen beschimpfen. Stattdessen ein letztes leichtes Beben der Nasenflügel, wie man es bemerken konnte, wenn jemand seinen Zorn zu zügeln verstand, und MacCrimmon ließ sich wieder in seinen Sessel zurücksinken, ein knappes Kopfnicken für den General.
Eine unerwartete Reaktion, Osborne war verblüfft. MacCrimmon neigte von jeher dazu, Sündenböcke für die eigenen Unzulänglichkeiten und Fehler zu suchen und an jenen Personen ein Exempel zu statuieren, von denen er sich im Stich gelassen fühlte. Diese Neigung verstärkte sich, seit die LLL immer näher auf Elgin vorrückte. Glücklicherweise schien selbst Tyler MacCrimmon zu begreifen, dass die Schuld dafür kaum Keith Boyle anzulasten war.
Osbornes eigene Quellen legten den Schluss nahe, dass Boyle gern geputscht hätte, um selbst die Macht zu ergreifen. Dafür jedoch waren die Erfolgschancen noch nie sonderlich groß gewesen. Schließlich war die Armee im Laufe der vergangenen Jahrzehnte auf kaum mehr als achttausend Männer und Frauen zusammengestrichen worden, damit zunächst Lachlan MacHendrie und dann dessen Schützling Senga MacQuarie die Mittel für den Aufbau des Vereinigten Sicherheitsdienstes des Loomis-Systems besaßen. Gegen wen, so hatten sie immer wieder getönt, sollte denn diese Armee auch kämpfen? Polizisten hingegen konnte MacCrimmon immer gebrauchen! Außerdem, so hatten sie MacCrimmon eingeflüstert, sollte denn jemand wie er jemandem wie Boyle echte Schlag- und Kampfkraft anvertrauen?
Deswegen war der VSD deutlich großzügiger mit leichtem Gerät ausgestattet worden als die Armee – und deswegen gab es auch ungleich mehr schweres Gerät in den zahlreichen Waffenlagern des VSD, die über ganz Halkirk verstreut eingerichtet worden waren.
Schweres Gerät, das nun in nur allzu vielen Fällen in die Hände der Rebellen gefallen war.
Osbornes Blick wanderte zu den Spinnenseidenvorhängen hinüber. Er war wirklich froh darüber, dass sie derzeit zugezogen waren. Wären sie geöffnet, hätte es auf der smarten Wand Entsetzliches zu sehen gegeben. Nach sechsundfünfzig Tagen voller Gefechte hielten die Getreuen der Wohlstandspartei noch ganz genau zwei der insgesamt zwölf Verwaltungszentren von Halkirk. Dazu gehörte auch Elgin – oder zumindest ein Großteil davon –, und auf Thurso oder in Red Buffs, Glenquoich oder Gilliansbridge, den drei nächstgrößten Städten auf Halkirk, war es kaum zu Gefechten gekommen. Doch fünfundsiebzig Prozent der kleineren Städte und Ortschaften waren zur Liberalen Liga übergelaufen, und von der Bevölkerung außerhalb jener größeren Städte unterstützten vermutlich etwa fünfzig Prozent aktiv Megan MacLean und deren Helfershelfer. Osborne persönlich vermutete ja, dass Ottomar Touchette mit seiner Schätzung, es wären siebzig Prozent, der Wahrheit deutlich näher kam. Ja, unter den Holzfällern und Forstleuten, die immerhin das Rückgrat der systemweiten Wirtschaft bildeten, war der Prozentsatz sogar noch höher – was man zweifellos Nyatui Zagorskis Geschäftspraktiken verdankte.
Diese waren auch der Hauptgrund dafür, dass die Parteigetreuen immer weiter in die Städte und die größeren Ortschaften zurückgedrängt worden waren. Eines hatte der VSD bereits gelernt: In Wälder vorzurücken, in denen gut bewaffnete, hochmotivierte Männer und Frauen ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatten, war eine sehr effiziente Methode, Truppen und Ausrüstung zu verlieren.
