»Ein kleines Meisterwerk.« NZZ

 

Meisterhaft beherrscht Cees Nooteboom die Kunst, hinter den kleinen Dingen die großen Weltfragen aufblitzen zu lassen. So führt etwa eine zufällige Strandbegegnung zur Frage, ob ein kleiner Junge der Spiegel sein kann, in dem das eigene Alter verfliegt. Die Pflanzen im mediterranen Garten des Autors wiederum kümmert das wenig, sie führen ihr eigenes Leben. Und die Agave, die vermutlich mit mexikanischem Akzent spricht, verfolgt ohnehin eine nur ihr bekannte Mission.

Nootebooms Korrespondenz mit dem Meeresgott bezaubert: Verspielt und tiefernst, lakonisch und poetisch, lässt sie das Erzählte in einem klaren, warmen Licht erscheinen.

 

»Cees Nooteboom berückt durch melancholische Eleganz.« NZZ

 

Cees Nooteboom, 1933 in Den Haag geboren, lebt als freier Schriftsteller in Amsterdam und auf Menorca. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2010 und dem Prijs der Nederlandse Letteren 2009.

 

 

Cees Nooteboom
Briefe an Poseidon

Aus dem Niederländischen
von Helga van Beuningen

 

Suhrkamp

 

 

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Brieven aan Poseidon bei Uitgeverij De Bezige Bij, Amsterdam.

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4494.

© Cees Nooteboom 2012

© der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlagabbildung: Simone Sassen

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

 

ISBN 978-3-518-75600-3

www.insel-verlag.de

Briefe an Poseidon

 

 

 

Für Siegfried Unseld, der für mich
so viel verändert hat

 

 

The death of one god is the death of all.

Wallace Stevens

 

Wie fängt etwas an? 2008, ein Februartag in München, ich habe am Marienplatz ein Buch von Sándor Márai gekauft, keinen Roman, sondern kurze Texte. Es heißt Die vier Jahreszeiten und macht einen etwas traurigen Eindruck, ein geknickter Stengel, eine große herabhängende Blüte, die Blätter noch dicht geschlossen, aber doch schon leicht verwelkt. Vor Jahren, als noch keiner von Márai sprach, gab Klaus Bittner in Köln mir dessen letztes Tagebuch, bittere, sparsame Seiten, Notizen aus den Jahren, die seinem Selbstmord im Alter von achtundachtzig vorausgingen. Exil in San Diego. Warum um Himmels willen San Diego? Ich kenne die Stadt, was verschlägt einen ungarischen Kosmopoliten am Ende eines Lebens dorthin, in dem das letzte Geräusch ein Revolverschuß ist? Seine Frau, mit der er ein Leben lang gereist war, war krank geworden. Er besucht sie in ihrem Pflegeheim, sie stirbt, ihre Asche wird auf dem Ozean verstreut. Er lebt allein weiter, immer mühsamer, liest Aristoteles, das Tagebuch wird fragmentarisch, es zeugt vom schmerzlichen Erfahren des Alltags. Dann kommt der Tod, seinen großen postumen Erfolg wird er nicht mehr erleben. Meine ungarischen Freunde wundern sich über die Begeisterung, die seine Romane auslösen. Sie schätzen seine Tagebücher und Reisebeschreibungen mehr. Márai war eine lichte Präsenz in einem langen, düsteren Jahrhundert des Faschismus und des Kommunismus, einem Jahrhundert sich ständig verschiebender Grenzen. Ich gehe mit meinem neuen Buch zum Viktualienmarkt und suche einen Platz zum Lesen. Die Menschen sitzen im Freien. Ich sehe Tische vor einem Fischrestaurant und finde einen freien Stuhl. Ich bestelle ein Glas Champagner, um diesen ersten Frühlingstag zu feiern, und beginne mit der Lektüre. Das Buch ist 1938 erschienen, doch was ich in der Hand halte, ist das Werk eines Zeitgenossen, eines Menschen, der sein Leben mit Beobachten und Lesen, Reisen und Schreiben verbringt. Ich habe mich einfach irgendwo hingesetzt, sehe jetzt aber auf der Serviette, die ich bekomme, den Namen Poseidon in Blau, der Farbe des Meeres, an dem ich im Sommer lebe. Das muß ein Zeichen sein, jemand will mir etwas sagen, und ich habe gelernt, solchen Zeichen zu gehorchen. Darauf abgebildet ist der Gott mit seinem Dreizack, und obgleich ich mitten in einem Buch bin, beschließe ich, ihm, sobald ich mit diesem Buch fertig bin, Briefe zu schreiben, kleine Wortsammlungen, die von meinem Leben berichten.

