Christian Papsdorf

Internet und Gesellschaft

Wie das Netz unsere Kommunikation verändert

Campus Verlag
Frankfurt/New York

Über das Buch

Christian Papsdorf legt mit diesem Buch den ersten systematischen Versuch vor, Internet und Gesellschaft in ein Verhältnis zueinander zu setzen und dabei die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Online- und Offline-Kommunikation zu erfassen. Dabei zeigt sich, wie alle gesellschaftlichen Kommunikationsbereiche im Prozess der Mediatisierung durch die spezifischen Eigenschaften des Internets - wie Netzwerkhaftigkeit, Digitalität, Automatisierung, Bedeutungsverlust von Raum und Zeit, Offenheit, User-Partizipation - einem Wandel unterliegen. Mit Blick auf die eigentlichen Inhalte der Internetkommunikation zeigt sich, dass diese unmittelbar aus dem Verhalten der User ableitbar sind: Diese entscheiden immer wieder neu, was sie über Onlinemedien kommunizieren, und beeinflussen damit das Medium selbst.

Über den Autor

978-3-593-42158-2_img_Autor.jpg

Christian Papsdorf, Dr. phil., ist Mitarbeiter am Institut für Soziologie an der TU Chemnitz. Bei Campus ist von ihm »Wie Surfen zur Arbeit wird. Crowdsourcing im Web 2.0« (2009) erschienen.

Inhalt

1 Einleitung

1.1 Die Entstehung einer neuartigen Technologie

1.2 Das Internet und die Soziologie

1.3 Die Entwicklung des Internets vor dem Hintergrund des Wechselverhältnisses zur gesellschaftlichen Umwelt

1.4 Aufbau des Buches

2 Stand der Forschung und eigene Perspektive

2.1 Begriffliche Rahmung

2.2 Internet und Gesellschaft

2.2.1 Online follows Offline

2.2.2 Die Auswirkungen des Internets

2.2.3 Integrative Konzepte

2.2.4 Zusammenfassung: Fehl- und Anschlussstellen

2.3 Eigene Perspektive und Fragestellung

3 Konzeptualisierung des Internets

3.1 Theoretische Rahmung eines dualistischen Konzepts

3.2 Die Technik des Internets – drei bedeutsame Entwicklungen

3.3 Das Internet als großtechnisches System

3.3.1 Große technische Systeme als Interpretationsrahmen

3.3.2 Wegmarken einer Gegenstandsbestimmung

3.3.3 Einordnung der Internets

3.3.4 Strukturmerkmale großer technischer Systeme

3.3.5 Zwischenfazit: Technikbasierte Eigenschaften des Internets

3.4 Das Internet als gesellschaftliches Kommunikationsmedium

3.4.1 Non- und parasprachliche Kommunikation off- und online

3.4.2 Das Kommunikationsmedium Sprache

3.4.3 Schriftsprachliche Medien und Online-Texte

3.4.4 Von Bildern, Videos, Streams und Animationen

3.4.5 Auditive Medien im Wandel

3.4.6 Mediatisierte symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien?

3.4.7 Ergänzung: Dateiübertragung als Kommunikation

3.5 Die medialen Eigenschaften des Internets

3.5.1 Netzwerkhaftigkeit

3.5.2 Digitalität

3.5.3 Modularität

3.5.4 Automatisierung

3.5.5 Plattformfunktionalität

3.5.6 Bedeutungsverlust von Raum und Zeit

3.5.7 Offenheit

3.5.8 User-Partizipation

3.5.9 Der Unterschied zwischen Online- und Offline-Medien: Ein Fallbeispiel

4 Die Entwicklung des Internets als Mediatisierung gesellschaftlicher Kommunikation

4.1 Mediatisierung als kommunikationswissenschaftliches Paradigma

4.1.1 Mediatisierung als konzeptioneller Rahmen der Entwicklung der Mediennutzung

4.1.2 Empirische Forschung zur Mediatisierungsrealität

4.2 Die Mediatisierung kommunikativen Handelns durch das Internet

4.2.1 Internet: Erweiterung des bisherigen Verständnisses

4.2.2 Internetkommunikation en détail: Dimensionen der Mediatisierung

4.3 Mediatisierung der Gesellschaft, Differenzierung des Internets und zurück

4.3.1 Auswirkungen mediatisierter Internetkommunikation

4.3.2 Die Entwicklungsdynamik in verschiedenen Kontexten

5 Eine erste empirische Annäherung

5.1 Fragestellung und Thesen

5.2 Definition der Grundgesamtheit und Stichprobenziehung

5.2.1 Datenquelle

5.2.2 Zeitlicher Horizont

5.2.3 Kulturell-geographischer Bezugsrahmen

5.2.4 Kritische Reflexion der Operationalisierung

5.3 Erhebung der Daten

5.4 Deskription

5.5 Ergebnisse

5.6 Skizze einer umfassenden empirischen Entsprechung

6 Schluss

6.1 Zusammenfassung der Ergebnisse

6.2 Beiträge zu einer Theorie des Internets

6.3 Interpretationsalternativen auf Ebene der Phänomene

6.4 Die Schattenseite der Internetkommunikation: Gefahren und Risiken

6.5 Ausblick

Anhang

Literatur

Dank gebührt Ditmar Brock und G. Günter Voß, die nicht nur im Rahmen der Dissertation stets ansprechbar waren, sondern mich darüber hinaus als Wissenschaftler entscheidend geprägt haben. Zudem danke ich Martin Wetzel für die Unterstützung im Rahmen der Datenaufbereitung und -auswertung. Celia-Maria Rothe und Elisabeth Eckelmann haben hohen Anteil an der guten Lesbarkeit und der Fehlerfreiheit des Textes. Tim Ebring unterstützte mich bei der Datenerhebung, wofür ich ihm danke.

Chemnitz im Juli 2013

Christian Papsdorf

Kapitel 1
Einleitung

1996 veröffentlichte John Perry Barlow (vgl. 2013: online) seine Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace. Die ersten Zeilen lauten:

»Governments of the Industrial World, you weary giants of flesh and steel, I come from Cyberspace, the new home of Mind. On behalf of the future, I ask you of the past to leave us alone. You are not welcome among us. You have no sovereignty where we gather.

