Blutige Nordsee

Ostfrieslandkrimi

Dörte Jensen


ISBN: 978-3-96586-376-7
1. Auflage 2021, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2021 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild: Unter Verwendung von shutterstock Bildern.

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Inhalt

Friesengöttin

 

Wattenmeer, August

 

Vanessa hatte einen Fehler gemacht. Wenn sie sich nicht auf die Sache eingelassen hätte, wäre sie jetzt in Sicherheit. Statt sich nun aber in ihrem Bett unter die warme Decke zu kuscheln, stampfte sie wenige Minuten nach Mitternacht durch das Wattenmeer.

Der Schlick quoll mit widerlichen Geräuschen zwischen ihren Zehen hervor. Ein leichter Nachtwind ließ sie frösteln. Statt ihrer dünnen Bluse hätte sie sich eine Wetterjacke und Gummistiefel anziehen sollen.

Aber das wäre vollkommen uncool gewesen, schließlich wollte sie vor der Kamera glänzen. Wenn sie in albernen Klamotten vor der Linse gestanden hätte, hätten ihre Freun­dinnen sich nur wieder über sie lustig gemacht.

Freundinnen.

Vanessa verzog bei dem Wort das Gesicht, als müsste sie eine bittere Medizin schlucken.

Falls sie nicht länger die Außenseiterin sein wollte, die als Speckschwarte oder Schwabbelmonster verlacht wurde, musste sie diese Nacht irgendwie überleben.

Vor ihrem inneren Auge sah sie die feixenden Gesichter der Clique, zu der sie gerne gehören würde, so deutlich, als würde sie sich einen Film ansehen. Bestimmt hatte jeder von ihnen bereits ein Glas Sekt in der Hand, um auf ihr Scheitern anzustoßen.

Bisher hatte Vanessa – außer den angefutterten Kilos – in ihren siebzehn Lebensjahren nichts auf die Reihe bekom­men. Sport war ihr zu anstrengend, Mathe zu schwierig und Fremdsprachen zu lernintensiv.

Während sich die anderen in angesagten Clubs und auf Partys amüsierten, lag sie mit einer Tüte Chips und einer Tafel Nussschokolade auf dem Sofa und starrte in die Glotze. Bei den Liebesfilmen, die sich Vanessa am liebsten ansah, konnte sie ihrer eigenen Welt zumindest für kurze Zeit entfliehen.

Christopher hatte sie aus ihrer Lethargie gerissen. Wenn sie den Abiturienten für sich gewinnen wollte, musste sie ihr Leben aber endlich in den Griff kriegen.

Inzwischen schwappten immer wieder Ausläufer der auflaufenden Flut über ihre Füße. Das kalte Wasser kühlte ihren Mut ordentlich ab.

Was hatte sie sich bei der bescheuerten Aktion nur gedacht? Wie dämlich musste man eigentlich sein, um sein Leben in die Hände eines unbekannten Mannes zu legen? Warum kehrte sie nicht einfach zum Strand zurück?

Vanessa blieb stehen und drehte sich um. Das rettende Ufer war nur noch als verschwommene Silhouette erkennbar.

»Jetzt kannst du keinen Rückzieher mehr machen.«

Der Unbekannte schien ihre Gedanken erraten zu haben. Seine Stimme klang hinter der Maske so dumpf, dass sie kaum zu verstehen war. Im Gegensatz zu ihr trug er einen gelben Friesennerz, wie die Regenmäntel in Ostfriesland genannt wurden, gleichfarbige Gummistiefel und schwarze Handschuhe.

Über der rechten Schulter trug er den Pfahl. In seinem Rucksack verbarg sich neben der Kamera ein Laptop, mit dem er ihr Martyrium auf seiner Website friesengott.com live ins Internet stellen würde. In der linken Hand hielt er einen Vorschlaghammer.

Mit festen Schritten marschierte er in einen dunklen Hori­zont hinein, der sie wie ein schwarzes Loch zu verschlingen drohte. Schwarze Wolken schoben sich immer wieder vor den Mond. Inzwischen lief Vanessa durch knöcheltiefes Wasser.