Aus dem deutschen Winter wurde ein spanischer Sommer, mein Buch ist abgeschlossen, und in der danach wie immer entstehenden Leere erinnere ich mich an jenen sonnigen Wintertag vor einem halben Jahr. In drei Tagen beginnt mein sechsundsiebzigstes Lebensjahr. Einen Tag danach der August, der Monat des Kaisers. Ich habe noch nie an einen Gott geschrieben. Es wird Abend auf der Insel, auf der ich Sommer lebe, das Meer ist nahe, das Meer des Poseidon, die Felsen, bei denen ich immer schwimme. Ich blicke auf die weite, leicht wogende Fläche, die Bewegung im letzten Aufglänzen des Sonnenlichts. Mit Ausnahme des Wassers an den Felsen ist kein Laut zu hören. Ich muß einfach anfangen.

Poseidon I

Auf einem Relief aus dem fünften Jahrhundert vor jenem Christus, der dich verdrängt hat, den wir jedoch dazu benutzen, um die unendliche Zeit in zwei Teile zu teilen, stehen die zwölf olympischen Götter in einer langen Reihe. Sie haben ihre Attribute bei sich, doch wohin sie gehen, ist nicht erkennbar. Apollon, Artemis, Zeus, Athene. Dann kommst du. Du bist der erste, der sich umsieht, aber die noch so junge Hera hinter dir hat die Augen geschlossen und erwidert deinen Blick nicht. Wohin hast du geschaut? In der Rechten hältst du locker den Dreizack, diese merkwürdige Waffe, an der wir dich immer erkennen. Du benutztest sie zum Fischen, alle Fische gehörten dir. Ihr steht quer, assyrisch, babylonisch seht ihr aus, als könnten eure Körper sich noch nicht vom Stein lösen. Das war, als wir uns noch nicht von euch lösen konnten. Warum habe ich dich gewählt? Weil ich einen Teil des Jahres am Meer lebe? Weil ich, bevor ich zu Beginn des Herbstes in den Norden fahre, immer an derselben Stelle von den Felsen aus schwimmen gehe, auch wenn es regnet oder stürmt? Ich tue das, um zu fragen, ob ich im nächsten Jahr wiederkommen darf, und wen sollte ich fragen, wenn nicht dich? Ich habe schon lange nach jemandem gesucht, dem ich schreiben könnte, wie aber schreibt man Briefe an einen Gott? Das ist ganz einfach, man tut es nicht, und man tut es doch. Über einen Umweg. Was man schreibt, läßt man am Strand zurück, auf einem Felsen am Meer, in der Hoffnung, daß er es findet. Es werden Dinge sein, die ich lese, die ich sehe, die ich denke. Die ich mir ausdenke, an die ich mich erinnere, über die ich staune. Berichte aus der Welt, wie der von dem Mann, der eine Tote heiratete. Vielleicht findest du sie, vielleicht werden sie weggeweht. Ich habe sie geschrieben, weil ich dachte, es könnte sein, daß du noch etwas von der Welt wissen willst. Was danach geschieht, weiß ich nicht, ich weiß das nie. Ich kann es mir allenfalls ausdenken. Auf eine Antwort kam es mir nie an. Was ich mich immer gefragt habe: Wie war es, als niemand mehr zu euch betete, niemand mehr etwas erbat? Irgendwann muß es einen letzten gegeben haben. Wer war das? Wo? Habt ihr darüber gesprochen? Wir betrachten eure Statuen, doch darin seid ihr nicht. Wart ihr eifersüchtig auf die Götter, die nach euch kamen? Lacht ihr jetzt, da auch sie allein gelassen werden?

