New York in den »Goldenen Zwanzigern«: Der geheimnisvolle Jay Gatsby hat alles, was man mit Geld kaufen kann. Die rauschenden Feste auf seinem märchenhaften Anwesen auf Long Island sind der Treffpunkt der New Yorker High Society. Doch Gatsby selbst bleibt Zuschauern des dekadenten Spektakels und hat nur einenWunsch: dass seine große Liebe Daisy dort eines Tages erscheint.
F. Scott Fitzgeralds Klassiker der amerikanischen Literatur erzählt von der Glamourwelt der Reichen und von der Oberflächlichkeit und Sinnlosigkeit des mondänen Lebens. In der glanzvollen Neuübersetzung von Reinhard Kaiser ist dieser Roman neu zu entdecken – in seiner Dramatik, seiner Tragik, seiner Eleganz und nicht zuletzt auch in seiner Komik.
F. Scott Fitzgerald wurde 1896 in St. Paul/Minnesota geboren. Mit seinem ersten Roman Diesseits vom Paradies (1920) wurde er schlagartig berühmt und bewegte sich fortan in gehobenen Kreisen. Der große Gatsby erschien 1925 und ist bis heute sein erfolgreichster Roman. F. Scott Fitzgerald lebte verschwenderisch, verfiel demAlkohol und litt an Depressionen. 1937 ging er als Drehbuchautor nach Hollywood, wo er 1940 starb.
Die Originalausgabe erschien erstmals 1925 unter dem Titel
The Great Gatsby.
Umschlagfoto: Condé Nast Archive/Corbis
eBook Insel Verlag Berlin 2012
Insel Verlag Berlin 2012
© Insel Verlag Berlin 2011
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Umschlag: bürosüd, München
eISBN 978-3-458-76160-0
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Setz ruhig den Goldhut auf, falls sie das rührt;
Und wenn du hoch springen kannst, zeig es auch ihr,
Bis sie dann ruft: »Geliebter Springer mit dem Goldhut,
Du gehörst mir!«
Thomas Parke D’Invilliers*
Wieder für Zelda
ERSTES KAPITEL
Als ich noch jünger und leichter zu beeindrucken war, gab mir mein Vater einen Rat, über den ich seither viel nachgedacht habe.
»Wenn du an jemandem etwas auszusetzen hast«, sagte er, »denk immer daran, dass es nicht alle Menschen auf dieser Welt so leicht hatten wie du.«
Mehr sagte er nicht, aber auf eine zurückhaltende Art verstanden wir uns immer ungemein gut, und ich wusste, dass er mir hiermit noch sehr viel mehr sagen wollte. Deshalb neige ich bei Urteilen über andere Menschen zur Zurückhaltung, eine Gewohnheit, die mir das Vertrauen vieler merkwürdiger Naturen erschlossen hat, die mich aber auch zum Opfer etlicher hartnäckiger Langweiler werden ließ. Der nicht alltägliche Verstand erkennt diese Art von Zurückhaltung rasch und greift nach ihr, wenn sie bei einem gewöhnlichen Menschen in Erscheinung tritt, und so kam es, dass ich während meines Studiums zu Unrecht bezichtigt wurde, ein Intrigant zu sein, weil ich in die geheimen Kümmernisse wildfremder, stürmischer Männer eingeweiht war. Die meisten dieser Vertraulichkeiten hatte ich nicht gesucht – oft schützte ich Müdigkeit oder eine dringende Arbeit vor oder gab mich abweisend nonchalant, wenn ich an irgendeinem unmissverständlichen Zeichen erkannte, dass mir eine intime Offenbarung aus der Ferne entgegenbebte – intime Offenbarungen junger Männer oder zumindest die Wörter, in denen sie ihnen Ausdruck verleihen, sind nämlich meist bloß Plagiate und von offensichtlichen Verdrängungen entstellt. Zurückhaltung beim Urteilen zeugt im Übrigen von grenzenloser Hoffnung. Noch heute überkommt mich bisweilen die Furcht, mir könnte etwas entgehen, wenn ich vergesse, dass ein elementarer Sinn für Anstand, wie mein Vater mit einem gewissen Snobismus andeutete und wie ich hier ebenso snobistisch wiederhole, schon bei der Geburt ungleichmäßig verteilt wird.
