Simone Paganini
Unzensiert
Was Sie schon immer über Sex in der Bibel wissen wollten,
aber nie zu fragen wagten
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021
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Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal
Umschlagmotiv: © Designbüro Gestaltungssaal unter Verwendung einer Zeichnung von Esther Lanfermann, Aachen
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern
Die Übersetzungen der Bibelzitate sind vom Autor eigenhändig angefertigt.
ISBN E-Book 978-3-451-82228-5
ISBN Print 978-3-451-03275-2
Für Adriano
Am Anfang erschuf Gott … den Sex
1. Eine Dreiecksbeziehung am Anfang der Menschheitsgeschichte
2. Erzeltern zwischen Frauentausch und Teenie-Müttern
3. Im Bett mit Mutter, Schwester und anderen Verwandten
4. Zwei Prostituierte im Stammbaum Jesu
5. Vergewaltigung als Sachbeschädigung
6. Die großen Schwächen eines kleinen Helden
7. Liebe macht kopflos
8. »Wunderbar war mir deine Liebe, mehr als die Liebe der Frauen!«
9. Tausendundeine Frau
10. Senioren im Liebestaumel
11. Die feine Art der weiblichen Verführung
12. Von Gott betrogen
13. Besser gar kein Sex
14. Himmlischer Sex
Sex in der Bibel … gar nicht mal so schlecht
Literaturhinweise
Der Autor
Die Zeichnerin
»Sex ist göttlich!«, sagt Papst Franziskus in einem Interview Anfang September 2020 und bringt es damit ganz unverblümt auf den Punkt: Der Papst versteht ausgehend von Genesis 1 die Sexualität einschließlich der sexuellen Lust als Gottesgeschenk. Gleich zu Beginn der Bibel wird nämlich berichtet, dass Gott die Menschheit nach seinem Ebenbild erschuf. Er schuf sie als Mann und als Frau, segnete sie und fordert sie unmittelbar danach auf: »Mehret euch!« In der Folge betrachtet er, was er erschaffen hat, und gibt seinem Werk nach sechsmal »gut« zum ersten Mal die Note »sehr gut« (Gen 1,31).
Das Zeugen von Nachkommen allein hat aber nichts mit der Vision Gottes für seine Menschen zu tun, wie sie in der Bibel beschrieben wird. Beim Menschen soll es nicht um die reine Triebbefriedigung und Fortpflanzung gehen. Vielmehr lässt einvernehmlicher Sex zwischen Menschen eine tiefe Beziehung entstehen. Als Adam die gerade erschaffene Eva zum ersten Mal sieht, kann er nicht anders, als ihr ein Loblied zu singen: »Diese endlich ist Knochen von meinem Knochen und Fleisch von meinem Fleisch.« (Gen 2,23) Sein liebendes Erkennen ist Voraussetzung dafür, dass Mann und Frau miteinander Geschlechtsverkehr haben und nach biblischem Sprachgebrauch »zu einem einzigen Fleisch« (Gen 2,24) werden.
Als Isaak Rebekka, die Frau, die sein Vater Abraham für ihn ausgesucht hat, kennenlernt, sind zunächst noch keine Liebesgefühle im Spiel. Erst nachdem er mit ihr geschlafen hat, »gewinnt er sie lieb«, heißt es (Gen 24,67). Auch in dieser Episode zeigt sich die tiefere Bedeutung der sexuellen Beziehung innerhalb der biblischen Welt. Das hebräische Verb yada’ und das griechische gignosko, die im Alten und Neuen Testament oft für den Geschlechtsverkehr verwendet werden, bedeuten »kennen, kennenlernen, wahrnehmen, spüren« und sogar »sich um jemanden kümmern«. Durch diese Art des Kennenlernens werden zwei Menschen auf eine besondere Art und Weise miteinander vertraut. Sex beschreibt in der Bibel also mehr als eine lustvolle Aktivität. Er bildet im Idealfall die Basis für eine körperliche und seelische Verbindung zwischen Liebenden. Die gleiche Verbwurzel wird allerdings auch ganz unverblümt für »miteinander Sex haben« gebraucht, sei er freiwillig oder nicht. Das zeigt u. a., dass die Vorstellungen von Sex in der Bibel deutlich weiter gehen, als es der Papst in seinem Zitat ausdrückt. Sex ist in der Bibel kein Randthema. Das biblische Menschenbild ist stark von der Geschlechtlichkeit geprägt. Sich als Mann oder Frau wahrzunehmen – weitere geschlechtliche Differenzierungen sind der altorientalischen Welt der Bibel noch nicht bekannt –, gehört wesentlich zum Menschsein dazu. Darüber hinaus ist auch der ganz konkrete Sex in seinen vielfältigen Facetten, von der romantischen Liebe bis zur sexualisierten Gewalt, beinahe allgegenwärtig. Das gilt für die Erzählungen des Pentateuchs, der ersten fünf Bücher der Bibel, ebenso wie für die historischen und prophetischen Bücher und auch für die Weisheitstexte. Das ist auch weiter nicht verwunderlich, denn die Bibel handelt von den Menschen und erzählt ihre Geschichten. Sie versucht, mit moralischen Vorschriften und Gesetzen ihr Zusammenleben zu regeln, und besingt die unterschiedlichen Aspekte dieses Lebens mit Hymnen und Klagen. Sie enthält weisheitliche Regelungen, mit deren Hilfe der Alltag bewältigt werden kann, und berichtet in bildhafter Sprache über zwischenmenschliche Beziehungen und über die Beziehung zwischen Gott und seinem auserwählten, über alles geliebten Volk. Bei all dem spielt der Sex eine entscheidende Rolle.