Es hilft auch nicht gerade, dass MacLean und ihre Leute dem VSD gleich zu Beginn der Gefechte fast die gesamte Führungsriege genommen haben, dachte er. Rein menschlich gesehen war von Colonel MacChrystal sicher nicht viel zu halten, aber in der Organisation von Außeneinsätzen war sie deutlich besser als MacQuarie oder irgendeiner der Sesselpupser in den anderen Hauptquartieren. Sie und zwei ihrer drei Vertreter zu verlieren hat beinahe ausgereicht, und die Liberale Liga hätte Elgin im Handstreich genommen. Dann hätte achtundvierzig Stunden später die ganze Rebellion ihr Ende gefunden!
Er verkniff sich ein verärgertes Kopfschütteln. Sorgsam war er darauf bedacht, sich seinen wachsenden Abscheu für die Anwesenden nicht anmerken zu lassen. Hätte vor Beginn dieser Katastrophe auch nur ein einziger von ihnen so viel Verstand an den Tag gelegt wie ein mittelgroßes Kastenbrot – und, nun, genug Rückgrat gehabt, Zagorski zu widersprechen …
»Gibt es etwas Neues über MacGills Aufenthaltsort?«, stellte MacCrimmon seine nächste Frage.
»Eigentlich nicht«, gestand MacQuarie. »Es gibt Gerüchte, sie befände sich in Conerock, aber bislang scheinen das eben wirklich nur Gerüchte zu sein.« Unverkennbar betrübt zuckte sie mit den Achseln. »Wir hören einen beachtlichen Teil des Com-Verkehrs ab, aber offenkundig nicht genug – und die legen bemerkenswerte Kommunikationsdisziplin an den Tag. Alles kodiert, statt Klarnamen von Personen oder Orten zu verwenden, und sie benutzen offensichtlich reichlich tote Briefkästen. Mehr als eintausend davon haben wir schon erkannt und stillgelegt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir bislang nur an der Oberfläche gekratzt haben. Dazu kommt noch, dass immer dann, wenn es die Zeit zulässt, Nachrichten durch Kuriere von einem Ort zum anderen geschafft werden.«
»Tja, gut zu wissen!«, versetzte MacCrimmon beißend. Es war offenkundig, dass er nicht bereit war, Senga MacQuarie bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag den Rücken zu decken. In MacQuaries Augen loderte Zorn, aber sie war klug genug, sich jegliche Entgegnung zu verkneifen.
»Also gut, dann wird’s Zeit für ein Fazit. Unseren Prognosen nach dürften diese Bastarde innerhalb der nächsten vier Tage Elgin einnehmen«, wandte sich MacCrimmon nun mit tonloser Stimme an Osborne. »Bislang konnten wir sie in die westlichen Außenbezirke der Stadt zurückdrängen, aber sie dringen dennoch immer tiefer ins Stadtgebiet ein. Wichtiger noch: Unsere Orbitalsensoren zeigen, dass die Rebellenkräfte für einen konzentrierten Ausfall in Richtung Swantown zusammengezogen werden, und wir haben niemanden mehr, der sie aufhalten könnte. Wenn die erst einmal die Sperrkette der Armee durchbrochen haben, können sie sämtlichen Angehörigen des Sicherheitsdienstes im Westen der Stadt in den Rücken fallen.«
Ernst nickte Osborne. Swantown, einer von Elgins Vororten, eine wohlhabende Schlafstadt, lag am Ufer des Swan, am südwestlichen Stadtrand. Wenn es der Liberalen Liga gelänge, Swantown einzunehmen, könnten sie von dort aus die heftig beharkten VSler, die im Zuge der Gefechte immer weiter nach Westen gedrängt worden waren, von der Flanke aus angreifen … und in dem Moment würden die Sicherheitskräfte in Panik verfallen und sich geordneter Rückzug in wilde Flucht verwandeln. In gewisser Weise verständlich, ja, denn die VSler wussten ganz genau, was ihnen bevorstand, sollten sie der Liberalen Liga in die Hände fallen. Schließlich hatte der VSD während der letzten vier oder fünf T-Wochen zunehmend grausame ›Strafaktionen‹ vorgenommen und dabei auch vor Gräueltaten nicht zurückgeschreckt.