Nachdem ich hier mit meiner Toleranz geprahlt habe, will ich aber auch einräumen, dass sie ihre Grenzen hat. Haltung und Betragen mögen auf hartem Fels oder in feuchtem Morast gründen – ab einem gewissen Punkt ist es mir egal, worauf sie gründen. Als ich im letzten Herbst von der Ostküste zurückkam, wünschte ich mir nur noch, die Welt sollte in einer Uniform stecken und gleichsam moralisch strammstehen – für immer. Ich hatte genug von wilden Ausflügen mit vertraulichen Blicken in das Herz des Menschen. Nur bei Gatsby, dem Mann, der diesem Buch seinen Namen gibt, machte ich eine Ausnahme – bei Gatsby, der alles verkörperte, was ich aus tiefster Überzeugung verachte. Wenn Persönlichkeit aus einer bruchlosen Abfolge gelingender Gebärden besteht, dann hatte er etwas Hinreißendes an sich, ein gesteigertes Gespür für die Verheißungen des Lebens, als wäre er an einen jener komplizierten Apparate angeschlossen, die aus zehntausend Meilen Entfernung ein Erdbeben registrieren. Diese Empfänglichkeit hatte nichts mit jener leicht zu beeindruckenden Beliebigkeit zu tun, die hochtrabend als »schöpferisches Temperament« gewürdigt wird – sie war vielmehr eine außerordentliche Begabung für die Hoffnung, eine Bereitschaft zur Romantik, wie sie mir bei keinem anderen Menschen je begegnet ist und wie sie mir wahrscheinlich nie wieder begegnen wird. Nein – Gatsby war letzten Endes in Ordnung; es war das, was Gatsby folgte und ihn verfolgte, der faulige Dunst im Kielwasser seiner Träume, was mir eine Zeitlang alles Interesse an den kümmerlichen Sorgen und den kurzatmigen Hochgefühlen der Menschen raubte.
Die Familie, aus der ich stamme, angesehene, wohlhabende Leute, lebt seit drei Generationen in dieser Stadt im Mittleren Westen. Die Carraways haben etwas von einem schottischen Clan, und nach einer Familienlegende sollen wir von den Herzögen von Buccleuch* abstammen, aber der eigentliche Begründer des Zweigs, dem ich angehöre, war der Bruder meines Großvaters, der 1851 hierherkam, im Bürgerkrieg einen Ersatzmann stellte und hier die Eisenwarengroßhandlung aufmachte, die mein Vater heute noch führt.
Ich habe diesen Großonkel nie gesehen, aber ich soll ihm ähneln – jedenfalls nach dem wenig vorteilhaften Gemälde zu urteilen, das in Vaters Büro hängt. Meinen Abschluss habe ich 1915 an der Yale University in New Haven gemacht, genau ein Vierteljahrhundert nach meinem Vater, und bald darauf nahm ich an jener verspäteten germanischen Völkerwanderung teil, die man den Weltkrieg nennt. Mir gefiel das Schlachtgetümmel so gut, dass ich nach der Heimkehr keine Ruhe fand. Der Mittlere Westen kam mir nicht mehr vor wie die wohlige Mitte der Welt, sondern wie der schroffe Abgrund am Rand des Universums – deshalb beschloss ich, in den Osten zu gehen und mich im Wertpapierhandel umzutun. Alle meine Bekannten waren im Wertpapierhandel, daher glaubte ich, auch für mich würde dort noch ein Plätzchen zu finden sein. Sämtliche Tanten und Onkel von mir beteiligten sich an den Beratungen, als ginge es um die Wahl einer Schule zur Vorbereitung auf die Universität, und schließlich sagten sie mit sehr ernsten, zögernden Mienen: »Na, guhut«. Vater erklärte sich bereit, mich ein Jahr lang finanziell zu unterstützen, und so kam ich nach ein paar weiteren Verzögerungen im Frühjahr zweiundzwanzig in den Osten – auf Dauer, wie ich glaubte.
Am praktischsten wäre es gewesen, eine Bleibe in New York zu suchen, aber die warme Jahreszeit war angebrochen, und ich kam aus einer ländlichen Gegend mit weiten Wiesen und freundlichen Bäumen, deshalb fand ich es großartig, als ein junger Mann aus dem Büro mir vorschlug, wir sollten gemeinsam ein Haus in einem Ort außerhalb mieten, von dem aus wir in die Stadt pendeln konnten. Auch das Haus machte er ausfindig, ein verwitterter, unscheinbarer Bungalow für achtzig Dollar im Monat, doch dann versetzte ihn die Firma im letzten Augenblick nach Washington, und ich zog allein aufs Land. Ich hatte einen Hund, jedenfalls für ein paar Tage, bis er weglief, und einen alten Dodge und außerdem eine Finnin, die mir das Bett machte, das Frühstück richtete und über dem Elektrokocher finnische Weisheiten murmelte.
Einige Tage lang war es einsam, bis mich eines Morgens auf der Straße ein Mann ansprach, der noch kürzer da war als ich.
»Wie kommt man eigentlich nach West Egg* Village?«, fragte er ratlos.
Ich erklärte es ihm. Und als ich weiterging, war ich nicht mehr einsam. Ich war nun ein Wegweiser, ein Pfadfinder, ein echter Siedler. Ganz nebenbei hatte mich der Mann zu einem Bürger dieses Ortes gemacht.
Bei all dem Sonnenschein und den Blättermassen, die wie im Zeitraffer aus den Bäumen hervorbrachen, überkam mich die bekannte Überzeugung, dass mit dem Sommer auch das Leben wieder von vorn begänne.