Trauung mit einem Hut

In einem kleinen Dorf in Südfrankreich hat ein achtundsechzigjähriger Franzose eine Frau geehelicht, die kein Alter mehr hat, denn sie ist tot. Sie hatten zwanzig Jahre zusammengelebt und wollten nun heiraten, doch sie erkrankte vorher und starb. Zur Hochzeit mit der Toten, zu der der französische Präsident seine Genehmigung erteilt hatte, brachte der Mann ihren Hut mit. Im Golem von Gustav Meyrink denkt der Held die Gedanken desjenigen, dessen Hut er trägt. Was dachte der Hut der Frau an ihrem Hochzeitstag? Es waren Dutzende von Gästen eingeladen. Hat der Hut sie erkannt? Und was sagte er zu dem Mann, als sie wieder allein zu Hause waren?

Belagerung

Im Prado, in einem der oberen Säle des neuen Anbaus, ein Gemälde von Pieter Snayers. Es sind keine anderen Besucher zugegen, dadurch wirkt die Stille, die auf diesem Gemälde herrscht, noch viel stärker. Draußen sind es fast vierzig Grad, doch in dem Gemälde hat es geschneit, ich spüre den Schnee an meinen Füßen. Es ist das Jahr 1641. Wir sind Spanier, unser Krieg mit Frankreich dauert bereits sechs Jahre und wird weitere achtzehn Jahre dauern. Wir stehen auf einem hohen Hügel und schauen auf die Ebene hinunter und auf den Stadtkern und die Außenmauern von Aire-sur-la-Lys. Unser Blick reicht bis zum Horizont, ein tiefgelegener Streifen bläulichen Landes, und darüber das nördliche Licht und die Wolken, wie nur diese fernen Länder sie kennen. Unsere eigene Sprache klingt fremd in dieser Umgebung, in unserer Nähe einige kahle Bäume, ein paar Hunde. Wir sollen den Ort zurückerobern und werden das auch tun. So steht es in den Büchern. Links unter uns die Truppen in jenen unwirklichen Minuten der Stille wie vor jeder Schlacht. Ganz unten der unsichtbare Feind, der auf uns wartet. Derjenige, der uns später betrachtet, entrückt uns, ohne unsere Namen nennen zu können, für einen Augenblick dem Tod, doch unsere Gedanken jenes Tages behalten wir für uns. Was er sieht, ist Geschichte oder Kunst oder beides. Aber er weiß nichts von dem Atem, der an jenem Morgen aus unseren Mündern drang, nichts von dem Geschrei der Krähen, von den Hufen der Pferde auf dem gefrorenen Boden.

Bayreuth

Es geschieht jeden Sommer, so sicher wie Wimbledon und die Tour de France. Plötzlich wehen deutsche Klänge in meinen mediterranen Garten. Sie sind noch scheu, wissen nicht, ob sie willkommen sind. Bläser, hohe, laute Stimmen, Pauken. Es ist, als tasteten sie die Umgebung ab. Ich spüre, wie alles in meinem Garten auf der Hut ist, sich zur Wehr setzt. Die Palmen, der Hibiskus, die Kakteen, der Papyrus, Pflanzen, die in den kalten Nebeln des Nordens eingehen würden. Doch die Musik hat kein Mitleid, sie genießt ihre Macht. Ich höre die langgedehnten germanischen Klänge, die Heerestöne des Chors, das Schneidende dieser anderen Sprache, die Jagdklänge der Hörner, das Anschwellen eines großen Orchesters, den Verrat Tristans, der Isolde seinem König ausliefern wird, ihre Wut, das Geschrei dieses Grams, der als Gesang verkleidet über das helle Lila des Bleiwurz fegt, durch die Bougainvillea tost wie ein plötzlich aufkommender Sturm, der violette Flecken auf dem Boden hinterläßt. Heimatlos sitze ich mittendrin, ein nördlicher Gärtner unter den Oleastern, gefangen in der Widersprüchlichkeit meines Lebens.

Poseidon II

Du bist ein Gott, und ich bin ein Mensch. Dies ist, wie man es auch betrachten mag, der Status quo. Vielleicht darf ich trotzdem fragen, was ich schon immer habe fragen wollen. Was ist für euch ein Mensch? Verachtet ihr uns, weil wir sterblich sind? Oder ist es genau umgekehrt? Seid ihr neidisch auf uns, weil wir sterben dürfen? Denn die Unsterblichkeit ist euer Schicksal, auch wenn wir nicht wissen, wo ihr jetzt seid.