Noch etwas hatte MacCrimmon unausgesprochen gelassen: Würde Swantown eingenommen, büßte der VSD den Raumhafen von Elgin ein … den einzigen Ort, von dem aus die Führungsriege der Wohlstandspartei und deren Familienangehörige vom Planeten flüchten könnten.
»Ich verstehe, Mr. President«, erwiderte der ›Handelsattaché‹.
»Ich meine mich zu erinnern, von Ihnen gehört zu haben, wir könnten mit Unterstützung aus McIntosh rechnen – in, wie sagten Sie gleich, allerhöchstens drei T-Wochen«, fuhr MacCrimmon nun fort. »Ich will gewiss nicht den Eindruck erwecken, ich würde Ihnen nicht glauben, aber das war vor beinahe sechs T-Wochen!«
»Ich weiß, Mr. President.« Wieder nickte Osborne, »ich weiß. Und ich kann Ihnen lediglich sagen, dass sich die Unterstützung längst auf dem Weg hierher befinden muss.«
»Und haltet die Köpfe unten, verdammt noch mal!«, brüllte Alexina Morrison, vor wenigen Monaten noch Private beim Vereinigen Sicherheitsdienst des Loomis-Systems. Gerade zischten die ersten Überschall-Pulserbolzen gefährlich nah über ihre Köpfe hinweg. »Wir wollen diesen Scheiß-Tower einnehmen, nicht uns den Arsch wegblasen lassen!«
Einige der Forstleute unter ihrem Kommando grinsten, als sie Morrison das brüllen hörten. Die meisten der fünfundvierzig Männer und Frauen von Morrisons Kommandotrupp nickten aber nur grimmig. Schon allzu oft hatten sie miterleben müssen, wie es jemand einer winzigen Unachtsamkeit wegen erwischt hatte. Außerdem vergötterten sie Alexina Morrison mittlerweile beinahe. Nicht nur, dass sie und ihr Partner bei der Einnahme von Conerock eine wichtige Rolle gespielt hatten: Nein, auch bei den erbitterten Straßenkämpfen in Elgin war sie von Anfang an an vorderster Front dabei gewesen … und sie lebte immer noch – eine beachtliche Leistung für jemanden, der die ganze Zeit über seine Truppen von der vordersten Front aus anführte.
»Also gut«, setzte Morrison nun ein wenig leiser hinzu, »wenn wir den Lieferanteneingang stürmen, rückt Tammas nach rechts vor und kümmert sich um die Aufzugsbänke. Regina, du gehst nach links und schaltest die Wartungs- und Steuerzentrale aus. Der Rest von euch folgt mir geradeaus in die Lobby. Verstanden?«
Allgemeines Nicken. Sie nahm sich die Zeit, jeden unter ihrem Kommando kurz anzublicken, dann deutete sie mit dem Kinn ruckartig in Richtung ihres Zielobjekts.
»Dann legen wir los!«, meinte sie grimmig.
Captain Dugald Dempster zuckte zusammen, als ein neuerliches Crescendo von Explosionen die dichten Rauchschwaden zu seiner Linken durchzuckte. Eigentlich sollte Dempster eine ganze VSD-Kompanie befehligen. Im Augenblick aber hatte er das Kommando über ganze dreizehn Männer und Frauen, die einen einzigen leichten Drillingspulser mit sich führten … und dem ging allmählich die Munition aus.
»Ist irgendetwas aus dem Hauptquartier eingetroffen, Morag?«, fragte er und bemühte sich redlich, sich seine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.
»Nein«, erwiderte Sergeant Morag MacCuffie tonlos. Sie war der einzige Unteroffizier, der ihm noch verblieben war.
MacCuffie hatte sich auf Lebenszeit verpflichtet; sie war hart wie Eisen und so zart und mitfühlend wie ein Vorschlaghammer. Ihr Trupp hatte zu den ersten gehört, die auf Strafaktionen ausgeschickt worden waren. Ein Großteil dieses Trupps war mittlerweile gefallen – deswegen hatte Dempster sie ja geerbt. Sonderlich gemocht hatte er die Frau nie, aber wenigstens konnte er sich bei ihr darauf verlassen, dass sie ihn auf keinen Fall im Stich ließe … und sei es auch nur, weil es auf der Gegenseite viele gab, die sich ihren Tod ganz und gar nicht kurz und schmerzlos vorstellten.
