Orkney Inseln, Schottland
~ Louan ~
Von meinem Versteck hinter einem Felsen aus beobachtete ich das Mädchen. Jeden Abend suchte sie nach mir, doch ich konnte ihr Sehnen nicht erfüllen. Ich war ein Schatten meiner selbst seit der letzten Nacht des vergangenen Vollmonds, in der meine Erinnerung zurückgekehrt war.
Louan, ich brauche dich.
Ich habe dir ein Versprechen gegeben, aber ich kann es nicht halten. Ich brauche dich so sehr. Hörst du mich?
Die Worte waren durch meine Träume geschwebt und selbst im Sonnenlicht nicht verschwunden. Sie hallten in mir nach, wieder und wieder, durchdrangen die Mauer meines Vergessens und brachten alles zurück. Die Tage und Nächte unseres gemeinsamen Glücks, die Zeit des Gefangenseins. Mein Tod und die Wiedergeburt. Unser letzter Kuss.
Mari …
Ihr Name schwebte als fernes Licht in der Dunkelheit, die das Tier um mein altes Ich gehüllt hatte. Der Fluch eines Selkies, Gefühle spüren zu können, schmerzte in dieser Nacht besonders heftig. Ihre Trauer war so groß, so heftig und verzweifelt, dass meine Seele unter ihrem Ansturm bersten wollte. Aber ich konnte nicht zurückkehren. So gern ich sie auch trösten und in meinen Armen halten wollte.
Kalte Flocken fielen auf mein Gesicht und rieselten ins Wasser hinab. Die Zeit verging so schnell, schon wieder war es Winter geworden. Ich blickte zum Himmel hinauf und sah, wie der Schnee im Dunkel der Nacht tanzte. Vergänglich wie das Leben eines Menschen. Er fiel genauso wie vor einem Jahr, als ich sterbend in den Armen des Mädchens gelegen hatte, das Flüstern der anderen Welt bereits in den Ohren. Nur für Mari war ich zurückgekehrt, und nur für Mari hatte ich noch einmal als Mensch gelebt. Seit einem Jahr war dieser Mensch unwiderruflich verloren. Die Erinnerung mochte zurückgekehrt sein, nicht aber die Gabe der Verwandlung. Manchmal fühlte es sich an, als kehre das Gefühl für Arme und Beine, die sich von innen gegen das Gefängnis aus tierischem Fleisch drückten und nach Befreiung strebten, zurück.
Es war nichts weiter als eine höhnische Illusion. Kaum griff ich nach diesem Gefühl, um mich zu befreien, entglitt es mir und ließ nichts als Leere zurück.
Meine Finger würden nie wieder durch ihr Haar streichen und mein Körper nie wieder ihre Wärme spüren. Es war dumm, Nacht für Nacht hierherzukommen. Es war genauso dumm, wie mir den Stachel eines Seeigels wieder und wieder ins Fleisch zu rammen.
Aber beim Salz der See, sie war so schön. So stark und stolz. Reglos stand sie da, den Wind im Haar und die nackten Füße in die Brandung getaucht, als spürte sie die Kälte nicht. Ihr Sehnen war Feuer in meinem Herzen und Eis in meiner Seele. Doch wie konnte ich sie in meine Welt holen, wenn der Mensch, den sie liebte, für immer verloren war?
Ich erinnerte mich daran, wie es war, sie im Arm zu halten. Wie es war, ihre Stimme zu hören und ihr mit menschlicher Zunge die meine ins Ohr zu flüstern. Wie es war, sie zu küssen und ihren Atem in mich aufzunehmen.
Weint eine Frau sieben Tränen in das Meer, so besagen die alten Geschichten, entsteigt den Wellen der Selkie in menschlicher Gestalt und gehört eine Nacht lang ihr. Ich hatte ihr gehört, doch alle Tränen brachten den Mensch in mir nicht zurück.
War wirklich nur ein Jahr vergangen? Oder nicht doch eine Ewigkeit?