Niemand spricht mehr von euch, das mag bitter sein. Es scheint, als hättet ihr euch spurlos aufgelöst.

Und dennoch – wenn es stimmt, daß ihr unsterblich seid, und davon gehe ich aus, dann müßt ihr immer bleiben. Das Ende der Welt, das du ankündigtest, ist noch nicht gekommen. Haltet ihr euch in der Nähe eurer leeren Tempel auf? Wart ihr süchtig nach den Opfern, die wir euch brachten? Habt ihr Sehnsucht nach uns? Eine Zeitlang sind wir euer Ebenbild, bis wir zusammenbrechen, Ruinen, die aber noch denken und sprechen. Dann haben wir keine Ähnlichkeit mehr mit euch.

Doch was ist geheimnisvoller, jemand, der sterben kann, oder jemand, der nie sterben darf? Und damit bin ich wieder bei meiner ersten Frage: Was denkt ihr eigentlich über uns?

Heute am Meer gewesen, bei stürmischem Wind. Lange auf einem Felsen gesessen, auf die Wellen geschaut, grau und wild. Keine Antwort, natürlich nicht. Früher habt ihr euch zuweilen als Menschen verkleidet, um uns etwas zu sagen. Manchmal denke ich, daß es noch immer so ist, daß ich einem von euch begegnet bin. Aber sicher bin ich mir nie.

Begegnung

Zwei Jungen kommen mir auf dem schmalen Pfad entgegen, der vom Meer zum Dorf führt. Der eine ist ein Halbwüchsiger, lang, ungeformt, alles an seinem Körper schlenkert. Dadurch wirken die Schritte des viel kleineren Jungen hinter ihm wesentlich bedächtiger. Er sieht dunkel, südländisch, römisch aus. Sein Alter ist schwer zu schätzen, vielleicht neun oder zehn, was mir jedoch auffällt, ist der gänzlich nach innen gerichtete Blick. Natürlich kann ich nicht wissen, was er dort sieht, aber das Geheimnisvolle dieser äußersten Konzentration läßt mich durch die Zeit stürzen. Wie lange ist es her, daß ich in diesem Alter war? Warum habe ich das Gefühl, etwas wiederzuerkennen? Steckte derjenige, der ich heute bin, fast siebzig Jahre später, bereits in dem Kind, an das ich mich nicht erinnere? Dieses Rätsel begleitet mich den ganzen Tag. Gibt es das, ein anderer als Spiegel, in dem das eigene Alter verfliegt? Warum denke ich, daß ich mir selbst begegnet bin? Und falls das nicht zutrifft, wem bin ich dann begegnet, den ich nie kennen werde?

Invalides

Diese Toten sind für immer Invaliden. Sie werden sich nie wieder bewegen. Ihre zehn Särge sind in zeremonieller Symmetrie gegenüber dem klassischen Gebäude in der Ferne angeordnet. Es ist viel Platz zwischen dem Gebäude und den Särgen. Auf dem Foto wirkt er weiß, als hätte es geschneit. In der Mitte steht eine einzelne, zentrale Gestalt, der Präsident von Frankreich. Er hat diese Toten nach Hause geholt. Unsichtbar auf dem Foto ist die Frage, die hier nicht gestellt wird: Was für ein Krieg ist das? Weil wegen der Entfernung kein Gesichtsausdruck lesbar ist, dominiert die Dramaturgie der Zahl, der eine gegenüber den vielen. Napoleon baute diesen Dom für seine Soldaten, der Gedanke an ihn ist in diesem Augenblick nicht fern. Das Gefühl der Trauer in einer Geometrie theatralischer Reinheit einzufangen hat sein eigenes Pathos. Schräg hinter dem Präsidenten steht jemand, der salutiert, er ist zu weit weg, als daß sein Rang zu erkennen wäre. Die Mannschaften vor dem Gebäude, an der Seite und bei den Särgen bilden ein Fünfeck, eine klassizistische Zeichnung. Es muß Geräusche gegeben haben, doch auf dem Foto herrscht nur Stille.

Poseidon III

Heute las ich eine Erzählung von Kafka, die ich noch nicht kannte. Sie trägt deinen Namen, Poseidon.