»Hier ist eine kleine Sandbank.« Er deutete auf eine schmale Anhöhe, die noch nicht von der Flut überspült wurde. Der Unbekannte ließ den Pfahl dort fallen und nahm den Rucksack ab. Wenige Augenblicke später trieb er den unten angespitzten Holzpflock mit wuchtigen Schlägen in den sandigen Untergrund. Nachdem er den Pfahl fest einge­schlagen hatte, holte er ein Hanfseil aus dem Rucksack. »Bist du bereit für deinen großen Auftritt?«

Auch wenn Vanessa am liebsten den Kopf geschüttelt hätte und davongelaufen wäre, nickte sie tapfer. In dieser Nacht würde die Speckschwarte sterben und als Friesengöttin wiedergeboren werden. Morgen würde Vanessa endlich die Beachtung finden, die ihr so lange verwehrt geblieben war. Dazu musste sie diese Nacht allerdings überleben.

»Stell dich mit dem Rücken an den Pfahl!«, ordnete der Unbekannte an.

Vanessa warf einen letzten Blick zum Strand, der nun nicht mehr zu sehen war.

»Habe ich überhaupt eine realistische Chance?«

Ihre Worte wurden vom Rauschen der Nordsee untermalt, die sich mit jeder Welle etwas weiter an sie heranpirschte. Einen Moment lang blickte sie wie erstarrt auf die Wassermassen, die sie in ein feuchtes Grab ziehen konnten.

Dann gab sie sich einen Ruck und folgte der Anweisung.

Er trat hinter Vanessa, ergriff ihre Arme und zog diese nach hinten. Ihre Frage beantwortete er erst, nachdem er sein Opfer so fest am Pfahl verschnürt hatte, dass Vanessa nur noch den Kopf bewegen konnte.

»Keine Ahnung, aber genau darum geht es bei der Suche nach dem ultimativen Kick doch, oder nicht?« Auch wenn sie seinen Gesichtsausdruck hinter der Maske nicht erken­nen konnte, hätte Vanessa schwören können, dass der Unbekannte grinste. Wenige Minuten später hatte er auf dem Pfahl einen Teleskoparm angebracht, an dem eine wasserdichte Webcam befestigt war.

»Darauf wird man dich von der Hüfte aufwärts sehen«, erklärte er. »Zumindest bis die Flut kommt. Irgendwann wird nur noch dein Kopf aus dem Wasser ragen. Danach …«

Er verstummte und zuckte mit den Schultern, als sei damit alles gesagt. Dann drückte er ihr einen etwa streichholz­großen Kasten in die aneinandergefesselten Hände.

»Wenn du es nicht mehr erträgst, musst du einfach nur … aber das weißt du sicherlich, oder?«

Vanessa bewegte den Kopf einige Zentimeter vor und dann wieder zurück.

»Willst du noch etwas sagen, bevor ich dich online schalte?«

»Ich werde die erste Friesengöttin sein«, antwortete sie trotzig und hoffte, dass er das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkte.

»Dabei wünsche ich dir viel Glück.«

Der Maskierte gab auf dem Laptop, den er auf seinen Knien balancierte, einen Befehl ein. Als an der Webcam ein rotes Lämpchen aufleuchtete, nickte er zufrieden und entfernte sich aus ihrem Sichtfeld.

»Du schaffst das«, sprach sich Vanessa selbst Mut zu und lächelte siegessicher in die Kamera. Die Vorstellung, dass Zigtausende sie durch ein virtuelles Fenster betrachteten, war erregend und furchteinflößend zugleich. In Gedanken sah sie die Kommentare der angemeldeten User neben ihrem Livestream vor sich.

 

Die fette Kuh wird in der Nordsee ertrinken.

 

Hoffentlich verwechselt die niemand mit einem Walross.

 

An der haben die Fische ordentlich was zu knabbern.