So vielfältig wie das Zusammenleben der Menschen sind auch die Facetten des Sexuallebens: von romantischen Begegnungen und nächtlichen Verführungsritualen, Keuschheit und Erotik, verschmähter Liebe und leidenschaftlichem Sex bis hin zu Vielehe und Prostitution, sexualisiertem Machtmissbrauch und Vergewaltigung. Sex ist immer, sofern er nicht einvernehmlich ist, auch Ausdruck von Macht und Gewalt und deshalb sind so manche Geschichten, die wir in der Bibel finden, zwar durchaus realistisch und lebensnah, manchmal aber auch zutiefst verstörend.
Das Paradebeispiel für offensichtliche Romantik ist das Hohelied. In diesem Buch ist ihm zwar kein eigenständiges Kapitel gewidmet, da dieser Text häufig besprochen und interpretiert worden ist, aber ein paar Anmerkungen dazu sollen an dieser Stelle dennoch angeführt werden. Die Sprache des Hohelieds ist zwar bildhaft, sie ist dennoch mehr als eindeutig. Die Frau spricht von ihrem Liebhaber im Bild des Apfelbaums: »In seinem Schatten zu kuscheln gelüstet es mich zutiefst und seine Frucht ist in meinem Gaumen süß. Er hat mich in das Haus des Weines geführt und hat sein Feldzeichen in mir gepflanzt, die Liebe! … Seine Linke liegt unter meinem Kopf, und seine Rechte hält mich in einer tiefen Umarmung.« (Hld 2,3–6) Und der Mann bezeichnet seine Geliebte als »verschlossener Garten« (Hld 4,12). In diesen Garten will er eindringen und seine Früchte genießen: »Ich komme in meinen Garten … Ich pflücke meine Myrrhe zusammen mit meinem Balsam. Ich esse meine Wabe samt meinem Honig. Ich trinke meinen Wein samt meiner Milch.« (Hld 5,1) Es geht ganz offensichtlich um ein erotisches Vorspiel, um unterschiedliche Sexpositionen, um erogene Zonen der Frau, die stimuliert werden, und – wenn man das Bild des Mannes als Apfelbaum richtig deutet – auch um Oralverkehr.