Kafka ist ein Kontinent für sich, man gerät bei ihm ständig an Orte, die einem bislang fremd waren. Wenn wir davon ausgehen, daß manche Literatur zeitlos ist, dann lebst du also noch, wiewohl nicht glücklich. Noch habe ich dich nicht in einer Götterprozession schreiten sehen, da muß ich das Bild bereits korrigieren, denn für derlei Dinge hast du gar keine Zeit. Du bist zu beschäftigt. Kafka zufolge hast du das Meer eigentlich auch nie gesehen, höchstens ein einziges Mal, als du mit Mühe den Olymp bestiegen hattest. Da lag es tief unter dir, groß, grau und in Bewegung. Letzteres steht nicht da, das sage ich. Der Berg auf der Insel, auf der ich lebe, ist nicht so hoch wie der Olymp, doch einmal im Jahr steige ich hinauf und blicke aufs Meer. Groß, grau und in Bewegung. Weil du dich stets unterhalb der Wellen aufhältst, kennst du das Element folglich kaum, über das du herrschst. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ein erschöpfter Gott unter Wasser, so sieht Kafka dich. Unter einer durchsichtigen, sich bewegenden Decke. Rastlos. Jemand, der ständig am Rechnen ist, dem die Verwaltung aller Gewässer obliegt. Du mußt dich auch weiter darum kümmern, weil sie niemanden sonst dafür haben. Wer »sie« sind, sagt Kafka nicht, typisch für ihn. Die Vorstellung ist traurig. Ein alter Mann an einem Tisch, in großer Wassertiefe, der immer nur arbeitet. Aus Pflichtgefühl. Von wegen Dreizack, diese Geschichte ärgert dich im Grunde. Über Wassernymphen, Meerjungfrauen kein Wort. Eine richtige Seereise hast du im übrigen bisher auch nie unternommen. Du wartest, bis die Welt untergeht, sollst du gesagt haben. Kurz vor dem Ende, bevor du die Bücher abschließt, wirst du vielleicht noch eine kleine Rundfahrt machen, schreibt Kafka. Eine Rundfahrt, ich weiß nicht, was ich tun muß, um diesen Gedanken wieder loszuwerden.

Fluß

Leticia. Eine schlammige Böschung fällt ab zum Fluß. Menschen, Schweine, Hunde, alles wuselt durcheinander. Unten am Ufer die schmalen Boote mit Ruderern, die einen hinüberbringen zur kleinen Insel Fantasia. Hinter mir der Markt, die Früchte, die Fische. Jemand hilft mir den rutschigen Hang hinunter zum Steg, an dem Motorboote liegen. Die anderen sind bereits da. Drei Kolumbianer aus Cali, zwei Niederländer. Zwei Männer, die uns fahren werden, hundert Kilometer stromaufwärts. Einer hockt vorn am Bug, ich sitze neben dem anderen, der steuert. Sobald wir den Hafen hinter uns gelassen haben, scheint es, als öffne sich der Fluß, ein Panorama aus metallisch glänzendem Wasser zwischen flachen Ufern, die immer weiter auseinanderrücken.