Zum einen gab es so viel zu lesen, und dann ließ sich auch so viel Gesundheit aus der jungen, frischen Luft saugen. Ich kaufte mir ein Dutzend Bücher über das Bank- und Kreditwesen und über Anlagepapiere, und nachher standen sie in Rot und Gold wie frischgeprägtes Geld auf meinem Regal und versprachen, mir die glitzernden Geheimnisse zu offenbaren, mit denen sich nur Midas, Morgan und Maecenas* auskannten. Außerdem hatte ich mir fest vorgenommen, nebenher noch viele andere Bücher zu lesen. An der Universität war ich literarisch ziemlich aktiv gewesen – ein Jahr lang hatte ich eine ganze Reihe von sehr feierlichen und naheliegenden Leitartikeln für die »Yale News« geschrieben –, und nun wollte ich das alles in mein Leben zurückholen und wieder jener beschränkteste unter allen Spezialisten werden, der »vielseitig gebildete« Mann. Schließlich kann man – und das ist nicht bloß ein Bonmot – das Leben tatsächlich viel besser aus einem einzelnen Fenster beobachten.
Es war Zufall, dass ich ein Haus in einem der seltsamsten Gemeinwesen von ganz Nordamerika mietete. Es lag auf jener schlanken, turbulenten Insel, die sich von New York genau nach Osten erstreckt und auf der es neben anderen Merkwürdigkeiten der Natur zwei seltsame Landgebilde gibt. Zwanzig Meilen von der City entfernt ragen zwei riesige Eier mit identischen Umrissen, nur durch eine stets gefällige Bucht voneinander getrennt, in das zahmste Salzgewässer der westlichen Hemisphäre, den großen, nassen Scheunenhof des Long Island Sound. Sie bilden keine vollendeten Ovale, sondern sind, wie das Ei des Kolumbus, an dem Ende, mit dem sie ans Feste stoßen, flachgedrückt –, aber für die Möwen über ihnen müssen sie in ihrer äußeren Ähnlichkeit eine Quelle ständiger Verwirrung sein. Für flügellose Wesen besteht das größere Faszinosum wohl darin, dass sie in jeder anderen Hinsicht außer ihrer Form und Größe einander so unähnlich sind.
Ich wohnte in West Egg, dem – nun, sagen wir, weniger eleganten der beiden Eier, obwohl der bizarre und eigentlich auch unheimliche Kontrast zwischen ihnen hiermit nur sehr oberflächlich bezeichnet ist. Mein Haus lag direkt an der Spitze dieses Eies, keine fünfzig Meter vom Sund entfernt, eingezwängt zwischen zwei riesige Anwesen, die für zwölf- oder fünfzehntausend pro Saison zu mieten waren. Das Haus rechts von mir war in jeder Hinsicht ein kolossales Ding – im Grunde die Imitation eines Hôtel de Ville, wie man es in der Normandie findet, mit einem Turm an einer Seite, nagelneu unter einem schütteren Bart von Efeu, dazu ein Marmorschwimmbecken und mehr als achtzig Morgen Rasen und Gärten. Das war Gatsbys Anwesen. Oder vielmehr, da ich Mr. Gatsby ja noch gar nicht kannte: Es wurde von einem Herrn dieses Namens bewohnt. Mein eigenes Haus war dagegen ein Schandfleck, aber ein kleiner Schandfleck, deshalb hatte man es übersehen, und so genoss ich einen Ausblick aufs Wasser, eine Teilansicht der Rasenflächen meines Nachbarn und die erbauliche Nähe von Millionären – alles zusammen für achtzig Dollar im Monat.
Auf der anderen Seite der gefälligen Bucht glitzerten längs des Wassers die weißen Paläste des eleganten East Egg, und eigentlich beginnt die Geschichte dieses Sommers an dem Abend, an dem ich zum Dinner mit den Buchanans dort hinüberfuhr. Daisy war eine entfernte Cousine von mir, Tom hatte ich an der Universität kennengelernt, und kurz nach dem Krieg hatte ich mit beiden mal zwei Tage in Chicago verbracht.
Ihr Mann war, abgesehen von verschiedenen anderen sportlichen Leistungen, einer der stärksten Flügelspieler gewesen, die je in New Haven Football gespielt hatten – eine Art Nationalheld, einer von denen, die es mit einundzwanzig Jahren auf einem eng umgrenzten Gebiet schon zu solcher Vollendung bringen, dass alles, was nachher kommt, einen Beigeschmack von Abstieg hat. Er stammte aus einer enorm reichen Familie – schon während des Studiums hatte ihm sein zwangloser Umgang mit Geld Vorwürfe eingetragen –, nun aber hatte er Chicago den Rücken gekehrt und im Osten einen Auftritt hingelegt, der einem den Atem verschlug: zum Beispiel hatte er aus seinem Lake Forest* eine ganze Koppel Polo-Ponys mitgebracht. Es war kaum zu fassen, wie ein Mann aus meiner Generation reich genug sein konnte, sich so etwas zu leisten.