Um diesen erotischen Aspekt zu relativieren, haben sowohl die rabbinischen als auch die christlichen Auslegungen aus dem Hohelied eine Metapher gemacht. Sie deuten die Kapitel des Hohelieds als eine Metapher für die unendliche und tiefe Liebe Gottes zu seinem Volk bzw. zu seiner Kirche. Ursprünglich aber handelt es sich um eine Sammlung von Hochzeitsliedern, die – und das ist nun wenig überraschend – genau das Eine besingen, nämlich den Sex in seinen unterschiedlichen Varianten. Die Lieder sind eine Art Einstimmung der Liebenden auf die Hochzeitsnacht. Die Geliebte verzaubert ihren Mann. Ein Blick von ihr genügt, um ihn zu betören, ihn in einen Rauschzustand zu versetzen. Die Gedichte beschreiben eine ganzheitliche Sinnlichkeit: Schmecken, Riechen, Hören, Fühlen ergänzen einander und steigern die Empfindsamkeit bis zum (sexuellen) Höhepunkt. Die Liebenden genießen die Nähe des anderen und fühlen sich stark zueinander hingezogen. Sie sehnen sich nach einander und haben nur Augen füreinander. Die sexuelle Lust, die sie empfinden, wird klar als etwas Besonderes, als etwas Göttliches beschrieben. Gott selbst aber wird in dem gesamten Büchlein namentlich nicht genannt, was der Hauptgrund dafür war, dass das Hohelied lange nicht als rechtmäßiger Teil der Bibel anerkannt wurde. Und doch ist auch hier Gott allgegenwärtig. Aber eben nicht in der Rolle eines (platonischen) männlichen Liebhabers, der seine Freundin oder Braut, die Kirche, über alles verehrt und liebt. Geliebter und Geliebte sind im Hohelied ganz konkrete Menschen. Ihre gegenseitige Hingabe ist eine körperliche und keine geistige. Gott bleibt im Hintergrund. Es ist aber offensichtlich, dass die Lust am Sex, welche die beiden Liebenden verspüren und einander bereiten, von Gott gutgeheißen wird, ja sogar gewollt ist.
Sex ist etwas, an dem man sich grundsätzlich erfreuen soll. Das belegen auch Stellen aus anderen biblischen Büchern: »Genieße jeden Tag mit der Frau, die du liebst«, ist im Buch Kohelet zu lesen (Koh 9,9). Und das Buch Deuteronomium schreibt vor, dass ein Jungverheirateter für ein Jahr vom Kriegsdienst, sogar im Kriegsnotstand, entbunden werden soll, um den Sex mit seiner Ehefrau genießen zu können (Dtn 24,5). Aber nicht nur der Mann hatte ein Recht auf Sex, sondern auch die Frau, denn keinen Sex zu bekommen war ein Scheidungsgrund, den eine Frau sogar einklagen konnte (Ex 21,10–11). Im Buch der Sprüche werden die weiblichen Genitalorgane gesegnet (Spr 5,18) und dem Mann wird empfohlen, sich an den Brüsten der Frau zu ergötzen und zu sättigen (Spr 5,19). Beim Propheten Ezechiel ist ganz unverblümt die Rede vom Penis und seiner Größe. Dieser sollte am besten so groß sein wie der eines Esels und der Samenerguss so mächtig wie der eines Hengstes, denn Frauen wollen mit derart bestückten Männern hemmungslosen Sex haben (Ez 23,20).
Vieles ist auch zwischen den Zeilen versteckt und wird nur sichtbar, wenn man sich auf die heute vergessene erotische Bildsprache der alten jüdisch-christlichen Texte einlässt. Zum Beispiel, wenn es wie oben beschrieben heißt, dass ein Mann eine Frau »erkennt« und diese in der Folge schwanger wird. Oder wenn man den Geschlechtsverkehr mit Wendungen beschreibt wie diesen: Die Frau hat »die Füße des Mannes gewaschen«, oder der Mann hat »die Frau mit seinem Mantel bedeckt«, woraufhin die beiden übrigens heiraten (müssen).
Darüber hinaus werden sexuelle Handlungen in den Erzählungen und Gesetzestexten des Alten Testaments auch ganz konkret geschildert: zwischen Frau und Mann vor der Ehe, mit mehreren Frauen in der Ehe, außerhalb der Ehe mit der Frau eines anderen Mannes u. v. m. Es wird (möglicherweise) masturbiert, verführt, genötigt, vergewaltigt. Es gibt inzestuöse und ehebrecherische Beziehungen. Es gibt Dreiecksbeziehungen und es gibt Sex mit Tieren und mit Kindern. Junge Menschen haben Sex, alte ebenso und ja, selbst Gott und seine Engel haben Sex, was für das altorientalische Denken gar nicht so besonders war. Selbstverständlich werden nicht alle genannten Facetten der Sexualität gutgeheißen, verschwiegen wird aber nichts.
