Für Silva
Prolog
Mein Internet ist schneller als Gott
Ich möchte Eva als Schutzpatronin
Mein Unvermögen, einen 7. Tag zu haben
Salomos Frauen sind noch in Kontakt
Gott hat mir nie das Du angeboten
Kohelet hat einen iCal-Kalender
Lieber ein Ablassbrief als gar keine Erlösung
Jona sagt, ich habe ein Stockholmsyndrom mit mir selbst
Der verlorene Sohn hat einen Bruder, der verlassen wurde
Ich bin besser im Fragen als im Antworten
Der barmherzige Samariter wäre von mir enttäuscht
Jesus sitzt nicht in der U-Bahn
Maria Magdalena wird heute wieder bei mir schlafen
Liebe ist ein Coworking-Space
Zachäus wettet mit sich selbst und gewinnt fast immer
Ich will nicht wie Pilatus werden
Ich war noch nie froh an Weihnachten
Petrus und eine Seite des Interviews
Im Himmel habe ich endlich ein Sättigungsgefühl
Die Autorin
Ich habe kurz überlegt, ob ich jetzt, nach dem Schreiben, wegschauen würde, wenn ich Gott auf der Straße erkennen würde, und ob es mir unangenehm wäre, wenn er mich auf das Buch ansprechen würde – so, als hätte ich es ohne seine Einwilligung veröffentlicht. Ich habe ständig Angst, irgendjemandem zu nahe zu treten, selbst Gott.
Dann dachte ich: Dieses Buch ist gar kein Buch über Gott. Dieses Buch ist auch kein Buch über die Bibel, sondern ein Buch, das beim Lesen der Bibel entstanden ist. Ich wollte dieses Buch nicht schreiben, weil mich Gott interessiert, sondern weil mich meine Sehnsucht nach einem Gott interessiert. Ich wollte wissen, woher mein Bedürfnis nach Gott kommt. Und was mich mein Bedürfnis nach Gott angeht. Dieses Buch ist also von Anfang an eine Suche gewesen und auch eine Suche geblieben.
Fragen haben sich für mich aufgeworfen, Fragen zum Glauben, zu dem Umgang mit entwerteten Kurzfahrtentickets, den Erinnerungen an Kindergottesdienste und den Eilmeldungen auf meinem Handy.
Dieses Buch ist aber auch ein Buch über Eva und Salomos Frauen, Kohelet und Hagar, Jona und den verlorenen Sohn, den barmherzigen Samariter, Maria Magdalena, Zachäus und Petrus. Was wäre, wenn sie nicht vor tausenden von Jahren gelebt hätten, sondern heute?
Dieses Buch ist eine Aufforderung, sich ein eigenes Bild zu machen.
Zu schauen, was da ist. Und zu schauen, was fehlt.
Sophia Fritz
Existiert Gott?
Ich weiß nicht, wann ich mir das letzte Mal sicher war, dass es ihn gibt.
Ich habe mich wirklich lange bemüht, an ihn zu glauben. Doch Gott stand für mich irgendwann nicht mehr nur für Ausmalbilder, Kindergottesdienste, Kommunionsvorbereitung und Sternsingen, für die Adventszeit und die Bilderbücher über das Jesuskind. Gott verband ich irgendwann auch mit Menschen, die LKWs in Fußgängergruppen rasen lassen, von Brücken springen, Sekten gründen, Kinder missbrauchen und Kriege anfangen.
Mein kindlicher Glaube ist irgendwann verschwunden, zusammen mit einer generellen Unbekümmertheit, die nicht auf ihn bezogen war.
Was ich vermisste, war seine Reaktion auf die Dinge.
Ich wurde in dem Glauben großgezogen, dass es einen Gott gibt, der jeden Menschen liebt und für den es sich lohnt, Sonntagmorgen um neun in die Kirche zu gehen, für den an Weihnachten riesige Feste gefeiert werden und für den Menschen »Jesus lebt!« auf ihr T-Shirt drucken lassen. Den Glauben an einen Gott, der Wunder passieren lässt, Stürme stillt, Kranke heilt und Tote lebendig macht.
Und dann schalteten wir abends in unserem Fernsehzimmer die Nachrichten an – Attentate, Korruption, Flucht und Hungersnöte. Und da war nichts. Ich habe nichts gefunden. Keine Reaktion. Kein Wunder, kein Einschreiten der Gerechtigkeit, keine übermenschliche Waage, die alles im Gleichgewicht hält. Ich wusste nicht, was schlimmer war: zu wissen, dass er etwas ändern könnte und es bewusst nicht tat, oder zu denken, dass er sowieso nicht existiert und dass sich damit die Frage erübrigt, warum er nichts unternahm.