 

Vanessa wird die erste Friesengöttin sein.

 

Die Vorstellung, dass Christopher sie als Siegerin sah, gab ihr neuen Mut, deshalb würde sie keinesfalls aufgeben. Wenige Minuten später war ihr Lächeln schon gequälter, denn die ersten Brandungsausläufer hatten bereits die Jeans ihrer Oberschenkel durchnässt. Das Wasser war so kalt, dass sie ihre Füße kaum noch spürte.

»Nicht aufgeben!«, motivierte sie sich und reckte trotzig das Kinn vor.

Als Vanessa bis zum Bauchnabel in der Nordsee stand, hatte die Flut das Lächeln längst weggewischt. Auch wenn ihr Mut im Meer zu versinken drohte, ließ sie sich ihre Angst nicht anmerken.

Tapfer blickte sie auch dann noch in die kleine Kamera, als ihr das Wasser bereits bis zum Hals stand und die Gischt ihr Gesicht mit Salzwasser nässte, das in ihren Augen brannte.

Die erste Welle, die über ihrem Kopf zusammenschlug, steckte Vanessa noch weg. Inzwischen war ihr so kalt, dass sie am ganzen Körper zitterte. Die Nordsee schien ihr Blut in Eis verwandelt zu haben, welches sie von innen heraus erstarren ließ.

Als ein größerer Brecher ihren Kopf überspülte und sie nach Luft rang, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Auch wenn sich Vanessa damit tröstete, dass man diese zwischen dem Salzwasser, das von ihrer Haut abperlte, nicht erkennen konnte, wusste sie dennoch, dass man ihr die Angst nun deutlich ansah. Wahrscheinlich machten sich die Betrachter vor den Monitoren über das verheulte Gesicht lustig. Sollten sie doch.

Über eine Friesengöttin würde keiner mehr lachen.

Vanessa schloss die Augen und atmete tief ein, bevor die nächste Welle über ihr zusammenbrach und sie so lange unter Wasser hielt, bis ihre Lungen schmerzen.

Keuchend atmete sie ein, nur um sofort wieder überspült zu werden, und jetzt schien die Nordsee kein Erbarmen zu kennen, denn die Wellen folgten nun in kurzen Abständen.

Als Vanessa nach Luft schnappte, schluckte sie Salzwasser und hustete.

Bevor sie sich davon erholt hatte, schwappte ein riesiger Brecher über sie hinweg – und hielt sie so lange unter Wasser, dass sie panisch auf den Schalter des kleinen Kästchens drückte. Dann … war es vorbei.

 

Liveübertragung

 

Oldenburg, August

 

»Ricarda, was ist das denn für ein Film?« Kommissar Joost Kramer beugte sich in seiner Oldenburger Wohnung über die Schulter seiner Lebensgefährtin, die gebannt auf den Monitor ihres Laptops starrte.

»Das ist kein Film, sondern ein Livestream.«

»Da wird doch jemand gefoltert.« Er deutete auf eine korpulente junge Frau, die bis zur Brust in der Nordsee stand und offensichtlich an einen Pfahl gefesselt war.

»Beruhige dich, das ist nur eine Challenge. Wer am längsten durchhält, wird zum Friesengott gekrönt. In diesem Fall natürlich zur Friesengöttin«, fügte sie schmunzelnd hinzu.

»Die Teilnehmer lassen sich während der auflaufenden Flut freiwillig an einen Pfahl fesseln?« Joost tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. »Das ist doch Selbst­mord. Dagegen müssen meine Kollegen etwas unterneh­men. Kennst du den Standort der Frau?«

»Nein, denn der Übertragungsort wird immer geheim gehalten.«

»Unsere IT-Spezialisten können das Signal der Daten­übertragung sicherlich zurückverfolgen«, vermutete der Kommissar.