We have no elected government, nor are we likely to have one, so I address you with no greater authority than that with which liberty itself always speaks. I declare the global social space we are building to be naturally independent of the tyrannies you seek to impose on us. You have no moral right to rule us nor do you possess any methods of enforcement we have true reason to fear.«

Barlow schrieb das gleichermaßen überzogene wie sympathische Manifest als Reaktion auf den »Telecommunication Reform Act«, der erstmals das Internet (de-) regulierte. Die Warnung an die müden Giganten aus Fleisch und Stahl ist aber gleichzeitig eine schöne Illustration einiger der zentralen Themen des vorliegenden Buches. Da wäre zunächst die Gegenüberstellung von Internet und Gesellschaft, beziehungsweise der alten und der neuen Zeit. Während Barlow die Gegensätze zwischen beiden Welten hervorhebt, geht diese Arbeit davon aus, dass die Unterschiede, aber gerade auch die Gemeinsamkeiten im Sinne einer Verbindung der zwei Sphären bedeutsam sind. Schließlich sind die User noch immer ganz körperliche Wesen und damit unweigerlich in der physischen Welt verhaftet. Weiter schreibt Barlow von Globalität, Egalität, Freiheit und Autonomie als maßgebliche Eigenschaften des Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Dies sind ohne Frage Ideale, die von den frühen Webpionieren in die technische Architektur des Web eingefügt worden sind. Interessant ist nun aber, inwieweit die massenhafte Internetkommunikation noch immer im Sinne der Erfinder und Erfinderinnen ist. Diese technisch-mediale Dimension soll auch deshalb im Folgenden betrachtet werden, weil sie (anscheinend) so stark von bisher bekannten Kommunikationsformen und -medien abweicht. Zum dritten lässt sich aus dem oben stehenden Zitat ablesen, dass dem Internet offensichtlich eine bestimmte Selektivität zugrunde liegt. Während manche Elemente des Politischen (die Tyrannei der gewählten Regierungen) gerade keinen Weg ins Web finden, ist die Autorität der Freiheit ein wichtiges Element der Web-Kommunikation. Etwas allgemeiner gesprochen soll es im Folgenden auch darum gehen, welche gesellschaftlichen Kommunikationen über das Internet realisiert werden und welche nicht.

Grundlegend ist ein Leben ohne das Internet heute vielerorts nicht mehr vorstellbar. Obwohl das Web erst seit gut zehn Jahren eine nennenswerte Zahl von Usern hat, verursachte es bisher tief greifende Veränderungen in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft. Und das ist nur der Anfang der Geschichte. Im Vergleich zur Gutenberg-Galaxis (McLuhan 1968; zuerst 1962) und dem Zeitalter der elektronischen Medien (vgl. Castells 2004 zur McLuhan-Galaxis) ging die Entwicklung der digitalen Medien äußerst rasant vonstatten. So weisen zum einen verschiedene quantitative Kennziffern, wie die Zahl an verfügbaren Webseiten oder die Menge an internetfähigen Endgeräten, für die Turing-Galaxis1 (vgl. Coy 1995) ein fast schon unglaubliches Wachstum aus. Zum anderen deuten sich qualitative Veränderungen für wichtige Bereiche der Gesellschaft an.

Ein viel zitiertes Beispiel ist in diesem Zusammenhang der Wandel im Verhältnis zwischen Produzierenden und Konsumierenden, wie er etwa bei Crowdsourcing-Phänomenen (vgl. Papsdorf 2009) oder im Rahmen des partizipativen Journalismus (vgl. Neuberger 2009) zu finden ist. Es ändern sich Rollenverhältnisse, die Reichweite von Kommunikationen und damit von sozialen Zusammenhängen oder die Taktung von medienvermitteltem Handeln. Ganze Wirtschaftszweige entstehen binnen weniger Jahre, während andere drastisch an Bedeutung verlieren. Die Medienlandschaft erlebt eine bemerkenswerte Wandlung, Wissenschaft und Politik beispielsweise stehen neuen Herausforderungen gegenüber. Diese und viele weitere Veränderungen sind eingebettet in Kommunikationen, die über ein spezifisches und noch immer verhältnismäßig wenig erforschtes Infrastruktursystem realisiert werden: das Internet. Ein zentrales Thema der vorliegenden Arbeit bildet die Frage, worin das spezifisch Neue an der Internet-Kommunikation aus soziologischer Perspektive besteht. Sie soll beantwortet werden, indem den Wechselwirkungen zwischen der Gesellschaft und dem Internet auf den Grund gegangen wird. Dabei ist beispielsweise von Interesse, ob die neuen Rollenverhältnisse auf das Internet beschränkt bleiben, ob sie ihren Ursprung »im« Internet haben oder ob sie lediglich einen besonders prägnanten Ausdruck im Rahmen von Online-Kommunikation finden? Diese und viele andere Fragen wurden zwar bereits an verschiedenen Stellen formuliert, bisher jedoch nicht hinreichend und systematisch beantwortet. Vielmehr verblieben die Analysen auf der Ebene von Einzelphänomenen, während das Internet »als Ganzes« eigentümlich marginalisiert wurde.

Im Folgenden wird »Internethandeln« konsequent als Kommunikation verstanden. Das Web ist eine technologische Plattform für eine unendliche Variation an digitalen (oder digitalisierten) Medien, die ihrerseits nichts als Kommunikation realisieren. Weiterführende Interpretationen, etwa zu virtuellen Räumen zu digitalen Identitäten, müssen auch als solche verstanden werden und führen vor allem dazu, dass der Dreh- und Angelpunkt der gesellschaftlichen Bedeutung des Internets, nämlich die spezifischen Formen und Praktiken der Kommunikation, aus dem Blick geraten. In diesem Sinne ist auch der Titel des vorliegenden Buches zu verstehen. Es werden Internet und Gesellschaft zueinander ins Verhältnis gesetzt und zwar im Rahmen der kommunikativen Dimension. Es wird also darum gehen, wie und inwiefern Internetkommunikation die »klassische« gesellschaftliche Kommunikation beeinflusst und anders herum. Ausgehend von einem weiten Medienverständnis, das auch Geld, Macht, Liebe oder Wahrheit umfasst, kann so beispielsweise analysiert werden, wie Eilmeldungen, politische Partizipationsprozesse oder ganze Finanzstränge das Medium wechseln und welche Konsequenzen dies hat.

Im Folgenden wird das vorrangige Ziel darin bestehen, einen tragfähigen theoretischen Rahmen für diesen Prozess zu entwickeln, der stellenweise mit Inhalten gefüllt werden soll. Der Untertitel präzisiert dieses Thema auf dreifache Weise. »Wie das Netz unsere Kommunikation verändert« steht in einer ersten und allgemeinen Lesart für einen Prozess, indem immer größere Teile der gesellschaftlichen Kommunikation über Internetmedien realisiert werden und dabei eine qualitative Veränderung erfahren. Diese Entwicklung besteht aus zwei bedeutsamen Teilprozessen: Die zweite Lesart folgt dementsprechend der Annahme, dass die zunehmende Nutzung des Internets Auswirkungen (eventuell auch in Form von Konkurrenz) auf Kommunikation im Rahmen klassischer Medien (wie Telefon, Fernsehen oder Zeitung) hat. Und drittens wird davon ausgegangen, dass »unsere Kommunikation« das Internet ganz maßgeblich beeinflusst. Dementsprechend könnte es auch heißen: »Wie unsere Kommunikation das Netz beeinflusst«. Dies ist sicher die ungewöhnlichste, aber wahrscheinlich spannendste Lesart. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass sich die Entwicklung des Internets vor allem über die Analyse der Kommunikationsinhalte nachzeichnen lässt. Die dritte Lesart wird in den folgenden Kapiteln eine herausgehobene Rolle spielen.

