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Über das Buch

Das Museum für Post und Kommunikation in Berlin ist eines der wichtigsten Archive für Korrespondenzen des Zweiten Weltkrieges. Es ist in Besitz von 16000 Briefen, die deutsche Soldaten im Laufe des Krieges an ihre Verwandte daheim geschrieben hat. Oft konnten die Lebensläufe der Absender rekonstruiert werden.

Die Historikerin Marie Moutier hat eine Auswahl aus diesen Briefen getroffen. Chronologisch und nach Kriegsverlauf geordnet, zeigen sie, wie deutsche Soldaten den Einfall in Polen und Frankreich, das Unternehmen Barbarossa, Stalingrad, das Hitlerattentat oder die Landung der Alliierten in der Normandie wahrnahmen. In diesen Briefen stehen Privates und Politisches, Anteilnahme an dem Schicksal der Verwandten zu Hause und Rechtfertigungen von Kriegsverbrechen, krude nebeneinander.

Erahnbar wird so, was eine rassistische Ideologie und der Krieg aus Familienvätern, Studenten, Arbeitern, Künstlern, Bankiers, Pfarrern, Postangestellten oder Lehrer machten.

Die Briefe sind mit den jeweiligen Viten der Briefschreiber und Sachanmerkungen versehen. Die ausführliche Einleitung erläutert den besonderen Ansatz dieser Briefauswahl und legt unter anderem den Einfluss der Zensur auf die Feldpost dar.


Über die Autorin

Marie Moutier studierte an der Sorbonne in Paris Geschichte und promoviert gegenwärtig an der Universität von Amiens. Als Archivleiterin der Organisation Yahad-In Unum (seit 2009) forschte sie über Massenexekutionen von Juden in den Jahren 1941–1944 auf dem Gebiet der heutigen Ukraine und des heutigen Weißrusslands.

Die Historikerin Fanny Chassain-Pichon unterstützte sie bei ihrer Arbeit.

TITUS MÜLLER

Berlin

Feuerland

ROMAN EINES AUFSTANDS

HEYNE

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Copyright 2015 Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Umschlagabbildung: © Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von akg-images.de,
shutterstock.com und Richard Jenkins Photographyh

Bildredaktion: Annette Mayer

Abbildung auf dem Vorsatz:

Hof der Lokomotivfabrik am Oranienburger Tor, Berlin,

Postkarte, um 1840 © akg-images/arkivi UG

Abbildung auf dem Nachsatz:

W. Loeillot, Das Königliche Schloß,

Kreidelithografie, um 1850 © akg-images

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-12511-0
V003

www.blessing-verlag.de

Saint-Germain-en-Laye, Freitag, 25. Februar 1848

Der Gefangene, ein dickleibiger Mann mit hängendem Augenlid, sah stur auf den Weg. Er wirkte abwesend, als sei er mit seinen Gedanken an einem anderen Ort. Hinter ihm folgten zwei Soldaten mit aufgesteckten Bajonetten, und am Schluss des Zuges trugen vier Füsiliere eine längliche Kiste. Trotz der Kälte schwitzten sie unter ihren Tschakos aus schwarzem Filz, und die Haare klebten ihnen an der Stirn. Unter ihren Schritten schwankte die Kiste wie ein klobiges Schiff bei Seegang.

An der alten Mauer unweit der Bahnstrecke nach Paris befahl der Capitaine, die Kiste abzusetzen und den Gefangenen mit dem Rücken zur Mauer aufzustellen. »Möchten Sie, dass wir Ihnen die Augen verbinden?«, fragte er.

Der Gefangene verneinte.

»Dann wollen wir mal hoffen, dass Ihre Hehlerware gut schießt.«

Die Füsiliere legten ihre gebrauchten Gewehre auf der Wiese ab und hoben den Deckel von der Kiste. Nacheinander entnahm ihr jeder ein fabrikneues Gewehr, während der Capitaine den Gefangenen mit der Pistole in Schach hielt. Sie bissen Papierpatronen auf, schütteten das Pulver in die Gewehrläufe und stopften eine Kugel darauf fest.

Der Capitaine sicherte die Pistole, steckte sie zurück ins Halfter und sagte: »Zur Zündung – fertig!« Die Füsiliere hoben die Gewehre. Sie spannten den Hahn und holten ein Zündhütchen aus der Tasche, um es auf den Zündkegel zu setzen.

»Legt an!«

Sie richteten die Gewehrmündungen geradeaus.

Unbeeindruckt blickte der Gefangene sie an. Ihr mit eurem kleinkarierten Leben, dachte er. Gefesselt an eine Frau, die euch aufmüpfige Kinder in die Welt setzt, Münder, die ihr zu stopfen habt, ob euch danach ist oder nicht. Unterdrückt von eurem Offizier. Der hält euch die Bratwurst an einer Angel vor die Nase, und ihr rennt ihr nach, jahrelang, ihr schuftet für eine armselige Beförderung, ein paar Francs, einen läppischen Blechorden auf der Brust. Nie werdet ihr den inneren Aufruhr kennenlernen und das Rieseln des Glücks in euren Gliedern, wenn ein Coup glückt und ihr im Alleingang Gendarmerie und Armee ein Schnippchen schlagt. Nie werdet ihr dem Duft des Abenteuers folgen. Schießt doch! Ihr könnt mich töten, aber im Gegensatz zu euch habe ich wenigstens gelebt und genossen.

Im Dachzimmer in Paris stand noch ein Paar feiner Schuhe, um die war es schade. Und um Lucienne, mit ihrem dichten schwarzen Haar, die hätte er gern noch mal besucht. Oder Julie, die frecher und frivoler war als alle anderen, die er kennengelernt hatte.

Die Füsiliere warteten. Lange Augenblicke verstrichen. Das Kommando »Feuer!« ertönte nicht. Wie ein Wolf, der auf der Lauer gelegen hatte, sprang der Überlebenswille in ihm auf.

»Hahn in die Ruh!«, befahl der Capitaine. »Schultert das Gewehr.« Er trat an ihn heran und verzog dabei sein Gesicht, als ziehe er eine Kakerlake am Hinterbein aus der Suppe. »Es gibt eine Möglichkeit, wie Sie Ihr Leben retten können. Ich habe einen Auftrag für Sie. Kommt von ganz oben.«

»Natürlich«, sagte er, als habe er nichts anderes erwartet.

»Nehmen Sie den Auftrag an, oder sollen wir das Urteil vollstrecken?«

Er sagte: »Gestern hätte ich zweitausend Francs verlangt. Jetzt ist der Preis gestiegen.«

Dem Capitaine entgleisten die Gesichtszüge. »Wie bitte?«

»Dreitausend Francs, und keinen Centime weniger.«

»Sie haben hier keine Forderungen zu stellen! Und bilden Sie sich ja nicht ein, wir würden Sie in Preußen nicht finden, wenn Sie versuchen sollten, sich abzusetzen. Die Republik hat Mittel und Wege.«

Preußen. Also stimmten die Gerüchte. »Die Republik hat vor allem ein Interesse daran, die preußische Geheimwaffe in die Hände zu bekommen.« Er musterte den Capitaine. »Ihre Vorgesetzten kennen mich«, sagte er. »Aber scheinbar nicht gut genug.«