Die Vorstellung, dass Gott schon so richtig im Leben stand, als er den Menschen erschaffen hat, beunruhigt mich genauso wie die, dass ich als Mensch auf der Welt keinen Einfluss haben könnte, weil Gott so beständig, allmächtig und allwissend ist und alles schon vorherbestimmt hat. Und die, dass er wankelmütig sein könnte und bedürftig.
Ich könnte mir vorstellen, dass der Moment, in dem wir Gott zum ersten Mal in echt sehen, dann ziemlich ernüchternd wird. Möglicherweise sieht er in echt gar nicht so beeindruckend aus wie auf unseren Bildern, genau wie das Kolosseum oder das Empire State Building. Gott steht dann vor mir, aber der passende Soundtrack fehlt und das Licht kommt von hinten, ich knie mich vor ihm nieder und entdecke von Nahem ein paar Stellen, wo die Farbe abblättert.
Gott hat mich schon sehr lange nicht mehr enttäuscht, weil ich mich schon sehr lange nicht mehr auf Gott verlassen habe.
Als ich mit der Schule fertig wurde, habe ich es noch einmal versucht. Tagungen, Ministranten-Wallfahrten und Religionsunterricht. Ich wollte dieses Stück meiner Heimat, das Gott mir bedeutete, nicht unbedingt verlieren. Ich habe zwei andere Kirchengemeinden ausprobiert, war auf christlichen Freizeiten, habe mir Theologievorlesungen angehört und mir zum Ziel gesetzt, jeden Tag zu beten.
Doch in den Gottesdiensten hatte ich meistens das Gefühl, dass Gott keine Metapher mehr war, sondern eine Redensart, die ihre Bedeutung verloren hat. Die Bibel schien nicht mehr als ein Buch zu sein, aus dem man sich schöne, belanglose Kalendersprüche heraussuchen konnte. Aber ich wollte vom Pfarrer nicht nur die Postkarte geschenkt bekommen, auf der ein Kornfeld im Herbstlicht abgebildet ist und auf der in geschwungener Schrift steht: »Gott umgibt dich von allen Seiten und hält seine Hand über dir. – Psalm 139,5«. Ich wollte einen kitschigen Sonnenuntergang hinter dem Satz sehen: »Da aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden und es bekümmerte ihn in seinem Herzen. – 1. Mose 6,5–6«. Und schauen, wer das dann noch aufhängen würde. Ich fand es anmaßend, die Bestärkung, die ein Prophet etwa 550 v. Chr. bekommen hat, um ihn im Krieg zu motivieren, auf meinen nächsten Mathetest zu beziehen. Ich kann nicht so tun, als würde mir das genügen, als wäre ich mit der Abstraktion zufrieden und als müsste Gott nichts mehr sagen, weil die Bibel schon alles sagt und ich kein Update mehr brauche.
Früher war es vielleicht gar nicht so schlimm, nicht zu wissen, was Gott macht und denkt. Vielleicht kam es den Menschen gar nicht so seltsam vor, nichts von Gott zu hören, wenn sie selbst von ihren Verwandten nur einmal im Jahr einen Brief geschickt bekamen. Selbst ich habe mich als Schülerin noch darüber gefreut, wenn ich mir einmal im Monat stark retuschierte, dünne Bravo-Poster meiner Lieblingsbands vorsichtig aus dem Heft trennen konnte. Vielleicht hatte man damals gar nicht den Anspruch zu wissen, wie Stars am dritten Tag ihrer Krankheit aussehen. Sie kannten vielleicht noch gar keine Stars, außer vielleicht Königsfamilien, die einmal im Quartal von ihrem Balkon winkten. Heute sehe ich jeden dritten Tag ein verwaschenes Selfie von ihnen aus dem Badezimmer auf ihrem Instagram-Kanal. Ich sage nicht, dass mir das besser gefällt. Nur, dass es normal geworden ist.
Meine Vorbilder updaten sich. An der Uni bekam ich schon im ersten Semester den Rat, einen Instagram-Account, eine Webseite und eine Facebookseite für eventuelle Arbeitgeber anzulegen. Es ist ein Druck da, upzudaten. Es ist eine Anspruchshaltung da, upgedatet zu werden. Ich habe eine andere Anspruchshaltung an meine Vorbilder als die Menschen früher. Ich erwarte von ihnen, dass sie mich auf dem Laufenden halten und mit mir kommunizieren.
Natürlich überträgt sich das auch auf meinen Glauben. Ich erwarte von Gott irgendeine Reaktion. Ich will, dass Gott jetzt etwas sagt. Wenn er sich schon zur Zungenrede, zur Homoehe und zu Nahtoderfahrungen nicht äußert, weiß ich nicht, wieso ich in meiner Lebensspanne von sechzig Jahren auf eine Antwort für persönliche Probleme hoffen sollte.