Die Nutzung des Internets berührt eine Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen. Für die Sozialwissenschaften ist das Thema im Speziellen relevant, insofern es sich zum einen um eine Technologie handelt, deren zentrale Funktion in Kommunikation besteht, die aber zum anderen vielfältige Rückwirkungen auf die gesellschaftliche Realität hat. Gleichwohl wird nachfolgend nicht von einem Dualismus zwischen Internet und Gesellschaft oder einer einseitigen Ursache-Wirkung-Konstellation ausgegangen. Vielmehr wird (in Anknüpfung an die drei Lesarten des Untertitels) ein integratives Modell angestrebt, das gerade die Wechselwirkungen und gegenseitigen Abhängigkeiten zum Thema macht. Davon unabhängig ist festzustellen, dass sich die (sozial-) wissenschaftliche Analyse des Internets noch im Anfangsstadium befindet und somit die vielschichtige Entwicklung bisher nur partiell nachgezeichnet wurde. Speziell mit Blick auf grundlegende Fragen herrscht eine gewisse Konzeptlosigkeit, weshalb Teilphänomene, wie beispielsweise der Einfluss von Microblogs auf Demokratisierungsprozesse, nicht in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden können.

Im Folgenden soll ein Versuch unternommen werden, das Internet in seiner Gesamtheit fassbar zu machen und es damit jenseits der Einzelphänomene zu konzeptualisieren. Hierzu wird angenommen, dass der Zusammenhang zwischen Internet und Gesellschaft ein wichtiges Moment für die Analyse des Internets darstellt, da dieses schließlich nicht außerhalb gesellschaftlichen Handelns besteht. Den zweiten Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit bilden die Inhalte der Internetkommunikation. Sie sind der Grund, warum das Internet überhaupt entwickelt wurde und bis heute genutzt wird. Es geht um die Kommunikation von ganz bestimmten Themen, Informationen und Inhalten. Interessanterweise wurden beide Aspekt in der bisherigen Internetforschung eher randständig behandelt. Wie zu zeigen sein wird, lassen sie sich direkt aufeinander beziehen.

1.1
Die Entstehung einer neuartigen Technologie

Das Internet und die damit in Zusammenhang stehenden Phänomene sind äußerst vielschichtig und heterogen. Auch die Geschichte des Internets kann auf ganz verschiedene Weise erzählt werden. Sie kann beispielsweise als die Geschichte des Siegeszugs der digitalen Medien, als die Geschichte von visionären Technikpionieren, als die Geschichte der Raumüberwindung oder als die Geschichte des emanzipativen Journalismus erzählt werden. Im Folgenden soll ein anderer Versuch unternommen werden. In einer ersten Annäherung an die beiden oben genannten Themen dieser Arbeit wird die Entstehung und Verbreitung des Internets auf das Verhältnis von Internet und Gesellschaft und auf die kommunizierten Inhalte bezogen. Wie Bunz (2008a: 27ff.) konstatiert, beginnt die Geschichte des Internets im Jahr 1969 damit, dass zwischen den ersten beiden Rechnern des neuen ARPANET (Advanced Research Projects Agency Network) eine paketvermittelte Nachricht verschickt wurde. Das anfänglich vom Pentagon finanzierte transkontinentale ARPANET setzte auf eine Architektur gleichberechtigter Rechner, wie sie bis heute im Rahmen der Netzneutralität praktiziert wird (vgl. Hafner/Lyon 2000). An dem Projekt waren zunächst nur wenige Forscherinnen und Forscher, vor allem vom MIT (Massachusetts Institute of Technology) beteiligt. Gewissermaßen zweckentfremdete Telefonleitungen verbanden ein Forschungsinstitut und drei Universitäten miteinander. Dementsprechend ging es zunächst primär um den Austausch wissenschaftlicher Inhalte, aber auch um die dezentrale Nutzung von (damals enorm kostbaren) Rechnerressourcen. Der erste Versuch, sich auf einem entfernten Rechner einzuloggen, sah dabei wie folgt aus (vgl. Gromov 2012: online):

»We set up a telephone connection between us and the guys at SRI … , Kleinrock said in an interview:

We typed the L and we asked on the phone:

›Do you see the L?‹

›Yes, we see the L‹, came the response.

We typed the O, and we asked: ›Do you see the O?‹

›Yes, we see the O.‹

Then we typed the G, and the system crashed …

Yet a revolution had begun«

Der bedeutendste Fortschritt des frühen Vorläufers des Internets bestand also in einer standardisierten Möglichkeit der raumüberspannenden Kommunikation, auch wenn sie anfangs mit einigen Problemen behaftet war. Theoretisch konnten Daten und Informationen aber über Gesellschaften und Kontinente hinweg in einem hierarchiefreien Netz ausgetauscht werden. An ein (globales) Internet im heutigen Sinne war natürlich keineswegs zu denken, auch weil in der Folge in verschiedenen europäischen Ländern eigene Datennetze entwickelt wurden und das ARPANET zunächst ein us-amerikanisches Projekt blieb. Nur wenige Unternehmen konnten sich darüber hinaus in den ersten Jahren die notwendige Technik leisten. Diese wenigen Unternehmen waren aber dahingehend hochgradig bedeutsam, als mit ihnen das frühe Internet nicht länger ein exklusives Experimentierfeld für die Wissenschaft blieb, sondern auch für die Wirtschaft zugänglich wurde. Damit wurde das Internet einerseits für einen zweiten gesellschaftlichen Bereich interessant und andererseits gewann die Internetkommunikation in direkter Folge daraus ein neues Thema, indem eben nicht nur über Belange der Wissenschaft, sondern auch über Themen der Wirtschaft kommuniziert wurde.

Wenn die Verbreitung zu Beginn auch nur sehr langsam voranschritt (1971 hatte das Netz kaum 20 Knoten), zog es Forscherinnen und Forscher schnell in seinen Bann. So wurden in den folgenden Jahren Tausende von RFCs (Request for Comments) geschrieben und diskutiert. Oft waren es Studierende, die mit diesen Dokumenten Vorschläge zur technischen Ausgestaltung des Internets machten. Dass sie dabei um Kommentare baten anstatt Standards auszurufen, hing vor allem mit der in den 1960er Jahren noch stark hierarchischen akademischen Kultur zusammen. Das fehlende Selbstvertrauen der Web-Pioniere führte aber gerade dazu, dass niemand Standards festlegte, sondern die Entwicklung des Internets diskursiv ausgehandelt werden musste. Dies war ein einmaliges Vorgehen, dessen Erfolg sich unter anderem darin zeigt, dass sich in den Grundzügen der Webarchitektur auch heute noch die frühen RFCs herauslesen lassen. Mitte der 1970er Jahre stieg die Zahl der User dann rasant, zunehmend mehr Institutionen gingen online und eine kommerziell nutzbare Version des Web (BBN Telenet) wurde angeboten.