Das kleine Boot durchschneidet das Wasser, das gellende Geräusch des Motors paßt nicht zu der unermeßlichen Stille, die mitten auf dem breiten Fluß herrschen muß. Wir machen halt beim Naturpark Amacayacu, ein eigens angelegter Pfad durch den Regenwald, Bretterstege, wo es zu sumpfig ist, orgiastische Glut von tausenderlei Grüntönen, Blätter aus falschen Träumen, Messer, gezackt und geschliffen, ein Teich mit modrigen Wasserpflanzen unter einem immer dunkler werdenden Himmel, in der Ferne das Grollen eines großen Gewitters. Ein Affe mit geschminktem Gesicht setzt sich neben mich und sieht mich an, als wolle er ein Gespräch über Gottesbeweise beginnen, doch dann kommt der Regen, der nicht fällt, sondern steht, eine graue, kaum durchsichtige Wasserwand, sobald er aufgehört hat, beginnt die Erde zu dampfen, als würde der Schlamm gekocht, das Licht wird jetzt aus Zink und Eisen gemacht, als wir weiterfahren, schmerzt es in den Augen. Wir werden rosafarbene Delphine sehen, die neben uns her tanzen, und Wolken, die in einem fort ihre Gestalt ändern, Tausende von Kilometern lang ist der Fluß, ich würde am liebsten weiterfahren bis nach Iquitos und noch weiter bis zu den Anden, das Motorgeräusch ist betäubend, wir begegnen so gut wie niemandem, nur hin und wieder einem dieser flachen Boote mit den schmalen Gestalten von Indios, stundenlang dieselben Ufer, Grün, Grün, mit den Rätseln des Lebens, das sich darin abspielt in einer Welt ohne Straßen und Autos, bis wir nach Stunden umkehren und mit der Strömung zur Insel Santa Rosa in Peru zurückfahren. Der Boden ist schlammig, Bäume mit ineinander verwachsenen Luftwurzeln, ein Stück weiter ein kahler Baum voller Geier, Holzhäuser auf Pfählen, eine Gruppe Frauen in einem Halbkreis. Es sind ungefähr zehn, und jede Frau hält ein Tier in den Armen. Ein Faultier, einen Papagei, einen Alligator, ein junges Krokodil, eine Wasserschildkröte, einen Leguan, einen Riesenfrosch. Das Ganze ist eindeutig arrangiert, die Frauen verrichten hier ihre Arbeit, später wird der Bootsführer uns um eine Spende bitten. Seitlich von den Frauen sitzt der einzige Mann. Er hält an einem Strick eine Art kleinwüchsigen Jaguar, der zu fauchen beginnt, sobald ich näher komme. Unsere kleine Gruppe steht vor den Frauen und sieht sich die Tiere an, eine absurde Szene, die Königin auf Arbeitsbesuch. Die Frauen sind von unterschiedlichem Alter, sie tragen T-Shirts und kurze Hosen. Was sie denken, läßt sich von ihren Gesichtern nicht ablesen. Von den unsrigen auch nicht, denke ich, ein Krokodil streichelt man nicht, das Faultier scheint tief zu schlafen, die Schildkröte ist zweihundert Jahre alt und weiß ohnehin alles. Ich entferne mich von der Gruppe über ein sandiges Feld, an dem ein Holzgebäude in Rosa und Hellgrün steht, Asamblea Tradicional de Dios, Iglesia Evangélica. Die Götter sind nie fern. Ich steige die wacklige Treppe hoch und betrete einen großen, leeren Raum. Vorne eine Art Altar mit einem Bibelpult, dahinter fünf grellgrüne Plastikstühle, davor sechs schmale Holzbänke ohne Lehnen. Licht fällt durch Spalten und Ritzen in den Holzwänden herein. Es ist friedlich und still. Wo viel gebetet wird, waltet das Göttliche, hat der Philosoph gesagt, der selbst nicht an Gott glaubte. Ich stehe dort kurze Zeit in dieser Stille und höre dann, wie der Motor des Bootes anspringt. Als wir wegfahren, sehe ich die Gruppe noch, die rasch kleiner wird und schließlich im fernen Grün des Ufers verschwindet, als würde eine Zeichnung gelöscht, ein Dorf auf einer Insel im Fluß an der Grenze zwischen Peru, Kolumbien und Brasilien, unendlich weit entfernt von der Hauptstadt Lima, in der keiner weiß, wie es heißt.

Challenger

Es ist kein Tier, wenngleich es den Anschein hat, da sei ein Kopf, und darin oben rechts ein umflortes Auge, zwei alberne, schlaffe Hörner aus bizarrem Staub, ein paar lange weiße, spitze Schnurrhaare, ein dünner, wackliger Hals, darüber etwas dunkleres Haar. Ein Herausforderer, aber wen oder was hat er herausgefordert? Das schwarze Tuch des Universums, dahinter?

Doch es ist kein Tier, es ist eine Wolke, die aus pulverisiertem Fleisch und Metall besteht, fein zerriebene Existenzen, lebende und tote Materie, die die Form einer verschwommenen weißen Wolke angenommen hat, ein ausfransendes Grab aus immer feiner werdendem Staub, endlose Auflösung der Körper von Männern und Frauen, die einmal Namen hatten.