Ich habe vor kurzem gelesen, dass wir in einer Großstadt im Schnitt jeden Tag sechshundert Werbeanzeigen wahrnehmen. Sechshundert Aufforderungen, die mir sagen, an was ich glauben sollte. Sechshundert Aufforderungen, die mir sagen, dass mein Leben ein gutes, aber ein verbesserungswürdiges Leben ist, ein mangelhaftes Leben, ein Leben, in dem jeden Tag sechshundert Produkte fehlen, an die ich glauben sollte. Wenn jedes dieser Produkte mein Leben verbessern würde, hieße das, dass ich jeden Tag sechshundert Chancen verpasse, mein Leben zu optimieren.
Natürlich habe ich versucht zu glauben. Ich habe mir ein neues Shampoo gekauft. Und gutes Essen. Und einen Staubsauger. Ich habe mein Handy zwei Wochen zu Hause gelassen, ich habe mir eine Gesichtscreme gekauft, ich habe meine Haare vor dem Schlafengehen zu einem Zopf geflochten. Natürlich habe ich die Fenster geöffnet. Natürlich habe ich versucht, alles aufzuschreiben. Vielleicht bin ich müde vom Glauben, weil ich müde davon bin, effizient sein zu müssen.
Ich bin nicht gut im Glauben.
Ich hätte gerne einen halbjährigen Check-up, um zu sehen, ob Gott noch für mich da ist, wie einen Arzttermin. Mein Glaube existiert nur dann, wenn Gott für mich einen Mehrwert hat. Ich muss in diesem Leben durch den Glauben an Gott glücklicher sein, um ihn überhaupt als Gott zu akzeptieren. Ich glaube, wenn Gott überall ist, kann er nicht auf meiner Seite sein.
Ich bin nicht gut im Glauben.
Mir ist es nicht so wichtig, ob es ihn wirklich gibt oder nicht, da ich durch die Vorstellung von einem ewig liebenden Gott schon ein besseres Leben gelebt habe, als wenn ich diese Vorstellung nicht gehabt hätte.
Ich bin nicht gut im Glauben.
Ich ertappe mich dabei, wie ich mir einen Gott wünsche, als Zeuge meiner Begegnungen, aus einer Verlustangst heraus, als Zeuge meines Lebens. Ich ertappe mich also dabei, wie ich mir Gott als eine große iCloud-Mediathek wünsche, mit genügend Datenvolumen für alle meine Erinnerungen in Farbe und in der bestmöglichen Auflösung.
An diese Vorstellung von Gott kommt mittlerweile mein Handy am nächsten ran. Mein Handy ist da, wenn ich mich vor dem Alleinsein fürchte, wenn ich unruhig oder traurig bin, gelangweilt oder frustriert. Es sorgt für Ablenkung von meinen Gefühlen. Nur bei meinem Handy habe ich eine hundertprozentige Erfolgschance, dass der gewünschte Zustand sofort eintritt. Ich gehe einfach ins Internet und suche mir aus, welches Gefühl ich gerade hervorrufen möchte.
Mein Drang, lieber zum Handy als zu Gott zu greifen, ist alles andere als respektlos. Ich habe zu viel Respekt vor Gott, als dass ich ihn bei meinen eigenen Problemen um Hilfe fragen würde. Also sitze ich in Ehrfurcht vor dem Nichts, ich sitze in Schweigen und bekomme keine Reaktion.
Wenn Gott wie mein Handy funktionieren würde, würde ich öfter beten. Aber mit Gott ist es komplizierter. Gott gibt mir keine Ablenkung. Bevor ich anfange mit Gott zu reden, muss ich erst selbst zur Ruhe kommen.
Mein Internet ist schneller als Gott, nur: Ich möchte wieder nicht erreichbar sein. Ich möchte wieder Zeit für Langsamkeit haben.
Was mir fehlt:
—Ein Update von Gott
—Ein Adblocker für meine Gedanken
—Eine Lesebestätigung für meine Gebete
Ich möchte Eva als Schutzpatronin, weil sich nie jemand besser mit Verlust auskennt. Weil sie die Einzige ist, die sich noch daran erinnert, wie sehr Gott sie wollte.
Weil sie den Rest ihres Lebens von ihrer Vergangenheit erzählen musste, als wäre sie ein Rotweinfleck. Weil Eva sich immer an die ersten Stunden erinnern konnte, in denen es noch nichts Schlechtes gab.