Was die Evangelien betrifft, so ist hier zwar nirgends die Rede davon, dass Jesus Sex hatte. Deswegen findet sich in diesem Buch auch kein Kapitel zum Sexualleben Jesu. Jenseits von Mutmaßungen, die in Filmen und Romanen große Beliebtheit genießen, soll jedoch angemerkt werden, dass die Evangelien sehr wohl von intimen Beziehungen Jesu zu Frauen und Männern berichten, die für die damalige Leserschaft deutlich als sexuelle Begegnungen wahrnehmbar waren. Jesus spricht zum Beispiel allein mit Frauen, selbst wenn diese kein geordnetes Sexualleben haben und entweder Single oder Prostituierte sind. Er lässt sich von ihnen berühren und einmal sogar küssen (Lk 7,38). Insgesamt spielt Sexualität im Neuen Testament aber eine untergeordnete Rolle. Wenn sie zur Sprache kommt, geht es meist darum, Verfehlungen innerhalb einer Gemeinde zu thematisieren und zu maßregeln. Die apokryphen Schriften dagegen berichten ganz ungeniert von einem Kuss zwischen Jesus und Maria Magdalena und in der Legendenbildung ist später auch von ihrer Ehe und Kindern die Rede. Historische Fakten dazu sind aber schwer auszumachen.
Trotz all der Vielfalt der Erzählungen und Andeutungen über Sex sucht man in der Bibel vergebens eine einheitliche Sexualmoral. Natürlich werden in der Bibel eine ganze Reihe von Verboten formuliert, die Sexualpraktiken zum Thema haben, welche heute auch nicht erlaubt sind, wie beispielsweise Geschlechtsverkehr mit der eigenen Schwester. Gleichzeitig findet man aber auch Vorschriften, die in einer westlich geprägten christlichen Gesellschaft keine Rolle mehr spielen wie etwa Sex mit der Nebenfrau des eigenen Vaters. Und zugleich fehlen Verbote für Sexualpraktiken, die heute eine Rolle spielen und – zumindest teilweise – von der Kirche als problematisch angesehen werden, wie beispielsweise lesbische Liebe oder Prostitution. Schließlich beinhaltet der biblische Kanon auch Gesetzestexte und Erzählungen, die sexuelle Handlungen erlauben oder sogar gutheißen, die innerhalb der christliche Sexualmoral als sündhaft gelten und daher streng verboten sind: Ehe mit direkten Verwandten, Ehe mit mehreren Frauen, Sex vor der Ehe usw.
Die biblischen Sexual-Gesetze orientieren sich am Prinzip der kultischen Reinheit, was später in die christliche Lehre münden sollte, in der zwischen einer natürlichen und einer unnatürlichen Sexualität unterschieden wird. Die von Thomas von Aquin im 13. Jh. zusammenfassend dargestellte, nach diesem Muster entwickelte Sexualdoktrin hat daher ihre Begründung im Alten Testament. Thomas zufolge ist Sex nur dann natürlich, wenn er zum richtigen Zweck (der Fortpflanzung), mit der richtigen Person (dem Ehepartner) und auf die richtige Weise (Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau) durchgeführt wird. Doch im Allgemeinen geht unsere heutige christliche Sexualmoral nur sehr selten unmittelbar auf biblische Vorschriften zurück. Noch viel weniger ist sie direkt von Gott gegeben. Die Ausprägung der Sexualmoral ist vielmehr eng mit der Wirkungsgeschichte der biblischen Texte verknüpft und spiegelt die Ansichten konkreter und einflussreicher Menschen, wie Tertullian, Augustinus oder Thomas von Aquin, welche die Texte im Laufe der Geschichte gelesen und in ihrer Zeit interpretiert haben.
Das vorliegende Buch versteht sich weder als Kritik an der christlichen Sexualmoral noch als eine psychologische Abhandlung über den Menschen in seiner Triebhaftigkeit. Es ist vielmehr ein Versuch, sich dem gerne verschwiegenen Thema »Sex in der Bibel« zu nähern, ohne emotionalisieren oder moralisieren zu wollen, sondern vielmehr mit dem Wunsch, möglichst unvoreingenommen die verschiedenen Facetten zu beleuchten.
Wie bereits skizzenhaft aufgezeigt, erzählen die biblischen Autoren nicht nur schöne romantische und hier und da auch erotische Geschichten, sie zeigen vor allem auch die Abgründe der menschlichen Seele auf. Das hat wohl auch damit zu tun, dass sich das »Normale« nicht so spannend erzählen lässt wie das Außergewöhnliche. So verschweigt die Bibel selten etwas und stellt vieles infrage. Zwar findet man dabei keine immerwährenden oder allgemeingültigen Antworten für die heutige Zeit, sehr wohl lassen sich aber neue Aspekte entdecken, die auch altbekannte Geschichten in einem neuen Licht erscheinen lassen. Es lohnt sich also auch in dieser Hinsicht, die Bibel neu zu lesen!