Wie das Schicksal zu mir kam
„Nicht über den Wellen des Ozeans,
nicht über den Sternen
und nicht im Lande der Phantasien
ist meine Heimat.
Ich finde sie nur in deinen Augen.“
Autor unbekannt
Ein Jahr zuvor
~ Mari ~
Hoffnungslos. Resigniert.
Ich ertrug den Blick dieser Augen kaum. Sie sehnten sich nach Freiheit. Nach der spröden Gischt des Meeres, das keine hundert Meter entfernt gegen die Klippen von Westray brandete. Nach dem Spiel in den Wellen und den nächtlichen Sandbänken, auf denen seine Artgenossen schliefen.
Beinahe bereute ich es, zu so später Stunde noch hinunter an den Strand gegangen zu sein, nur um letztlich über dieses bedauernswerte Wesen zu stolpern. Doch durch meine Traurigkeit sickerte das Gefühl der Gewissheit, dass es Schicksal gewesen war.
Ich hatte schon oft Seehunde gesehen. Aber niemals einen wie ihn. Er war groß, schlank und geschmeidig wie fließendes Quecksilber. Sein fleckenloses Fell besaß einen Glanz, der ihm das Aussehen eines Traumgeschöpfes gab. Eines Wesens, das die Grenze zur realen Welt nur zufällig übertreten hatte.
Jetzt lag es vor mir in Dads zugemülltem Schuppen, gebettet auf eine zerschlissene Decke. Immer, wenn ich das Tier berührte, erwartete ich, durch es hindurchzufassen wie durch eine Illusion. Aber es war echt und bestand aus Fleisch und Blut. Aus Fleisch, das starb, und Blut, das meine Haut verklebte.
Mein Vater hatte für den Seehund alles getan, was in seiner Macht lag. Die Kugel in der Flanke war entfernt, das Loch genäht und verbunden worden. Trotzdem war es nicht genug gewesen. Dad hatte inzwischen die Flucht ergriffen und gönnte sich den Schlaf der Gerechten. Ich wiederum saß hier, in meinem grünen Wollpullover und meiner blutbefleckten Lieblingsjeans, fror mir die Seele aus dem Leib und bewachte einen sterbenden Seehund. Es war mir unmöglich, ihn allein zu lassen. Ich konnte nicht wie Dad den Lauf der Natur mit einem Schulterzucken hinnehmen und Dinge wie „so ist das eben“ murmeln. Irgendetwas flüsterte mir zu, dass dieses Wesen mich brauchte. Gut möglich, dass ich nur Hirngespinsten nachhing, aber ich wollte in seinen letzten Stunden bei ihm sein.
Während ich ihn streichelte, wurde der Seehund immer kälter. Er bewegte sich kaum mehr. Das Leben floss aus ihm heraus und versickerte in der Decke zu meinen Füßen. Seine Augen schlossen sich, ein Zittern durchlief den quecksilbernen Körper.
Der Frust packte meinen Magen und quetschte ihn zusammen. Zutiefst erschöpft rutschte ich von dem sterbenden Tier weg, lehnte mich gegen die Wand und starrte ins Leere.
Warum berührte mich das so sehr? Ich hatte viele Tiere sterben sehen, das brachte das Leben in einem Fischerdorf mit sich. Erschossene, in Netzen erstickte, gestrandete oder von Schiffsschrauben zerfetzte Tiere. Aber diesmal war es anders. Ich erkannte mich selbst nicht wieder, wie ich hier mit brennenden Augen saß, ertrunken in Sentimentalität. Es wäre besser gewesen, Dad zu rufen und den Seehund hinaus zur Brandung zu tragen. So hätte er noch einmal die Freiheit atmen können. Doch weil ich mich nicht dazu hatte überwinden können, hauchte das Tier jetzt in diesem heruntergekommenen Schuppen sein Leben aus.
Auf einer nach nassem Hund stinkenden Decke und mit rostigem Werkzeugen als letztem Anblick.