Ich möchte mit Eva über Scham reden und von ihr das Wort »Distanz« hören, denn niemand kann Scham und Distanz besser nachempfinden als Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies. Ich möchte von ihr hören, dass schamlos sein nur heißt, keine Geheimnisse zu haben, und dass es einmal einen Ort gab, an dem man nicht einmal den Gedanken kannte, sich verstecken zu müssen.
Ich würde Eva sagen, dass ich immer gleich versuche, den ganzen Baum mitzunehmen, wenn mir jemand sagt, ich soll die Frucht nicht essen. Ich renne jeder Schlange hinterher, die mir etwas verspricht. Wenn ich Eva wäre, hätte ich nicht in den Apfel gebissen, um mehr wie Gott zu sein, sondern um weniger wie ich zu sein.
Ich will Eva als Schutzpatronin, weil sie weiß, wie es ist, von Gott erschaffen zu werden und trotzdem nicht genug an ihn zu glauben.
Ich möchte mit Eva darüber reden, ob der Gedanke an den Apfel manchmal wehtut – nicht, was sie getan hat, sondern wie berechenbar sie dabei war. Und ob sie den Schmerz immer noch halb in Verlust und halb in Erniedrigung einsortiert.
Eva musste keine Erinnerungen mit sich herumtragen, konnte nichts mit ihrer Kindheit rechtfertigen und war trotzdem nicht fähig, eine gute Beziehung zu leben. Ich möchte von ihr wissen, wie es ist, wenn das Einzige, was man kennt, die Liebe ist, und man trotzdem den Geliebten beschuldigt, den Apfel gegessen zu haben.
Ich will, dass Eva mir den Unterschied zwischen »verlieren« und »Verlust« beibringt.
Ich will, dass Eva mit mir Landkarten liest und einzeichnet, wie sehr man Reue einen neuen Maßstab geben kann. Und dass sie mit Rotstift ankreuzt, wo man hingehen soll, wenn der Einzige, den deine Zukunft noch etwas angeht, derjenige ist, der kein Teil mehr davon sein will.
Ich will, dass sie auf den Marianengraben deutet und erzählt, wie leer sie sich nach der Vertreibung gefühlt hat.
Wie sie für ihre Freunde zu einem Museum wurde.
Wie das Fehlen von Gott der ganze Ausstellungsraum war.
Ich möchte Eva als Paartherapeutin. Ich möchte, dass Eva mich unterbricht und sagt: »Ihr habt euch nicht auseinandergelebt, ihr habt euch zu sehr ineinander gelebt, ihr kennt euch viel zu gut und jetzt fühlt sich alles ein bisschen wie Inzest an. Ihr habt euch nicht voneinander distanziert, ihr habt euch durchschaut und jetzt findest du ihn nicht faszinierender als dich selbst, ich kenne das auch.«
Wenn ich Eva wäre, würde ich viele Dinge nicht erwähnen.
Ich würde nicht über Adam reden, und wie er ihr ihren Namen geben durfte. Ich würde nicht über Gott reden und wie er sie noch angezogen hat, bevor er sie aus dem Paradies vertrieb.
Wenn ich Eva wäre, würde ich die ganze Zeit von dem Apfel erzählen und von dem Gefühl, Liebe gegen alle Möglichkeiten abwägen zu dürfen, und sich für die Möglichkeiten zu entscheiden.
Ich würde von dem Recht reden, das man hat, sich ganz gegen Gott zu wenden, und ich würde das mit Freiheit vergleichen.
Ich würde davon erzählen, wie es ist, alle Dinge neu benennen zu dürfen.
Was ich an Evas Stelle sagen würde, wäre mein bester Versuch, manche Erlebnisse zu vergessen. Ich würde Gott meistens als bedrohlich darstellen und dabei hoffen, dass er mir das verzeiht. Es würde mir nicht darum gehen, zu lügen, sondern einen Weg zu finden, mit manchen Wahrheiten weiterzuleben.
Gott sagte, Eva könnte von jetzt an Gut von Böse unterscheiden, aber ich glaube, er hat uns Menschen überschätzt.
Ich glaube nicht, dass wir Menschen uns gerne kaputt machen. Wir sehen nur über uns hinweg. Wir übermalen die Warnhinweise auf den Zigarettenschachteln, wir ignorieren die Mahnungen, wir dulden toxische Freundschaften und weiche Drogen. Wir achten nicht auf die Warnhinweise vor der ersten Liebe, vor der zweiten Liebe, vor der dritten Liebe, wir fälschen jede Unterschrift bei einem Vertrag mit uns selbst.
Ich hoffe, dass der Himmel nicht der Garten Eden ist und dass es dort keine Begierde, keinen Apfel, keine Schlange und keinen Notausgang gibt.
Denn wenn ich Eva wäre, würde ich jederzeit wieder in den Apfel beißen.