Mit der sukzessiv steigenden Zahl an Hosts (1985 waren es bereits 5000) kam es zu einer Institutionalisierung, im Zuge derer die Grundideen verstetigt wurden: Das Motto einer der wichtigsten Institutionen, der Internet Engineering Task Force, lautete dementsprechend: »We reject: kings, presidents and voting. We believe in: rough consensus and running code.« (vgl. Grassmuck 2004: 230) Darüber hinaus erfuhr das Internet in den 1980er Jahren eine Internationalisierung. Zwar waren Nutzerinnen und Nutzer aus den USA mit deutlichem Abstand die größte Gruppe, aber auch User aus Deutschland, Kanada, Japan und anderen Ländern waren an das neue Netz angeschlossen (vgl. Mühlen 1999: 4). Dies war vor allem möglich, weil Protokolle entwickelt wurden, die es erlaubten, die verschiedenen Netze der einzelnen Länder miteinander zu verbinden. Bezogen auf das Verhältnis von Internet und Gesellschaft bedeutet diese Entwicklung eine Fusion bisher nur rudimentär (per Post oder Telefon) verbundener Welten. Die Möglichkeiten grenzüberschreitender Kommunikation üben bis heute eine große Faszination aus, wie man etwa an den gegenwärtig viel genutzten sozialen Netzwerken sieht. Eine zweite wichtige Veränderung dieser Epoche bezieht sich auf die zur Kommunikation notwendigen Computer. Der erste Commodore, ein IBM-PC und der Apple II fanden weltweite Verbreitung. Diese Geräte wurden für die private Nutzung entwickelt, sie waren erschwinglich und via Modem internetfähig. Damit erweiterte sich der Anwenderkreis des Internets binnen weniger Jahre enorm. Durch die »neuen« User änderte sich auch die Internetkommunikation: Speziell in den Foren des Usenets, das im Übrigen 1979 gegründet wurde, damit sich die User des Unix-Betriebssystems (zu dem es erstmals kein Handbuch gab) gegenseitig helfen konnten, wurde sich zu so ziemlich allem ausgetauscht, das man sich vorstellen kann. Zu jedem Thema kann (bis heute) eine Newsgroup eröffnet werden, was schließlich auch viele »private« Themen ins Internet brachte. In den 50.000 Gruppen ging es nicht selten um pornographische Inhalte oder um hitzige persönliche Diskussionen.

Der neue Informationsreichtum verlangte bereits wenig später nach einer Strukturierung, um sicherzustellen, dass Kommunikation auch weiterhin effizient und schnell realisiert werden kann. Auf dieses Bedürfnis antwortete Tim Berners-Lee (wenn auch unintendiert) mit dem von ihm entwickelten Hyperlinksystem, aus dem schließlich das WWW hervorgehen sollte. Auch wenn es zu vielen Themen bereits Informationen im Netz gab, war die Anzahl der User noch verhältnismäßig klein und unter anderem deshalb die gesellschaftliche Bedeutung des Internets verschwindend gering. Immerhin war das Telefax (zunächst als »Fernkopierer« bezeichnet) gerade dabei, die Büros zu erobern. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre beginnt allerdings eine Erfolgsgeschichte, die über die Vorstellungen der frühen Visionäre weit hinausgeht: Das WWW war geschaffen, das ARPANET ging offline und das einst wissenschaftliche Projekt wurde recht schnell privatisiert. Kommerzielle Provider (wie AOL) stellten den Zugang bereit und die ersten Werbebanner tauchten auf. Nachdem sich das Internet durch die Nutzung der Technikpioniere und Nerds als funktions- und inzwischen auch leistungsfähig erwiesen hatte, fragten sich viele, wie die neue Technologie (unter marktwirtschaftlichen Bedingungen) in den Alltag integriert werden könnte. Als 1993 der erste Browser mit grafischer Oberfläche (Mosaic) auf den Markt kam, war eine wichtige Barriere für ein breiteres Publikum gefallen. Ein zentraler Vorteil des WWW bestand in der Möglichkeit, komplexere Informationen über die technischen Spezifika einzelner Rechner hinweg austauschen zu können (vgl. Kirpal/Vogel 2006: 142). Bis zur Jahrtausendwende ist die Anzahl der Hosts auf 100 Millionen angestiegen und das Internet hatte, schneller als jedes Medium zuvor, nahezu die ganze Welt erobert. Die Hosts waren auch notwendig, da die neuen User zusätzliche Dienste in Anspruch nahmen und deutlich mehr Daten versendeten und empfingen als in den Jahren zuvor. Der Übergang von textbasierter Eingabe zu graphischen Oberflächen des Internets führte zudem dazu, dass sich die Zusammensetzung der User nochmals änderte. Waren es zunächst Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dann Akteure der Wirtschaft, dann Technikpioniere (die sich die ersten PCs leisten konnten), konnte inzwischen jeder das Internet nutzen. Ab 1994 entstanden überall Internetcafés, viele Schulen bekamen »Computerkabinette« und Bibliotheken richteten (aus heutiger Perspektive: ironischerweise) sehr früh Internetarbeitsplätze ein. Damit gewann das Internet auch außerhalb der Hackerszene an Bedeutung. Es wurde in allen Feldern der Gesellschaft ein Thema und alle gesellschaftlichen Bereiche (Politik, Religion, Kunst, Erziehung und viele mehr) wurden ein Thema der Internetkommunikation.

Die Zahl der User stieg nicht allein aufgrund des günstigeren und einfacheren Zugangs. Vielmehr wuchs die Zahl, Qualität und Diversität der Webangebote sowohl in inhaltlicher als auch in medialer Hinsicht. Aufbauend auf dem WWW wurden zunehmend mehr Anwendungen entwickelt, die über den Browser ansteuerbar sind. Dazu zählen E-Mail-Dienste, Auktionsplattformen, Bildergalerien, Chats, Foren, Bestell-Shops, Wissenssammlungen und bald auch Suchmaschinen. In den 1990er Jahren explodiert die Informationsvielfalt des Internets geradezu. Täglich tauchten neue Angebote auf. Privatpersonen, Unternehmen, ein Großteil staatlicher Institutionen und Organisationen der »alten« Medienbranche drängten ins Netz. Einige verschliefen den Start, andere hingegen waren wagemutig und sicherten sich früh eine gute Ausgangsposition. Gleichwohl war keineswegs klar, worin genau der Wert eines solchen Engagements liegen könnte. Die Bedeutung des Internets zeigte und entwickelte sich erst nach und nach.