»Es wird Zeit«, fuhr sie mit der gleichen tonlosen Stimme fort, und ihr Blick durch den sichtverstärkenden Gesichtsschutz ihres Helms wanderte ständig von links nach rechts. Selbst mit der Sichtverstärkung konnte sie in all dem Rauch und dem Staub kaum etwas erkennen. »Innerhalb der nächsten fünf Minuten wird die linke Flanke zusammenbrechen, und von MacWilliams haben wir schon seit mehr als einer halben Stunde nichts mehr gehört.«
»Wenn wir uns zurückziehen, bleibt Brecon völlig ungeschützt«, widersprach Dempster und deutete mit einem Daumen in Richtung des Straßenzugs, den sie um jeden Preis, wie es geheißen hatte, zu halten hatten. Derartige Anweisungen waren in den letzten Wochen sehr oft ausgegeben worden.
»Und wenn nicht, dann sind wir alle tot, und die Straße ist trotzdem völlig ungeschützt«, gab MacCuffie beißend zu bedenken.
Stimmt auffällig, musste Dempster einräumen. Andererseits war die Brecon Avenue eine von Elgins wichtigsten Hauptstraßen. Auf die harte Tour hatten die Rebellen gelernt, dass ein Vorrücken zu strategisch wichtigen Punkten in der Stadt auf dem Luftwege keine gute Idee war. Denn nicht einmal die vom VSD erbeuteten Taktik-Flugwagen vermochten einer Panzerfaust-Boden-Luft-Rakete der Armee zu widerstehen. Natürlich wussten die Rebellen nicht, dass die Panzerfaustbestände der Armee praktisch erschöpft waren.
Wir hätten selbst mehr Panzerfäuste mitbringen müssen, dachte Dempster verbittert. Leider hatte sich aus der Führungsriege des Vereinigten Sicherheitsdienstes niemand vorstellen können, VSler könnten jemals in eine solche Lage geraten. Er fragte sich, ob besagte Führungsriege im Laufe des vergangenen Monats wohl ebenso sehr wie ein gewisser Dugald Dempster bereut hatte, die Armee derart kastriert zu haben. Dempster selbst zumindest hätte es vorgezogen, die Straßenkampf-Scheiße jemand anderem zu überlassen … irgendjemand anderem!
Aber es gab nun einmal niemand anderen, und während der ersten Woche hatte der VSD zu viel leichtes Gerät verloren, um noch leichte Scorpion-Panzer aus solarischer Fertigung oder als Panther bezeichnete gepanzerte Truppentransporter aussenden zu können. Der verbliebene Rest wurde als absolute Notreserve zurückgehalten – so zumindest hatte man das Dempster erklärt. Tja, selbst die vor Ort gebauten Soighnean-Kontragrav-Kommandofahrzeuge waren mittlerweile Mangelware geworden. Also gab es nur einen Weg, die Hundesöhne da draußen davon abzuhalten, fröhlich geradewegs in den SEIU-Tower hineinzuspazieren: Die Infanterie musste an den entscheidenden Straßenkreuzungen die Stellung halten.
Fielen diese Stellungen …
»Versuchen Sie jemanden in Dunwoodys Kommandostand zu erreichen«, entschied er und hoffte dabei, deutlich ruhiger und zuversichtlicher zu klingen, als ihm in Wahrheit zumute war. »Sagen Sie dem Major, wenn die Verstärkung nicht innerhalb der nächsten fünf …«
Über allzu viele Hydra IIIs verfügte die Liberale Liga nicht, aber über ein paar eben doch. Die Werfermannschaften hatten beinahe drei Stunden gebraucht, um einen geeigneten Abschusspunkt zu finden. Dann aber waren sie im zehnten Stockwerk eines Gebäudes an der Brecon Avenue fündig geworden. Nun trafen zwei der kostbaren Raketen geradewegs Captain Dempsters Stellung.