Warum sie an die Ostküste kamen, weiß ich nicht. Sie hatten ohne speziellen Grund ein Jahr in Frankreich gelebt und waren dann ruhelos hierhin und dorthin gezogen, wo immer Leute Polo spielten und zusammen reich waren. Diesmal sei es ein Umzug auf Dauer, sagte mir Daisy am Telefon, aber ich glaubte es nicht – ihr konnte ich zwar nicht ins Herz sehen, aber bei Tom hatte ich das Gefühl, er werde irgendwann weiterziehen wollen, immer ein bisschen wehmütig, immer auf der Suche nach dem dramatischen Getümmel eines Football-Spiels, wie er es nie wieder erleben würde.
Und so geschah es, dass ich an einem warmen, windigen Abend nach East Egg hinüberfuhr, um zwei alte Freunde zu besuchen, die ich kaum kannte. Ihr Haus war noch aufwändiger ausgestattet, als ich erwartet hatte – ein Herrensitz mit Blick auf die Bucht im georgianischen Stil der Kolonialzeit in freundlichem Ziegelrot und Weiß. Der Rasen begann am Strand und lief eine Viertelmeile weit, über Sonnenuhrbeete, Klinkerpfade und flammende Rabatten hinwegsetzend, auf den Haupteingang zu und fuhr, wo er das Haus erreichte, auch noch in Gestalt leuchtender Kletterpflanzen an seiner Seite in die Höhe, so sehr schien er beim Laufen in Schwung gekommen zu sein. Die Vorderseite bestand aus einer Flucht von Fenstertüren, auf denen zu dieser Stunde gespiegeltes Gold glühte und die sich dem warmen, windigen Nachmittag weit öffneten, während Tom Buchanan in Reitkleidung breitbeinig auf der vorderen Veranda stand.
Er hatte sich verändert seit seiner Zeit in Yale. Er war jetzt ein stämmiger Mann von dreißig Jahren mit strohblondem Haar, einem harten Zug um den Mund und einem hochmütigen Auftreten. Zwei strahlende, arrogante Augen hatten die Herrschaft über sein Gesicht ergriffen und erweckten den Anschein, als stände er immer ein wenig nach vorn gebeugt und zum Angriff bereit. Selbst der feminine Schick seiner Reitkleidung konnte die gewaltige Kraft dieses Körpers nicht verdecken – er schien seine blanken Stiefel so prall zu füllen, dass sich die Schnürsenkel bis zum Zerreißen spannten, und wenn er unter seiner dünnen Jacke die Schultern regte, sah man, wie sich ein großes Muskelpaket in Bewegung setzte. Es war ein Körper, der eine enorme Hebelkraft entfalten konnte – ein grausamer Körper.
Seine Stimme, ein rauer, heiserer Tenor, verstärkte den Eindruck von Reizbarkeit, der von ihm ausging. Sie hatte etwas Väterlich-Herablassendes, selbst gegenüber Leuten, die er mochte – aber in Yale gab es Leute, die hatten ihn gehasst wie die Pest.
»Du musst nicht glauben«, schien er zu sagen, »meine Meinung in dieser Sache sei maßgeblich, bloß weil ich so ein Mannsbild bin und so viel stärker als du.« Wir waren in derselben Studentenvereinigung gewesen, und obwohl wir nie eng befreundet waren, hatte ich doch immer den Eindruck, dass er mir wohlgesinnt war und sich mit einer gewissen trotzig schroffen Wehmut wünschte, dass auch ich ihn mochte.
Wir unterhielten uns ein paar Minuten auf der sonnigen Veranda.
»Ich hab’s hier gut getroffen«, sagte er, während seine Augen ruhelos umherstrahlten.
An einem Arm drehte er mich um, ließ eine große, flache Hand über die Aussicht gleiten und schloss dabei einen tiefer gelegenen italienischen Garten ebenso ein wie ein großes Beet stark duftender Rosen in satten Farben und ein Motorboot mit stumpfer Nase, das nahe dem Ufer auf den Wellen schaukelte.
»Das hat alles mal Demaine gehört, dem Erdölkönig.« Noch einmal drehte er mich um, höflich, aber mit einem Ruck. »Lass uns reingehen.«
Durch einen hohen Gang gelangten wir in einen von hellem, rosafarbenem Licht erfüllten Raum, der an beiden Seiten durch Fenstertüren nur locker mit dem Haus verbunden war. Die Türen waren angelehnt und hoben sich strahlend weiß von dem frischen Grün ab, das von draußen ins Haus hineinzuwachsen schien. Eine Brise wehte durch den Raum, blähte die Vorhänge wie ausgebleichte Fahnen auf der einen Seite nach innen und auf der anderen nach außen, bauschte sie nach der glasierten Hochzeitstorte der Decke in die Höhe, kräuselte über den weinroten Teppich dahin und erzeugte auf ihm einen Schatten wie der Wind auf dem Meer.