Die häufig als erste Zäsur des Internetwachstums bezeichnete Dotcom-Blase im Jahr 2000 ist ein gutes Beispiel für die Verknüpfung von »Real Life« und Internetaktivitäten. Im Zuge der allgemeinen Interneteuphorie entstanden immer neue Geschäftsmodelle, die ein gewisses Startkapital für ihre Etablierung in der Netzökonomie benötigten. Neben nachhaltig erfolgreichen Modellen wie eBay oder Amazon stellten sich viele Unternehmungen als nicht zukunftsfähig heraus. Unglücklicherweise wurden einige dieser jungen Firmen an der Börse stark überzeichnet und hatten hohe Beträge an Fremdkapital erhalten. Es folgte ein Reinigungsprozess, der viele einstige Hoffnungsträger in die Insolvenz trieb. Für das Internet war dieses Scheitern allerdings keine große Sache, für die Anlegerinnen und Anleger schon. Nach der Enttäuschung machte sich eine Ernüchterung breit, die IT-Unternehmen in der Folge einen schweren Stand verschaffen sollte. Es wurde die Erkenntnis gewonnen, dass nicht jede ökonomische Aktivität, die das Internet nutzt, eine Erfolgsgeschichte garantiert. Dem Boom jenseits des Risikokapitals tat die geplatzte Blase allerdings keinen Abbruch.

Das vorerst letzte Kapitel dieser kurzen Geschichte des Internets umfasst Neuerungen, die unter dem Begriff »Web 2.0« subsumiert werden können. Das Web 2.0 bezieht seine Rechtfertigung als eine »neue« Version des Internets aus der Verbreitung von verhältnismäßig vielen neuen Anwendungen innerhalb kurzer Zeit. Dazu gehören Weblogs, verschiedenste Plattformen (etwa für Videos, Bilder, Rezepte oder Produkte), soziale Netzwerke, Wikis, Linksammlungen oder Podcasts. Gemeinsam ist diesen Medien, dass sie als »sozial« angesehen werden. Die Annahme der Gemeinschaftlichkeit resultiert aus verstärkten Interaktionsmöglichkeiten: Menschen können sich vernetzen, die Aktivitäten der anderen verfolgen, bestimmte Inhalte teilen oder gemeinsam spielen. Wie man an YouTube oder Facebook gegenwärtig sieht, wird das auch massenhaft praktiziert. Darüber hinaus ist es zunehmend einfacher geworden, Inhalte in das Netz »einzuspeisen«. War für das Betreiben einer Homepage bislang Spezialwissen notwendig, kann ein Blog ohne Vorwissen und binnen von Minuten erstellt werden. Damit wird jeder User potenziell zur Autorin, zum Journalisten oder zur Kritikerin, wodurch die frühen Web-Ideale eine konsequente Fortführung erfahren. In Kombination mit einer weiterhin schnell anwachsenden Zahl an Usern ergeben sich bemerkenswerte Netzwerkeffekte. So werden beispielsweise auf großen Videoplattformen pro Minute über 50 Stunden Filmmaterial hochgeladen und pro Tag werden vier Milliarden Videos geschaut (vgl. Kim 2012: online). Wie die Web 2.0-Anwendungen demonstrieren, findet nicht nur ein stetiges Wachstum in quantitativer Hinsicht statt, sondern es werden immer wieder neue Möglichkeiten, Strukturen und vor allem auch Rekombinationen von Bestehendem (sogenannte Mash-Ups) geschaffen. Dabei findet sich inzwischen im Internet eine Entsprechung fast aller bisherigen Medien: Es kann telefoniert werden, es sind Texte, Videos, Bilder und Audios verfügbar. Durch diese Möglichkeiten stellt sich dann für jede Information die Frage, ob sie auf dem klassischen Weg oder via Internet verbreitet werden sollte. Für viele Bereiche scheint die zweite Variante attraktiver, wie beispielsweise der Rückgang des Briefaufkommens seit Bestehen der E-Mail zeigt.

Diese Art, die Geschichte des Internets zu erzählen, offeriert bereits verschiedene soziologische Anschlussfragen: Warum beispielsweise ist die Internetkommunikation so attraktiv und erfolgreich, wie unterscheidet sie sich von anderen Medien? Sind Kommunikationen aller gesellschaftlichen Bereiche gleichermaßen im Internet »vertreten« oder liegt der Entwicklung eine Selektivität zugrunde? Schließlich muss gefragt werden, welcher Zusammenhang zwischen der Beeinflussung der Gesellschaft durch das Internet und dem Gegenprozess besteht. Vor allem am letzten Punkt, den man als »Prägung« des Internets durch die Gesellschaft umschreiben könnte, setzt die vorliegende Arbeit an, indem es darum geht, für die Vielfältigkeit und Wandelbarkeit der Internetkommunikation eine theoretische Entsprechung zu finden. Das primäre Ziel ist also nicht die historische Rekonstruktion, sondern die Erarbeitung eines theoretischen Analyserahmens, der sowohl das Internet als Ganzes als auch die Einzelphänomene in den Blick nehmen kann.

1.2
Das Internet und die Soziologie

Wie bereits angesprochen, zeichnen sich für die wissenschaftliche Untersuchung des Internets viele verschiedene Disziplinen verantwortlich. Die Wirtschaftswissenschaften interessieren sich etwa für virales Marketing, die Politikwissenschaften für LiquidFeedback und die Pädagogik interessiert sich für E-Learning. Je mehr unterschiedliche Inhalte über das Web kommuniziert werden, desto länger wird die Liste der relevanten Wissenschaften. Das Internet stellt aber auch ein Thema für die Soziologie dar. Dabei können einerseits bestimmte Phänomene aus der Perspektive soziologischer Teildisziplinen betrachtet werden, andererseits kann das Internet in seiner Gesamtheit und damit in seinem Verhältnis zur Gesellschaft fokussiert werden. Für die erste Möglichkeit findet sich inzwischen eine nennenswerte Anzahl von Ansätzen. So fragt beispielsweise die Ungleichheitsforschung nach dem Digital Divide als neue Ungleichheitsdimension, die Raumsoziologie nach der Erweiterung der Lebenswelt in den Cyberspace, die Arbeitssoziologie nach neuen Möglichkeiten der Telearbeit oder die Migrationssoziologie nach den Integrationspotenzialen des Internets. Für die zweite Möglichkeit, die eine genuine Internetsoziologie zum Ziel haben muss, lassen sich bisher deutlich weniger Ansätze finden. So trifft die von Dringenberg (2002: 98) formulierte Kritik auch nach zehn Jahren noch zu: »Es gibt nach meiner Auffassung keinen einzelnen wissenschaftlichen Standort, der aufgrund seiner Systematik, Methodik und seines Geltungsbereichs den Anspruch erheben könnte, das komplexe Phänomen Internet umfassend zu analysieren. Ebenso ist es der Soziologie bislang nicht vergönnt, einen eigenen Gegenstandsbereich begründet zu haben, der sich ›Soziologie des Internets‹ nennen dürfte«. Aus diesem Grund fehlen bis heute eine Gegenstandsdefinition und eine dezidierte Forschungsagenda.