Irgendwann musste ich wohl eingenickt sein. Zuerst war ich verwirrt, wusste nicht, was geschehen war. Doch dann fiel mein Blick auf die Decke, das Blut und …
Ich hörte meinen erstickten Schrei, als hätte ihn ein anderer ausgestoßen. Was ich sah, war unmöglich. Das Tier war verschwunden. Nein, nicht ganz. Sein Fell war noch da. Es wurde gehalten von blutverschmierten, menschlichen Armen. Ein Junge – oder vielmehr ein junger Mann – saß vor mir, starrte mich an und zitterte wie Espenlaub. Seine Augen waren so schwarz wie die des Seehundes. Helle Streifen zogen sich durch sein lockiges Haar, dessen längste Strähnen in seinem Nacken klebten. Quecksilbergrau auf Schwarz.
Mit einem Ächzen rutschte er von mir weg, stieß mit dem Rücken gegen die verrostete Schubkarre und ließ seinen von Panik erfüllten Blick hin und her huschen. Mein Verstand gefror. Ich sah blutdurchtränkte Binden, die zerfetzt auf dem Boden lagen. Auf dem Oberschenkel des Jungen klaffte eine Wunde, deren Nähte aufgerissen waren. Er umklammerte das Fell mit aller Kraft und drückte es sich gegen die Brust, als sei seine größte Angst, ich könnte es ihm wegnehmen.
Selkie, raunte etwas in mir. Ein Seehundmensch.
Blödsinn! Es gab keine Selkies. Ich knallte durch, das war es. Es musste eine andere Erklärung geben. Eine logische Erklärung dafür, dass dieser Junge splitterfasernackt vor mir kauerte, mit schwarzen Seehundaugen und derselben Wunde am Körper, wie sie auch das Tier besessen hatte.
Dummerweise fiel mir keine ein.
„Ich tu dir nichts.“ Wie losgelöst von meiner Konfusion streckte ich die Arme aus. „Keine Angst. Es ist alles in Ordnung.“
Er legte den Kopf schief und sah mich misstrauisch an. In meinem Magen flatterte es. Eine Weile konnte ich nichts weiter tun, als diesen unergründlichen Blick zu erwidern. Der Junge konnte nicht älter als neunzehn sein, und trotz all dem Blut und der Angst, die sein Gesicht verzerrte, war er schön. Auf eine wilde und zugleich sanfte Art, die mich tief im Herzen berührte.
Für Momente vergaß ich selbst meine Erschütterung. Was zum Teufel war er? Was war ihm passiert?
„Ich tue dir nichts.“
Wieder rückte ich ein Stück näher. Und plötzlich berührten meine Fingerspitzen seine Schulter. Er hatte die Beine eng an den Körper gezogen und starrte mich an, als wolle er jeden Augenblick aufspringen und fliehen. Vermutlich hätte er genau das getan, wäre er dazu imstande gewesen.
Verdammt, dieses Wesen war echt. Und ich verlor gänzlich den Verstand. Wie sollte ich das meinem Vater erklären? Es war eine Sache, ein sterbendes Tier zu umsorgen. Ein ganz anderes Kaliber war es, wenn ein Mensch in unserem Schuppen starb. Wir würden Ärger bekommen. Ganz gewaltigen Ärger. Womöglich war er ein geflohener Verbrecher. Oder das Opfer eines Gewaltaktes. Und der, der ihm das angetan hatte, war soeben auf dem Weg hierher, um ihn zu erledigen – und mich gleich dazu.
Ja klar, kommentierte die zynische Stimme meiner Vernunft. Er ist nackt und schwer verletzt in den Schuppen gestolpert, hat den Seehund gehäutet, den Kadaver hinausbefördert und sich anschließend selbst auf die Decke gelegt.
Das war keinen Deut besser als die Selkie-Theorie.
„Wer bist du?“, flüsterte ich. „Woher kommst du? Was ist passiert?“
Ich erhielt keine Antwort. Natürlich nicht. Vor mir saß ein Schwerverletzter, der kurz vor einem hämorrhagischen Schock stand. Ihn mit Fragen zu löchern, war das Dümmste, was ich tun konnte.