»Bisher ist noch niemand gestorben«, beruhigte ihn Ricarda. »Die Teilnehmer können das Spektakel jederzeit mit dem Kästchen in ihrer Hand beenden. Bei einem Klick auf den Schalter wird die Übertragung abgebrochen und sie werden befreit.«

 

Speckschwarte kann nicht ersaufen, denn Fett schwimmt oben

 

Ein weiterer Kommentar erschien am rechten Bildschirm­rand. Joost überflog die meist gehässigen Anmerkungen kopfschüttelnd.

»Warum machen sich manche Leute vor laufender Kamera freiwillig zum Gespött der Zuschauer?«

»Keine Ahnung, aber die meisten Castingshows im Fernse­hen funktionieren auch nach dem Prinzip der Schaden­freude.«

»Damit hast du leider recht«, stimmte ihr Joost zu, bevor er fragte: »Woher weißt du überhaupt davon? Du siehst dir so einen Unfug sonst doch auch nicht an.«

»Meine Freundin Henrike hat mich darauf aufmerksam gemacht. Hättest du denn gerne eine Friesengöttin an deiner Seite?«, neckte Ricarda den Kommissar.

»Ich möchte mit einer Frau leben, die noch alle Tassen im Schrank hat«, entgegnete Joost.

»Dann wirst du dich wohl nach einer anderen Freundin umsehen müssen.« Ricarda grinste und ergriff seine Hand. »Keine Sorge, so verrückt bin nicht einmal ich.«

»Das ist doch Wahnsinn.« Der Kommissar deutete auf die Jugendliche, die gerade von einer Welle verschluckt wurde. »Meine Kollegen werden dem Spuk hoffentlich bald ein Ende bereiten.« Er zog sein Mobiltelefon aus der Hosen­tasche und tippte auf eine im Kurzwahlverzeichnis hinter­legte Telefonnummer. Kurz darauf sprach er mit einem Beamten des Polizeikommissariats Norden, der sich um die Angelegenheit kümmern wollte.

Nach dem Anruf legte Joost das Gerät zur Seite und warf einen erneuten Blick auf den Monitor – auf dem nur die Nordsee und ein kleines Stück des Pfahls zu sehen waren, der noch aus dem Wasser ragte.

 

Die Seekuh lernt tauchen.

 

Ein mit sieben Lachsmileys verzierter Kommentar erschien am rechten Bildschirmrand.

 

Mit dem Vakuum in ihrem Kopf dürfte sie eigentlich nicht untergehen.

 

Darf man menschlichen Müll einfach in der Nordsee entsorgen?

 

Die Schlampe wird niemals eine Friesengöttin sein.

 

Die Kommentare erschienen nun im Sekundentakt und wurden mit jeder Bemerkung beleidigender. Plötzlich schwappte eine riesige Welle auf die Kamera zu, dann brach die Verbindung ab. Wenige Augenblicke später wurde der Bildschirm schwarz.

»Was ist denn jetzt passiert?« Joost runzelte die Stirn.

»Die Show ist vorbei. Die Teilnehmerin hat den Notschal­ter gedrückt und aufgegeben.«

»Was geschieht mit ihr? Wird sie gerettet? Wer steckt überhaupt hinter der Website? Wie kann jemand so eine Seite betreiben und …«

»Stopp!« Ricarda hob die rechte Hand. »Ich kann keine deiner Fragen beantworten, weil ich mir die Übertragung heute auch zum ersten Mal angesehen habe.«

»Hoffentlich auch zum letzten Mal«, grummelte der Kommissar. »Mir ist schleierhaft, wie man sich auf so eine gefährliche Aktion einlassen kann. Für wenige Minuten zweifelhaften Ruhms vor der Kamera würden die meisten Menschen heutzutage ihre eigene Großmutter verkaufen. Hoffentlich finden meine Kollegen die junge Frau rechtzeitig.«

»Keine Sorge, der Teilnehmerin wird schon nichts passie­ren«, versuchte ihn Ricarda zu beruhigen.

»Bist du sicher?« Joost sah seine Freundin ernst an.

Nach einem Moment des Zögerns schüttelte Ricarda den Kopf.