Zwei Teilbereiche der Soziologie sind hingegen besonders geeignet, das Internet als Gesamtphänomen zu analysieren. Es handelt sich um die Medien- und um die Techniksoziologie. Letztere beschäftigt sich unter anderem mit den sozialen Auswirkungen von Technologien und in jüngerer Vergangenheit speziell von Computertechnik. In diesem Zusammenhang sind dann vernetzte Rechner und damit das Internet von Interesse. Betrachtet werden sowohl die Genese, die Entwicklung und die Folgen der mikroprozessorbasierten Technologien als auch deren soziale Konstruktion. In Bezug auf das Internet kann aus techniksoziologischer Perspektive gefragt werden, wie es entstanden ist und welche Architekturprinzipien ihm zugrunde liegen, auf welche Weise die einzelnen Internetendgeräte (Laptops, Handys oder Tablets beispielsweise) genutzt werden und an welchen »Stellen« das Internet in den Alltag integriert ist. Während die ersten beiden Fragen stärker auf das Internet an sich abzielen, beziehen sich die letzten beiden auf die Nutzung der Technologie. Beide Aspekte sind freilich eng miteinander verbunden, wodurch die Techniksoziologie Internet und Gesellschaft aufeinander beziehen kann.

Das Sujet der Mediensoziologie hat eine deutlich längere soziologische Tradition als die Formierung der Fachdisziplin im heutigen Sinne. Das Verhältnis von Medien und Gesellschaft findet sich beispielsweise in Simmels Philosophie des Geldes, in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung oder Luhmanns Gesellschaft der Gesellschaft. Die neuere Mediensoziologie ist demgegenüber deutlich stärker an den Kommunikationswissenschaften orientiert. Neben analogen und elektronischen gehören inzwischen auch digitale Medien zum Forschungsgegenstand, wenngleich für Letztere eine deutlich geringere Ergebnisdichte vorliegt. Bezogen auf das Internet kann die Mediensoziologie zwei zentrale Perspektiven beisteuern, die allerdings bisher nur unzureichend und zudem unsystematisch mit Inhalten gefüllt wurden. So kann erstens aus dem Vergleich zu klassischen Medien das Neuartige am Internet analysiert werden. Und zweitens kann in Anlehnung an die Kommunikationssoziologie gefragt werden, worüber überhaupt kommuniziert wird. Dieser letztgenannte Aspekt wurde bisher nahezu gänzlich vernachlässigt. In der Regel stehen Kommunikationstrukturen oder -probleme, nicht aber Kommunikationsinhalte im Vordergrund. Gleichwohl ist dieser Aspekt für die Entwicklung des Internets, wie sie in der vorliegenden Arbeit konzipiert ist, wesentlich bedeutsamer als im Rahmen klassischer Medien, die sich einerseits deutlich langsamer entwickelt haben und andererseits weniger komplex sind. Im Folgenden wird versucht, die medien- und techniksoziologischen Aspekte miteinander zu verknüpfen, um das Internet als Gesamtphänomen in den Blick zu bekommen.

Die auf das Internet bezogenen Publikationen der letzten zwei Jahrzehnte zeigen einerseits durchaus ambitionierte Ansätze, andererseits aber eine deutliche Diskrepanz zum Stand der Forschung in anderen Teilgebieten der Soziologie. Die bis hierhin umrissene Divergenz zwischen der sozialen Bedeutung des Internets und der soziologischen Bearbeitung des Themas bildet einen Ausgangspunkt der nachfolgenden Kapitel. Dementsprechend ist die Fragestellung gerade nicht an spezifischen, und damit kleinteiligen Aspekten orientiert, sondern zielt auf einen Beitrag zu einer »allgemeinen« Soziologie des Internets ab. Im Folgenden geht es aber nicht darum, eine Internetsoziologie zu begründen oder ein Forschungsprogramm zu formulieren. Vielmehr besteht das Ziel in der Erarbeitung eines weiteren Schritts auf dem Weg zu einer Internetsoziologie. Ein Konzept, das das Internet und die Gesellschaft ins Verhältnis setzen kann, und ein von den Inhalten ausgehend konzipierter Entwicklungsansatz scheinen hierfür unumgänglich. Es handelt sich bei den beiden Aspekten, die im Folgenden aufeinander bezogen werden, zudem insofern um ein Forschungsdesiderat, als bisher kein gesichertes Wissen darüber existiert, welchen Aktivitäten Menschen »im Internet« nachgehen. In Hinblick auf diese Frage kann weder auf einen konzeptionellen Rahmen noch auf ergiebige empirische Studien zurückgegriffen werden.

1.3
Die Entwicklung des Internets vor dem Hintergrund des Wechselverhältnisses zur gesellschaftlichen Umwelt

Die vorangegangenen Abschnitte verweisen bereits auf die zwei zentralen Themen der Arbeit: den Zusammenhang zwischen Internet und Gesellschaft sowie die inhaltliche Entwicklung des Internets. Beide Aspekte werden im Folgenden detaillierter vorgestellt und es wird gezeigt, wie sie sich aufeinander beziehen lassen. Die inhaltliche Entwicklung des Internets umfasst in erster Linie die Frage, worüber im Rahmen der Internetnutzung kommuniziert wird: Welche Inhalte werden ausgetauscht, welche Gegenstände der sozialen, subjektiven oder objektiven Welt werden thematisiert? Für diese Fragen gilt es in den nachfolgenden Kapiteln einen theoretischen Ansatz zu formulieren, der der Vielfalt von Internetkommunikationen gerecht wird.

Die Entwicklung des Internets wird damit nicht entlang technischer Standards, der Zahl der User, den verschiedenen Diensten oder der Verbreitung über die Welt hinweg analysiert, sondern auf die Frage bezogen, worum es eigentlich geht, wenn Individuen das Internet nutzen. Dabei handelt es sich gewissermaßen um eine untypische Fragestellung, da die Soziologie in der Regel vielmehr an gesellschaftlichen Strukturen der Mediennutzung, etwa dem Zugang zu bestimmten Technologien oder dem Verhältnis von Senderinnen und Sendern zu Empfängerinnen und Empfängern, interessiert ist. Solche Punkte sind ohne Frage sehr relevant und sollen in den nachfolgenden Kapiteln auch zur Sprache kommen, gleichwohl stellt die Untersuchung der übermittelten Inhalte das zentrale Element einer soziologischen Betrachtung von Kommunikationstechnologien dar. So bildet die Frage, was über das Internet mitgeteilt wird, einerseits für die User den Mittelpunkt der Internetnutzung, was sich unter anderem darin zeigt, dass im Zuge des Web 2.0 die Bedeutung der Technik klar zugunsten des »Content« zurücktritt. Andererseits geht die Soziologie (nicht nur in konstruktivistischen Ansätzen) davon aus, dass Gesellschaften sich durch Kommunikation konstituieren und auch reproduzieren. Damit liegt es nahe, danach zu fragen, welche Rolle und Funktion der relativ jungen Internetkommunikation hier zukommt, zumal sie sich permanent und grenzenlos auszuweiten scheint.