Der Junge schauderte, als ich behutsam eine Hand an seine Wange legte. Seine Haut fühlte sich kalt an. Fast schon … nein, unmöglich. So leicht starb es sich nicht.
„Warte hier.“ Ich versuchte, meine Stimme fest klingen zu lassen. „Ich hole meinen Vater. Er wird dir helfen.“
„Kein Arzt!“, hörte ich ihn plötzlich flüstern, so leise, dass ich zunächst glaubte, nur einer Einbildung erlegen zu sein.
Doch als ich mein Ohr an seinen Mund hielt, vernahm ich es erneut: „Kein Arzt. Bitte.“
„In Ordnung.“ Die Antwort erfolgte ohne Nachdenken. „Mein Dad kennt sich ein bisschen mit Medizin aus. Er wird dir helfen.“
Kaum hatte ich es ausgesprochen, sackte der Junge zur Seite. Genau in meine Arme. Sein Körper jagte mir Schockwellen frostigen Schreckens über den Rücken, denn er fühlte sich an wie kalter Stein.
„Ich lasse nicht zu, dass du stirbst.“ Unwillkürlich hauchte ich einen Kuss auf seine Stirn. Obwohl ich Angst hatte, blutbesudelt und schwindelig vor Schrecken war, überkam mich plötzlich das seltsame Gefühl, dass mein ganzes Leben auf diesen Moment hinausgelaufen war. Er war mir fast vertraut, wie ein Déjà-vu-Erlebnis. Ich fühlte mich, als hätte mich jemand aus einem tiefen Schlaf wachgerüttelt. Oder als hätte mir jemand die Antwort auf eine brennende Frage gegeben. Nur dass ich weder die Antwort noch die Frage kannte. Noch nicht.
Ein mattes Zucken, das durch den Körper des Jungen ging, riss mich in die Realität zurück. „Ich bin gleich wieder hier“, sagte ich zu ihm. „Du wirst nicht sterben. Das verspreche ich dir.“
Für Dad schien der Junge leicht wie eine Feder zu sein, als er ihn ins Haus trug und auf das Sofa legte. Ein zweites Mal versorgte er das Schussloch. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, stürzten ihn die Geschehnisse dieses Abends nicht weniger in Fassungslosigkeit als mich.
„Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen.“ Nach getaner Arbeit wusch er sich die blutigen Hände, zog sich um und sank neben mir zu Boden. Sein blasses Gesicht und die dunklen Augenringe verrieten, wie erschöpft er war. „Sonst stirbt er uns unter den Händen weg.“
„Das können wir nicht. Er hat gesagt, dass er keinen Arzt will“, erklärte ich mit Nachdruck.
„Und warum? Hat er das auch gesagt? Vielleicht ist ihm die Polizei auf den Fersen.“
„Ganz sicher nicht.“
„Woher willst du das wissen? Verfügen wir neuerdings über telepathische Fähigkeiten?“
„Nein, aber …“ Ich seufzte und schüttelte frustriert den Kopf. „Ach verdammt, Dad. Lies doch einfach meine Gedanken. Das scheinst du doch sonst auch zu können.“
Hilflos starrte ich auf unseren Patienten hinunter. Sein Körper hatte die Schlaksigkeit der Jugend längst hinter sich gelassen und war dem eines sehnigen, durchtrainierten Mannes gewichen. Nirgendwo saß ein Gramm Fett zu viel. Doch die augenscheinliche Kraft dieses Körpers verhinderte nicht, dass der Junge in der Art und Weise, wie er vor uns lag, etwas unendlich Verletzliches ausstrahlte.