Der einzige völlig unbewegte Gegenstand im Raum war eine riesige Couch, auf der zwei junge Frauen Halt gefunden hatten wie in der Gondel eines Fesselballons. Beide waren in Weiß gekleidet, und ihre Kleider kräuselten und bauschten sich, als wären sie nach einem kurzen Flug ums Haus eben erst wieder hereingeweht worden. Ich muss einen Augenblick lang stillgestanden und nach dem Schlagen und Rascheln der Vorhänge und dem Knarren eines Gemäldes an der Wand gelauscht haben. Dann gab es einen Knall, als Tom Buchanan die Fenstertüren auf der einen Seite schloss, während sich der gefangene Wind im ganzen Zimmer, auch bei den Vorhängen und über den Teppichen legte und die beiden jungen Frauen langsam zu Boden schwebten.
Die jüngere von ihnen kannte ich nicht. Sie lag auf ihrer Seite des Diwans lang ausgestreckt, vollkommen reglos, das Kinn ein wenig angehoben, als würde sie darauf etwas balancieren, das leicht herunterfallen konnte. Falls sie mich aus den Augenwinkeln sah, ließ sie es sich nicht anmerken – fast hätte ich vor lauter Überraschung eine Entschuldigung gemurmelt dafür, dass ich sie durch mein Eintreten gestört hatte.
Das andere Mädchen, Daisy, machte einen Versuch aufzustehen, beugte sich aber mit eifrig bemühter Miene nur leicht nach vorn und lachte dann ein sinnloses, charmantes kleines Lachen, worauf auch ich lachte und in den Raum trat.
»Ich bin ge-gelähmt vor lauter Glück.«
Sie lachte wieder, als hätte sie etwas sehr Geistreiches gesagt, behielt meine Hand einen Augenblick in der ihren und sah mir in die Augen, als wollte sie beteuern, dass sie sich nach niemandem auf der Welt so sehr gesehnt habe wie nach mir. Das war so ihre Art. Flüsternd gab sie mir zu verstehen, das balancierende Mädchen heiße mit Nachnamen Baker. (Ich habe Leute sagen hören, Daisy flüstere nur, damit sich die Leute näher zu ihr hinneigten – eine vollkommen verfehlte Kritik, die ihrem Flüstern nichts von seinem Charme nahm.)
Immerhin regten sich jetzt die Lippen von Miss Baker. Sie nickte mir kaum merklich zu und drehte ihren Kopf dann rasch wieder zurück – der Gegenstand, den sie balancierte, war offenbar ins Schwanken geraten, und das hatte sie erschreckt. Schon wieder lag mir eine Entschuldigung auf der Zunge. Menschen, die sich so vollständig und demonstrativ selbst genügen, nötigen mir fast immer eine fassungslose Hochachtung ab.
Ich sah mich nach meiner Cousine um, die mir mit ihrer leisen, erregenden Stimme Fragen zu stellen begann. Es war eine jener Stimmen, denen das Ohr in jedem Auf und Ab folgt, als wäre alles, was sie sagt, ein Gebilde aus Tönen, das nur dieses eine Mal gespielt wird und dann nie wieder. Ihr Gesicht wirkte traurig und liebreizend zugleich, mit strahlenden Stellen darin – strahlenden Augen und einem strahlenden, leidenschaftlichen Mund –, aber in ihrer Stimme lag etwas Erregendes, das Männer, denen sie etwas bedeutet hatte, nicht so leicht wieder vergaßen: ein singendes Drängen, ein geflüstertes »Hör mal«, ein Beteuern, dass sie freudige, aufregende Dinge vor kurzem getan hatte und dass freudige, aufregende Dinge auch in der nächsten Stunde bevorstanden.
Ich erzählte ihr, dass ich auf der Fahrt nach Osten einen Tag Halt in Chicago gemacht hatte und dass mich dort ein Dutzend Leute gebeten hatten, ihr liebe Grüße zu bestellen.
»Fehle ich ihnen?«, rief sie ganz außer sich.
»Die ganze Stadt trägt Trauer. Alle Autos haben das linke Hinterrad schwarz angestrichen, als Trauerkranz, und am nördlichen Seeufer ertönt die ganze Nacht ständiges Wehklagen.«
»Wie herrlich! Lass uns zurückgehen, Tom. Gleich morgen!« Dann fügte sie unvermittelt hinzu: »Du musst dir die Kleine ansehen.«
»Gern.«
»Jetzt schläft sie. Sie ist zwei. Hast du sie noch nie gesehen?«
»Nein, nie.«
»Dann musst du sie sehen. Sie ist . . .«
Tom Buchanan, der ruhelos durch den Raum gestreift war, blieb stehen und legte seine Hand auf meine Schulter.
»Was treibst denn du so, Nick?«
»Ich bin im Wertpapiergeschäft.«
»Bei wem?«
Ich sagte es ihm.
»Nie gehört«, erwiderte er entschieden.
Das ärgerte mich.