Anders als seinerzeit Sakue Yampolski blieb Dugald Dempster und Morag MacCuffie nicht einmal mehr die Zeit, zu begreifen, was sie umbrachte.
»Verzeihen Sie, Ma’am, aber hier ist gerade ein Rafferspruch von einem Mr. Osborne eingetroffen«, meldete Lieutenant Hughes respektvoll, und Captain Francine Venelli, die Kommandantin von SLNS Hoplite, blickte resigniert von ihrer Mahlzeit, einer Frikadelle, auf. Ihr Schiff hatte vor etwas mehr als einer halben Stunde die Alpha-Mauer durchbrochen. Derzeit waren sie noch dreiunddreißig Lichtminuten von Halkirk und Thurso entfernt, den beiden bewohnbaren Zwillingsplaneten des Loomis-Systems … Das bedeutete, dass die Nachricht praktisch im gleichen Moment abgesetzt worden war, da der Astro-Lotsendienst von Loomis die Transition ihres Schiffes bemerkt hatte. Großer Gott, wie sehr sie doch diese selbstverliebten, überheblichen Bürokraten verabscheute, die offenkundig keinerlei Ahnung hatten, dass auch lichtschnelle Übertragungen nun einmal eine gewisse Zeit brauchten, ihr Ziel zu erreichen!
»Wie sollte es auch anders sein, Aaron?«, seufzte sie. »Es war ja unmöglich für ihn, wenigstens so lange zu warten, bis wir dicht genug zu ihm aufkommen, um ein echtes Gespräch zu führen, stimmt’s?« Hughes bedachte sie mit einem Blick, der verriet, wie unwohl er sich gerade in seiner Haut fühlte, und sie winkte rasch ab. »So etwas nennt man eine rhetorische Frage«, erläuterte sie.
»Jawohl, Ma’am.«
Venelli musste dem Drang widerstehen, die Augen zu verdrehen. Für einen Signalspezialisten, in dessen Aufgabenbereich unter anderem das Ermöglichen jeglicher Form von Kommunikation fiel, nahm Aaron Hughes entschieden zu viele Dinge entschieden zu wörtlich und legte dabei einen … nicht gerade lebhaften Verstand an den Tag. Hin und wieder ertappte sich Venelli bei dem – nicht gerade schmeichelhaften – Gedanken, dass er einen voll und ganz akzeptablen Offizier der Schlachtflotte abgegeben hätte.
Na, Frannie, schalt sie sich selbst, nicht garstig sein! Ein solches Schicksal wünschst du in Wahrheit doch niemandem – nicht einmal Aaron.
Angesichts Venellis jüngsten Erfahrungen mit der Schlachtflotte traf das mit noch größerer Treffgenauigkeit ins Schwarze als sonst. Die letzten viereinhalb T-Jahre lang hatte die Hoplite im McIntosh-System gestanden, und im Großen und Ganzen war diese Dienstzeit vergleichsweise angenehm gewesen – oder zumindest weitgehend schmerzlos. Das hatte sich schlagartig geändert, als Sandra Crandall und ihr verdammter Kampfverband eingetroffen waren und sich dort sogar noch unerträglicher aufführten, als das die Schlachtflotte gemeinhin zu tun pflegte. Über die Aufgabe der Grenzflotte, hier im Rand die Lage im Griff zu behalten, hatte Crandall noch weniger als gar nichts gewusst. Hatte sie das davon abgehalten, jedes gottverdammte Schiff in diesem Sektor zu requirieren, selbst wenn diese zu Venellis Kampfverband gehörten? Natürlich nicht! Und hatte Crandall auch nur den Hauch einer noch so kleinen Ahnung, was sie nun mit diesem neu zusammengezogenen Verband anfangen sollte? Natürlich nicht!