Die inhaltliche Entwicklung soll und kann nicht losgelöst von der gesellschaftlichen Umwelt des Mediums betrachtet werden. Interessiert man sich nicht ausschließlich für eine reine Deskription, sondern auch für die Ursachen, Mechanismen und Folgen einer beispielsweise vorrangig wirtschaftlich geprägten Internetkommunikation, muss über den »Tellerrand« des Internets hinaus geschaut werden. Schließlich sind die User des Internets keine virtuellen Avatare, sondern ganz körperliche Wesen, die situativ entscheiden, ob sie bei einem bestimmten Anliegen einen Brief schreiben, einen Anruf tätigen, vielleicht eine E-Mail verfassen oder einen Tweet posten. Hieran setzt das zweite Kernthema der vorliegenden Arbeit an. Es geht darum, wie das Verhältnis von Internet und Gesellschaft gefasst werden kann. Dahinter verbirgt sich zunächst nicht die Frage, welche konkrete Bedeutung das Internet in modernen Gesellschaften hat oder wie die Gesellschaft das Internet im Detail prägt. Vielmehr muss zunächst geklärt werden, auf welche Art und Weise diese Frage beantwortet werden kann. Das Ziel ist ein theoretischer Ansatz, der im Sinne eines Analyserahmens eine fundierte Bearbeitung ermöglicht.

Das Verhältnis von Internet und Gesellschaft kann grundsätzlich auf zwei verschiedene Weisen gedacht werden. Die Offline-Sphäre kann die Online-Sphäre beeinflussen und es können (in umgekehrter Perspektive) die Auswirkungen des Internets auf seine gesellschaftliche Umwelt betrachtet werden. Die erste Variante umfasst beispielsweise Unternehmen, die ihre Produkte nicht mehr in Ladengeschäften anbieten, sondern via Web-Shop vertreiben. Wenn hingegen Hunderte von Freiwilligen die Dissertationen von Politikerinnen und Politikern im Rahmen von Online-Kollaborationen nach Plagiaten durchsuchen und Mandatsträgerinnen und -träger in der Folge zurücktreten (müssen), liegt die umgekehrte Wirkungsrichtung vor. Zu diesen beiden idealtypischen Möglichkeiten tritt ein dritter Modus hinzu: die wechselseitige Einflussnahme beider Sphären. Das Verhältnis von Internet und Gesellschaft entspricht an vielen Stellen einem komplexen Prozess gegenseitiger Einflussnahme, der einerseits theoretisch entsprechend zu berücksichtigen ist und sich andererseits an realen Beispielen zeigen lässt.

Als 2009 eine Passagiermaschine im Hudson River in New York notlanden musste, wurden die ersten Informationen über das Internetmedium Twitter verbreitet. Die getwitterten Informationen (unter anderem Bilder des Flugzeugs im Wasser) wurden anschließend von Radio- und Fernsehsendern als Quelle ihrer Berichterstattung genutzt. Die Sender haben die News aber auch auf ihre Homepages gestellt und selbst dazu getwittert. Und wieder andere Tweets haben auf die Breaking News im Fernsehen verwiesen. Dieser Einzelfall vermittelt bereits einen Eindruck von der Vielschichtigkeit des Verhältnisses von Internet und Gesellschaft. Das Ziel der Arbeit besteht nun in der Elaboration eines Ansatzes, der sich vor entsprechend komplexen Fragen nicht verschließt und gleichzeitig von der Kleinteiligkeit des Gegenstands abstrahiert. Das Gefüge an Wechselwirkungen soll dabei aus einer bestimmten Perspektive betrachtet werden. So wird das Internet nachfolgend ausgehend vom Offline-Bereich konzipiert und die Rückwirkungen der Internetkommunikation werden zunächst zurückgestellt. Diese Einschränkung geht auf das Interesse an der inhaltlichen Entwicklung des Internets zurück. Für die Frage, welche Themen im Rahmen der Internetkommunikation besprochen werden, ist zunächst irrelevant, ob zunehmend mehr Einzelhandelsgeschäfte durch E-Commerce in ihrer Existenz bedroht werden. Hochgradig bedeutsam ist es hingegen, wenn immer mehr Kaufhandlungen über das Internet realisiert werden, da das Internet in diesem Zuge neue inhaltliche Facetten gewinnt.

Die beiden Kernthemen dieser Arbeit stehen also in engem Zusammenhang und lassen sich, wie gezeigt werden soll, mit einem relativ jungen Konzept, dem Mediatisierungsansatz (vgl. Krotz 2001), direkt aufeinander beziehen. Dieser geht zunächst schlicht davon aus, dass immer mehr Face-to-Face-Kommunikationen technisch vermittelt werden. Beispielsweise erfahren die Bürgerinnen und Bürger immer seltener direkt von Politikerinnen und Politikern, warum eine Schule geschlossen oder eine Bank gerettet wird. Stattdessen werden solche Informationen vielfach über Medien (und damit selektiv und verändert) kommuniziert. Das Internet hält nun eine Vielzahl an Kommunikationsmedien bereit, die in diesen Prozess involviert sind. Die Ausgangsannahme hierzu besteht darin, dass mit einer internetspezifischen Variante des Mediatisierungsansatz zum einen die Entwicklung der Internetkommunikation in inhaltlicher Hinsicht erklärt werden kann. Zum anderen wird hier davon ausgegangen, dass der Mediatisierungsansatz eine Verbindung zwischen On- und Offline, also zwischen Internet und Gesellschaft, in der präferierten »Richtung« herstellen kann.

Bevor die zwei Fragen mit Hilfe des Mediatisierungsansatzes in ein theoretisches Konzept integriert werden können, bedarf es noch einer wichtigen Vorarbeit. Es ist zunächst zu klären, was aus soziologischer Perspektive unter dem Internet zu verstehen ist. Während der Gesellschaftsbegriff im Mittelpunkt der Soziologie steht und eine (wenn auch nicht unstrittige) umfassende Ausarbeitung erfahren hat, wurde das Internet bisher allenfalls in einzelnen Aspekten analysiert. Das Internet »als Ganzes« hingegen, im Sinne der Gesamtheit aller Online-Phänomene und -Strukturen, ist bisher nahezu gänzlich aus dem Fokus geraten. Weder ist klar, was genau zum Internet gehört (und wo die Grenze verläuft), noch wurde bisher systematisch analysiert, welche Möglichkeiten, Restriktionen und Spezifika die Internetkommunikation mit sich bringt. Solange dieses Forschungsdesiderat besteht, bleibt es im Grunde unmöglich, eine Internetsoziologie im engeren Sinne zu etablieren und das Verhältnis von Internet und Gesellschaft zu bestimmen.