»Du wirst schon noch von uns hören«, antwortete ich. »Falls du an der Ostküste bleibst.«
»Oh, ich bleibe, nur keine Sorge«, sagte er und sah dabei zu Daisy hinüber und dann wieder zu mir, als sei er vor irgendetwas auf der Hut. »Ich wäre ein gottverdammter Idiot, wenn ich von hier weggehen würde.«
In diesem Augenblick sagte Miss Baker »Absolut!« – so plötzlich, dass ich zusammenzuckte. Es war das erste Wort, das sie von sich gab, seit ich den Raum betreten hatte, und offenbar hatte es sie genauso überrascht wie mich, denn sie gähnte, erhob sich mit ein paar raschen, gelenkigen Bewegungen und stand nun im Zimmer.
»Ich bin ganz steif«, klagte sie. »Kommt mir vor, als läge ich hier schon seit einer Ewigkeit.«
»Du brauchst mich gar nicht so anzusehen«, entgegnete Daisy. »Den ganzen Nachmittag habe ich versucht, dich nach New York zu lotsen.«
»Nein, danke«, sagte Miss Baker zu den vier Cocktails, die gerade aus dem Anrichteraum hereinkamen. »Ich bin strikt im Training.«
Ihr Gastgeber sah sie ungläubig an.
»Was du nicht sagst!« Er leerte sein Glas mit einem Schluck, als wäre bloß noch ein Tropfen darin gewesen. »Wie du überhaupt jemals etwas getan bekommst, ist mir ein Rätsel.«
Ich sah zu Miss Baker und fragte mich, worum es sich bei dem, was sie »getan bekam«, handeln mochte. Ich sah sie gern an. Sie war ein schlankes Mädchen mit kleinen Brüsten und betonte ihre aufrechte Haltung noch dadurch, dass sie den Oberkörper bei den Schultern nach hinten nahm wie ein junger Kadett. Die grauen, wegen des Sonnenlichts zusammengekniffenen Augen in ihrem bleichen, anmutigen, unzufriedenen Gesicht erwiderten meinen Blick mit höflicher Neugier. Mir fiel ein, dass ich sie oder ein Bild von ihr schon mal irgendwo gesehen hatte.
»Sie leben also in West Egg«, bemerkte sie herablassend. »Da kenne ich jemanden.«
»Ich kenne da keinen Einzigen . . .«
»Aber Gatsby müssen Sie doch kennen.«
»Gatsby?«, fragte Daisy. »Welcher Gatsby?«
Bevor ich antworten konnte, er sei mein Nachbar, wurde zum Dinner gerufen. Gebieterisch zwängte Tom Buchanan seinen stämmigen Arm unter meinen und schob mich aus dem Raum, als zöge er eine Schachfigur von einem Feld auf ein anderes.
Lässig, gemächlich, die Hände an die Hüften gelegt, schlenderten die beiden jungen Frauen vor uns her auf eine vom Sonnenuntergang in Rosa getauchte Veranda, wo auf dem Tisch im abflauenden Wind vier Kerzen flackerten.
»Wozu denn Kerzen?«, protestierte Daisy stirnrunzelnd und schnippte sie mit den Fingern aus. »In zwei Wochen haben wir den längsten Tag des Jahres.« Sie warf einen strahlenden Blick in die Runde. »Wartet ihr auch immer auf den längsten Tag des Jahres und verpasst ihn dann? Ich warte immer auf den längsten Tag des Jahres und verpasse ihn jedesmal.«
»Wir sollten mal was unternehmen«, gähnte Miss Baker und setzte sich an den Tisch, als ginge sie zu Bett.
»Ja, gut«, sagte Daisy. »Aber was?« Hilfesuchend wandte sie sich an mich. »Was unternimmt man denn heutzutage so?«
Bevor ich antworten konnte, nahm sie mit ehrfürchtiger Miene ihren kleinen Finger in den Blick.
»Seht mal!«, jammerte sie. »Ich habe mir wehgetan.«
Wir sahen alle hin – der Knöchel war dunkelblau.
»Das warst du, Tom«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ich weiß, es war keine Absicht, aber du warst es. Das habe ich davon, dass ich ein solches Tier von einem Mann geheiratet habe, ein großes, grobes, strotzendes Exemplar von einem . . .«
»Ich hasse das Wort strotzend«, erwiderte Tom missmutig, »auch im Spaß.«
»Strotzend«, wiederholte Daisy.
Manchmal redeten sie und Miss Baker gleichzeitig, unaufdringlich und in einer neckischen Fahrigkeit, die nie ganz Geplapper wurde und so kühl blieb wie ihre weißen Kleider und ihre sachlichen Blicke, die nach nichts verlangten. Sie waren einfach hier – sie akzeptierten Tom und mich und waren allenfalls höflich und freundlich bemüht, zu unterhalten oder unterhalten zu werden. Sie wussten, das Dinner würde gleich vorbei sein, und etwas später würde auch der Abend vorbei sein und ohne viel Aufhebens weggeräumt werden. Es war ganz anders als im Mittleren Westen, wo man einen Abend Abschnitt für Abschnitt bis zu seinem Ende vorantreibt – aus immer wieder enttäuschter Vorfreude auf das, was noch kommt, oder einfach aus nervöser Angst vor dem jeweiligen Augenblick selbst.