Das bestätigte Francine Venelli nur in ihrer Meinung, die Schlachtflotte wäre für die eigentlichen Aufgaben der Navy ungefähr so gut geeignet wie Fliegengitterdraht zum Luftschleusenverschluss. Nicht, dass sie den Angehörigen der Schlachtflotte die nutzlosen, aber hochglanzpolierten Superdreadnoughts und all die anderen Spielsachen missgönnte, die für die Schlachtflotte angeschafft wurden, statt für die Schlachtkreuzer und Leichten Kreuzer zu sorgen, die bei der Grenzflotte wirklich gebraucht wurden. Na gut, zugegeben, Venelli ärgerte sich über diese Prioritätensetzung. Aber so war das schon immer gewesen, und so würde es für immer und ewig bleiben: Die Grenzflotte durfte immer nur am Katzentisch sitzen, und dann wurde von ihr erwartet, die eigentlichen Aufgaben der Navy zu übernehmen – mit halb so vielen Schiffen, wie für die jeweiligen Aufgaben angemessen gewesen wäre.
Wie die meisten Angehörigen der Grenzflotte hatte auch Venelli einen bizarren Stolz darauf entwickelt, die jeweils gestellten Aufgaben auch mit Material zu erfüllen, das eigentlich schon ausgedient hatte. Arbeitseinstellung und arrogantes Auftreten der Schlachtflotte waren es, worüber sie sich ärgerte. Als Crandall schließlich ihren Verband in den Madras-Sektor verlegt hatte, hätte Francine Venelli am liebsten ein kleines Freudentänzchen aufgeführt, wäre da nicht die Befürchtung gewesen, Crandall könnte das McIntosh-Kontingent ihrem Flaggschiff unterordnen. Aber diese Befürchtung hatte sich als unnötig erwiesen. Was sollte auch ein Admiral der Schlachtflotte mit Schiffen der Grenzflotte anfangen, selbst wenn sich deren Kommandantinnen und Kommandanten in der Region auskannten, in der der Admiral tätig werden wollte?
Venelli war kaum die Zeit geblieben, eine gute Flasche Wein zu öffnen, um die wiedergewonnene Freiheit zu feiern. Denn schon war die Nachricht von Frinkelo Osborne eingetroffen, und Gouverneurin Annetje Slidell – nach Captain Venellis wohlbedachter Meinung nicht gerade die hellste Kerze am Weihnachtsbaum – hatte der Hoplite einen neuen Auftrag erteilt: Gemeinsam mit dem Leichten Kreuzer Yenta MacIlvenna und den Zerstörern Abatis und Lunette sollte sie nachschauen, was zum Henker denn da im Loomis-System vor sich ging.
Was auch immer es sein mochte: Gut geklungen hatte es nicht, doch Osbornes ursprüngliche Nachricht hatte Venelli nie zu Gesicht bekommen. Warum auch? Warum bloß sollte Gouverneurin Slidell die Depesche des ranghöchsten OFS-Offiziers jenem Offizier der Grenzflotte zugänglich machen, der angewiesen worden war, besagtem OFS-Offizier zur Hand gehen? Tja, offenkundig benötigte Francine Venelli derlei Informationen nicht. Die an sie ergangenen Anweisungen waren kurz und knapp ausgefallen: ›Inmarschsetzung nach Loomis. Meldung bei Frinkelo Osborne. Tun Sie, was immer er von Ihnen verlangt.‹
Wenigstens einfach und unmissverständlich, ging es ihr durch den Kopf. Allerdings bezweifelte sie, dass die Formulierung ›Tun Sie, was immer er von Ihnen verlangt‹ die schönsten Erfahrungen ihres Lebens verhießen – das war selten der Fall bei derart formulierten Anweisungen. Das wiederum brachte sie zurück zu ihrem Mittagessen und Osbornes verdammtem Rafferspruch.
»Na gut«, sagte sie und ließ den Blick über den Tisch wandern, als ihr Cabin Steward neben ihrem Arm eine Schüssel Kartoffelsalat abstellte. »Wir sind immer noch sieben Stunden vom Halkirk-Orbit entfernt, und ich habe immer noch Hunger. Übertragen Sie die Nachricht in den Eingangskorb meines Coms. Ich schaue sie mir nach dem Essen an.« Sie gestattete sich, kaum merklich das Gesicht zu einer Grimasse zu verziehen. »Die Galaxis wird wohl auch in zwanzig Minuten noch da sein, und ich lasse mir von diesem Osborne gewiss nicht noch vor dem Essen den Appetit verderben!«