Darüber hinaus sind die spezifischen Eigenschaften der Online-Kommunikation, die im Zuge einer soziologischen Gegenstandsbestimmung des Internets aufzudecken sind, von großer Bedeutung für die inhaltliche Entwicklung des Internets. Die dazugehörige Annahme besteht darin, dass bestimmte Inhalte sich mittels bestimmter Medien besser kommunizieren lassen als mit anderen. Behörden und Ämter schicken beispielsweise noch immer Briefe und Faxe, während Unternehmen oder Universitäten Web-Medien stärker nutzen. Will man also wissen, welche Inhalte (bevorzugt) via Internet kommuniziert werden, muss zunächst in Erfahrung gebracht werden, welche medialen Ressourcen und Beschränkungen mit der Internetkommunikation einhergehen. Aus diesen Gründen wird das Internet, sowohl in seinen technischen als auch in seinen medialen Eigenschaften, eingehend analysiert.

Die genannten Fragen erfordern ein Konzept, das den Prozesscharakter berücksichtigt und nicht bei Querschnittsabbildungen verbleibt. Damit wird die Dynamik der Internetkommunikation in den Fokus gerückt, anstatt sie als Erklärung für die geringe Halbwertszeit internetsoziologischer Befunde zu bemühen. Entsprechend muss versucht werden, bereits die Gegenstandsbestimmung des Internets unabhängig von kurzzeitigen Trends zu formulieren. Damit wird nach einem Kern an Eigenschaften gesucht, der über verschiedene Entwicklungsstadien hinweg bedeutsam ist. Interessant ist hierbei unter anderem, inwiefern den Gründungsidealen des freien, partizipativen und demokratischen Mediums bis heute technisch entsprochen werden kann. Für diesen Punkt gilt wie für die ganze Arbeit, dass das Konzept einerseits abstrakt genug formuliert sein muss, die »großen« Entwicklungslinien nachzeichnen zu können und dass es andererseits konkret genug sein muss, um spezifische Phänomene einbinden und erklären zu können.

Anknüpfend an den letztgenannten Punkt soll der zu erarbeitende Ansatz nicht nur das Verhältnis zwischen Internet und Gesellschaft thematisieren, sondern auch eine Verbindung zwischen Theorie und Empirie herstellen. Wenngleich die theoretische Betrachtung im Zentrum steht, werden empirische Schnittstellen aufgezeigt. Es kann also nicht um eine abstrakte, schwer zu operationalisierende Theorie gehen, sondern es soll über die empirische Bearbeitbarkeit die Gegenstandsnähe gewahrt bleiben.

1.4
Aufbau des Buches

Der vorliegende Text besteht neben der Einleitung aus fünf weiteren Kapiteln. Das folgende Kapitel widmet sich dem Stand der Forschung. Hierbei wird auf Arbeiten Bezug genommen, die das Wechselverhältnis von Internet und Gesellschaft zum Thema haben. Dabei lassen sich drei Arten von Ansätzen unterscheiden: Erstens sind Studien zu finden, die verschiedene Aspekte des Internets als Folge bisher gesellschaftlich dominanter Strukturen verstehen. Zweitens werden Ansätze vorgestellt, die sich mit den Folgen der Internetkommunikation auf den Offline-Bereich beschäftigen. Und drittens sollen schließlich Konzepte Beachtung finden, die sich als integrativ im Sinne einer wechselseitigen Beeinflussung von Internet und Gesellschaft verstehen. Darüber hinausgehende Fragen, etwa nach den Endgeräten oder der weltweiten Nutzung, werden hingegen zunächst ausgeklammert und dann im Rahmen der entsprechenden Teilkapitel eingeführt. Zum Ende des Kapitels wird die eigene Perspektive und Fragestellung aus den Fehlstellen und Anschlussmöglichkeiten der bisherigen Forschung entwickelt.

Das dritte Kapitel widmet sich einer umfassenden Konzeptualisierung des Internets. Das Ziel besteht darin, ein soziologisch tragfähiges Verständnis der Kommunikationstechnologie zu erarbeiten. Dabei wird es zentral um die medialen Eigenschaften des Internets gehen. Hierzu muss einerseits die Technik des Internets analysiert werden, andererseits muss die Nutzung als gesellschaftliches Kommunikationsmedium Beachtung finden. Für dieses Ziel werden zunächst die bedeutendsten Web-Medien vorgestellt und dann anhand eines Analyserasters auf ihre Spezifika untersucht. Als Ergebnis ist nicht eine geschlossene Definition des Internets angestrebt, sondern ein System aufeinander aufbauender Eigenschaften, die einen medialen Rahmen internetvermittelter Kommunikation bilden können. Das Ziel dieser Grundlagenarbeit ist ein technik- wie mediensoziologisch fundierter Vorschlag, unter welchen Bedingungen Internetkommunikation stattfindet und worin sie sich vom Austausch mit anderen Medien unterscheidet. Zum anderen bildet das Kapitel eine unverzichtbare Basis für die darauf folgende Analyse des Entwicklungsprozesses. Es präzisiert den Gegenstand und hält Anknüpfungspunkte für die hier interessierenden Forschungsfragen bereit. Abschließend werden die Eigenschaften der Internetkommunikation anhand eines Fallbeispiels illustriert.

Das vierte Kapitel hat die Beantwortung der beiden Kernfragen zum Thema. Es geht dabei um das Verhältnis von Internet und Gesellschaft, bezogen auf die inhaltliche Ausdifferenzierung der Internetkommunikation. Hierzu wird der Mediatisierungsansatz eingeführt. Auf die begriffliche Annäherung folgt eine Zusammenfassung der empirischen Studien sowie des analytischen Gehaltes des Konzepts. Auf Basis eines um internetspezifische Elemente erweiterten Mediatisierungsansatzes kann für das Internet gezeigt werden, wie On- und Offline in einen Zusammenhang gebracht werden und auf welche Weise die inhaltliche Entwicklung der Internetkommunikation gefasst werden kann. Das Mediatisierungskonzept erlaubt es, die internetbasierte Kommunikation als Ergebnis der selektiven technischen Vermittlung »klassischer« Kommunikation zu betrachten. Im Detail zeigt sich, dass die Differenzierung des Internets eine direkte Folge der Mediatisierung gesellschaftlicher Kommunikation ist, aber daran unmittelbar ein gegenläufiger Prozess anschließt, der es nahelegt, die Entwicklung des Internets in zwei Phasen zu unterteilen.