»Ich komme mir vor wie ein Wilder, wenn ich dich so reden höre, Daisy«, gestand ich bei meinem zweiten Glas von dem trotz Korken recht eindrucksvollen Rotwein. »Kannst du nicht mal was über Ackerbau und Viehzucht sagen?«
Ich hatte mit dieser Bemerkung nichts Besonderes im Sinn gehabt, aber sie gab der Unterhaltung eine überraschende Wendung.
»Die Zivilisation geht in die Brüche«, brach es aus Tom hervor. »Was das anlangt, bin ich ein furchtbarer Pessimist geworden. Hast du ›Der Aufstieg der farbigen Völker‹ gelesen – von diesem Goddard*?«
»Nein«, antwortete ich ziemlich überrascht von seinem Ton.
»Ist ein prima Buch – sollte jeder lesen. Der Grundgedanke ist – wenn wir uns nicht vorsehen, wird die weiße Rasse weggefegt. Das ist da alles nachgewiesen – wissenschaftlich.«
»Tom zieht es in letzter Zeit in die Tiefe«, sagte Daisy mit einer gedankenlosen Traurigkeit im Blick. »Er liest tiefsinnige Bücher mit langen Wörtern. Wie hieß noch dieses Wort, über das wir . . .?«
»Es sind eben wissenschaftliche Bücher«, beharrte Tom und warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. »Und dieser Kerl hat die Lösung gefunden. Wir, die herrschende Rasse, müssen auf der Hut sein, sonst übernehmen die anderen Rassen die Herrschaft.«
»Zermalmen müssen wir sie«, flüsterte Daisy und zwinkerte grimmig der lodernden Sonne zu.
»Ihr solltet nach Kalifornien gehen . . .«, begann Miss Baker, aber Tom unterbrach sie sogleich durch heftiges Herumrutschen auf seinem Stuhl.
»Der Grundgedanke ist, dass wir zur nordischen Rasse gehören. Ich gehöre dazu und du und du und . . .« Nach einem winzigen Zögern schloss er mit einem Nicken auch Daisy ein, und sie zwinkerte mir noch einmal zu, ». . . und wir haben all die Dinge geschaffen, aus denen die Zivilisation besteht – zum Beispiel Wissenschaft und Kunst und all das. Versteht ihr?«
Es hatte etwas Mitleiderregendes, wie er sich konzentrierte – als würde ihm die eigene Selbstgefälligkeit neuerdings nicht mehr genügen. Als im nächsten Augenblick drinnen das Telefon klingelte und der Butler die Veranda verließ, nutzte Daisy die kurze Unterbrechung und beugte sich zu mir herüber.
»Ich werde dir ein Familiengeheimnis verraten«, flüsterte sie fiebernd. »Es geht um die Nase des Butlers. Willst du hören, was es mit dieser Butlernase auf sich hat?«
»Deshalb bin ich heute Abend doch hier.«
»Also, er war nicht immer Butler; früher war er Silberputzer bei Leuten in New York, die ein Silberservice für zweihundert Personen hatten. Er musste es von morgens bis abends putzen, bis es ihm auf die Nase schlug . . .«
»Es wurde dann immer schlimmer«, ließ sich Miss Baker vernehmen.
»Ja. Es wurde immer schlimmer, bis er den Posten aufgeben musste.«
Einen Moment noch verweilte das letzte Licht der Sonne mit romantischer Hingabe auf ihrem glühenden Gesicht, während mich ihre atemlose Stimme in Bann schlug – dann verblasste die Glut, und mit zögerndem Bedauern wich alles Licht von ihr, wie Kinder bei Einbruch der Dunkelheit eine freundliche Straße verlassen.
Der Butler kam zurück und murmelte etwas in der Nähe von Toms Ohr, worauf Tom stirnrunzelnd seinen Stuhl zurückschob und, ohne ein Wort zu sagen, ins Haus ging. Als hätte seine Abwesenheit etwas in ihr angestoßen, beugte sich Daisy mit ihrer überschwänglichen, singenden Stimme wieder zu mir herüber.
»Ich bin ja so froh, dich an meinem Tisch zu sehen, Nick. Du erinnerst mich an eine – ja, an eine Rose, eine vollkommene Rose. – Nicht wahr?«, wandte sie sich an Miss Baker. »Eine vollkommene Rose.«
Das stimmte nicht. Ich sehe nicht aus wie eine Rose, auch nicht von fern. Sie hatte es aus der Luft gegriffen, aber während sie es sagte, ging eine erregende Wärme von ihr aus, als versuchte ihr Herz, verborgen in einem dieser atemlosen, aufregenden Wörter, sich zu offenbaren. Dann warf sie plötzlich ihre Serviette auf den Tisch, entschuldigte sich und ging ins Haus.