Poseidon IV

Ich weiß nicht, ob du je liest, was über dich geschrieben wird. Homer, Kafka, Ovid? Wahrscheinlich nicht. Aber durch sie weiß ich mehr über dich, als du denkst, und alles wirft Fragen auf. Kafka nennt dich Poseidon, Ovid Neptun. Ehrlich gesagt mag ich deinen lateinischen Namen nicht. Damit verhält es sich ähnlich wie mit dem Pseudonym eines Schriftstellers, man muß einen guten Grund dafür haben, oder man muß zu seinem eigenen Pseudonym werden, wie Stendhal, oder sich auf verschiedene Namen verteilen, wie Pessoa, wobei jeder Name den anderen ausschaltet, vielleicht sogar umbringt. Neptun ist es nie gelungen, Poseidon unterzukriegen, jedenfalls nicht aus meiner Sicht. Auf dem Markt in Lindau steht für mich Poseidon, nicht Neptun. Neptun ist jemand mit dem gleichen Dreizack, aber doch ein Betrüger. Jemand, der sich für dich ausgibt, der alles, was an dir griechisch ist, mit einer Schicht Rom bedeckt hat. Dante las kein Griechisch, er nennt dich Neptun, aber ich weiß, daß du gemeint bist. Paradiso XXXIII, das letzte Buch der Commedia, in dem der Dichter im ewigen Licht seiner unbeschreiblichen Vision steht und weiß, daß er in die Tiefe des göttlichen Mysteriums, die Einheit alles Seienden, geblickt hat und es dennoch beschreiben will. Er erkennt, daß er die Erinnerung an das Gesehene nie wird festhalten können, da er nur ein Mensch ist, daß diese Erinnerung ihm genauso entgleiten wird, wie du im Nebel von fünfundzwanzig Jahrhunderten den so wundersamen Augenblick vergessen hast, als du eines Tages den Schatten der Argo vorbeigleiten sahst, das allererste Schiff, das je die Meere befahren hat. Erstaunt warst du über diesen Anblick, schreibt Dante, und ich versuche mir den Moment vorzustellen, ein Gott, der auf all seinen Meeren noch nie ein Schiff gesehen hat, ein rätselhafter Schatten, der vorbeizieht, das unbekannte Segel gebauscht, ein langgestreckter Gegenstand, besetzt mit Ruderern, der plötzliche Klang menschlicher Stimmen, ein König als Kapitän, sterbliche Jäger auf der Suche nach dem Goldenen Vlies.

Asclepias

Am 14. November 1827 schreibt die Herzogin von Duras an Chateaubriand: »Mein früheres Leben ist so weit von meinem jetzigen entfernt, daß ich das Gefühl habe, Memoiren zu lesen oder mir ein Schauspiel anzusehen.« Zwei Monate später stirbt sie in Nizza. Sie las, ohne zu lesen, die Memoiren ihres eigenen Lebens, die Chateaubriand in seinen Memoiren niedergeschrieben hat. Ich lese also eine Verdoppelung von Erinnerungen. Das braucht einen nicht zu verwundern. Zwei adlige Personen, die beide gut schreiben konnten und in einer bewegten Zeit lebten. Terror, Emigration, Restauration. Große Themen, und doch beschäftigt mich etwas anderes. Im selben Brief schreibt die Herzogin, daß sie ihm eine Asclepias carnata geschickt habe, eine lorbeerähnliche Kletterpflanze, die nicht kälteempfindlich sei und eine Blüte habe, rot wie die einer Kamelie. Setze sie unter die Fenster der Bibliothek des Benediktiners, schreibt sie. Benediktiner, das war ihr Name für ihn. Der Schriftsteller als Mönch. Die Zauberkunst des Lesens. Eine tote Herzogin, ein toter Schriftsteller, der Weg, den die Pflanze von Nizza nach Lausanne zurücklegt, ihr Eintreffen bei der Bibliothek. Was ich sehe, ist das Rot dieser Blüte, und ich sehe es jetzt.

Zeit

Meine Armbanduhr ist ein flaches Rechteck mit einem doppelten, aber sehr dünnen goldenen Rand. Falls es stimmt, daß sie einen Aspekt der Zeit verkörpert, dann liegt die Zeit flach auf meinem Handgelenk. Die Frage ist, ob sie auch außerhalb dieses goldenen Randes existiert? Das Zifferblatt ist weiß, dank meiner Sommerbräune hebt sich dieses starre Weiß hart von meiner Haut ab. Die Ziffern sind römisch, die IV und die VIII sind schräg nach unten gerichtet, die VIIXIII