Miss Baker und ich wechselten einen kurzen, betont nichtssagenden Blick. Ich wollte etwas sagen, aber sie richtete sich plötzlich auf und machte: »Schhh!«. Nebenan war gedämpftes, erregtes Gemurmel hörbar, und Miss Baker beugte sich schamlos vor, um zu lauschen. Das Murmeln schwebte an der Schwelle zur Verständlichkeit, sank wieder, schwoll in neuer Erregung noch einmal an und verstummte schließlich ganz.
»Dieser Mr. Gatsby, den Sie erwähnten, ist mein Nachbar . . .«, sagte ich.
»Nicht reden. Ich möchte hören, was vor sich geht.«
»Geht etwas vor sich?«, fragte ich ahnungslos.
»Ja, wissen Sie denn nicht?«, erwiderte Miss Baker aufrichtig überrascht. »Ich dachte, jeder weiß es.«
»Ich weiß nichts.«
»Nun . . .«, sagte sie zögernd. »Tom hat eine Frau in New York.«
»Eine Frau in New York?«, wiederholte ich verständnislos.
Miss Baker nickte.
»Sie könnte wenigstens so taktvoll sein, nicht um die Essenszeit anzurufen. Finden Sie nicht auch?«
Ich hatte noch kaum begriffen, was sie mir sagen wollte, da raschelte ein Kleid, Stiefel knarrten, und Tom und Daisy waren zurück am Tisch.
»Da war leider nichts zu machen!«, rief Daisy mit gespielter Munterkeit.
Sie setzte sich, warf Miss Baker und dann mir einen forschenden Blick zu und fuhr fort: »Ich sah zufällig aus dem Fenster – was für ein romantischer Anblick! Da sitzt ein Vogel auf dem Rasen, ich glaube, es war eine Nachtigall, die mit der Cunard oder der White Star Line herübergekommen* sein muss. Und singt in einem fort . . .«, sang Daisys Stimme, ». . . ist das nicht romantisch, Tom?«
»Sehr romantisch«, sagte er und dann in einem gequälten Ton zu mir: »Wenn es nach dem Dinner noch hell genug ist, nehme ich dich mit rüber zu den Ställen.«
Wieder klingelte drinnen das Telefon, schrill – und als Daisy Tom ansah und dabei entschieden den Kopf schüttelte, löste sich das Thema Ställe in Luft auf und mit ihm alle anderen Themen. Von den bruchstückhaften Erinnerungen an jene letzten fünf Minuten, die wir am Tisch saßen, ist mir noch gegenwärtig, dass ohne Sinn und Zweck die Kerzen noch einmal angezündet wurden und dass ich den deutlichen Wunsch verspürte, jedem an diesem Tisch offen in die Augen zu sehen, und gleichzeitig allen Blicken ausweichen wollte. Ich wusste nicht, woran Daisy und Tom dachten, aber ich vermute, dass selbst Miss Baker, die sich doch anscheinend eine gewisse solide Skepsis zugelegt hatte, nicht imstande war, das schrille metallische Drängen dieses fünften Gastes einfach zu überhören. Manchen Leuten wäre diese Situation vielleicht faszinierend vorgekommen – mein eigener Instinkt riet mir, sofort die Polizei zu rufen.
Von den Pferden war selbstverständlich nicht mehr die Rede. Tom und Miss Baker schlenderten – einen guten Meter Dämmerung zwischen sich – einer nach dem anderen in die Bibliothek zurück, wie zur Totenwache bei einer vollkommen realen Leiche, während ich mit freundlich interessiertem Gesicht den Schwerhörigen zu spielen versuchte und Daisy über eine Reihe miteinander verbundener Veranden bis zu derjenigen auf der dem Land zugewandten Seite des Hauses folgte. Im tiefen Dunkel ließen wir uns dort nebeneinander auf einem Korbsofa nieder.
Daisy nahm ihr Gesicht in die Hände, als wollte sie dessen anmutige Form betasten, und dann wanderte ihr Blick weiter und weiter hinaus in die samtene Dämmerung. Ich sah, dass heftige Gefühle sie aufwühlten, und stellte ihr deshalb ein paar Fragen nach ihrem Töchterchen in der Meinung, das würde sie beruhigen.
»Wir kennen uns nicht sehr gut, Nick«, sagte sie plötzlich. »Obwohl wir Cousin und Cousine sind. Zu meiner Hochzeit bist du nicht gekommen.«
»Ich war noch im Krieg.«
»Ja, das stimmt.« Sie zögerte. »Weißt du, ich habe eine sehr schlimme Zeit hinter mir, Nick, und jetzt sehe ich alles mit einem ziemlichen Zynismus.«
Dazu hatte sie offenbar allen Grund. Ich wartete ab, aber sie sagte nichts mehr, und so kam ich, weil mir nichts Besseres einfiel, wieder auf ihre Tochter zu sprechen.
»Ich nehme an, sie spricht schon – und isst und so weiter.«