„Ich glaube, dass …“
„Ich weiß, was du glaubst.“ Dad beäugte den silbernen, an der Innenseite blutigen Pelz, der ausgebreitet auf dem Tisch lag. „Aber das ist unmöglich. Jetzt mal ernsthaft, Mari, er kann doch nicht … glaubst du wirklich, dass … so ein Blödsinn.“
Sein Blick wechselte zwischen dem Jungen und dem Fell hin und her. Nach einer Weile, in der er abwechselnd geseufzt und sich die Haare gerauft hatte, rang er die Hände wie zum Gebet. „Bei allen guten Geistern. Das ist doch irrsinnig. Meine Nase hat eindeutig zu tief in der Trompetenblume gesteckt. Hast du eigentlich die Geschichten gehört?“
„Was für Geschichten?“
„Über die Seehunde, die den Fischern ihre Netze zerbeißen. Sie sollen ungewöhnlich hell gefärbt sein. Fast wie Albinos. Vielleicht ist es auch nur ein einzelnes Tier.“
Und zwar das da, schien sein Blick zu sagen, als er sich wieder auf den Jungen heftete.
„Habe davon gehört“, murmelte ich. „Über irgendwas schwadronieren die Fischer doch immer. Kormorane, die ihnen angeblich die Beute wegfressen, Meeresmonster oder Apfelkuchen.“
Ich blickte zu dem Jungen, dann zu dem Fell, und kam mir unglaublich dämlich vor, weil ich beides miteinander verband.
„Was sollen wir denn jetzt tun, Dad?“ Wie immer, wenn ich nervös war, zog ich die Ärmel meines Pullovers lang und knüllte die Enden zwischen meinen Fäusten zusammen. „Wir müssen doch irgendwas tun.“
„Keine Ahnung. Wir können ihm nicht weiterhelfen.“
„Aber er kann nicht ins Krankenhaus.“
„Mari, er braucht einen Arzt. Egal wer er ist oder wo er herkommt, das Wichtigste ist, dass er am Leben bleibt.“
Mein Verstand stimmte zu. Der Junge brauchte Hilfe. Bessere Hilfe. Am Ende waren wir schuld an seinem Tod, nur weil wir ihm nicht das beschafft hatten, was nötig war. Aber dann sah ich sein Gesicht, seine blasse Elfenbeinhaut, sein Fell … und in mir erwachte die Gewissheit, dass niemand von ihm erfahren durfte. Dad schien ähnliche Gedanken zu wälzen, denn anstatt zum Telefon zu greifen, rieb er sich nur die Stirn und starrte ins Leere. Genauso hatte er ausgesehen, als Mum ihm vor den Kopf geknallt hatte, sie würde in ein paar Stunden nach Miami fliegen und nicht wieder zurückkommen. Wie damals schien sein graues Haar elektrisiert zu sein. Manchmal, wenn er sich besonders aufregte, stand es ihm wortwörtlich zu Berge.
„Wir sind echte Mondkälber, Mari. Das kommt davon, wenn man sich einen ganzen Dschungel an Orchideen heranzüchtet. Die ganzen halluzinogenen Dämpfe haben uns das Gehirn vernebelt.“
Dad verfiel in betroffenes Schweigen, in meinem Kopf summte es. Drüben im Gewächshaus zwitscherten die Gouldamadinen zur Lieblings-CD meines Vaters, die an kalten Wintertagen wie diesem ununterbrochen rauf und runter lief: George Winstons December. Ätherische Klavierklänge, die mich dieses Mal jedoch nicht beruhigen konnten.
Dads Grimasse nach zu urteilen, dachte er gerade an meine Mutter, die uns verlassen hatte, als ich zwölf Jahre alt gewesen war. Immer wenn sie in unseren Gesprächen auftauchte oder er zufällig über ein Andenken von ihr stolperte, sah er aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Unpassenderweise drifteten auch meine Gedanken zu ihr ab. Vielleicht war es ein Schutzreflex. Eine Art von instinktivem Suchen nach einer gedanklichen Ablenkung.
Mums Verschwinden war jetzt fünf Jahre her. Ich hatte mich an ihre Abwesenheit gewöhnt, auch wenn es Momente gab, in denen ich sie schmerzlich vermisste und aus der Ferne mit ein paar Flüchen bedachte, weil sie es sich selbst so einfach gemacht hatte. Dad hingegen trauerte ihr nach wie am ersten Tag. Mit ihren feinen Kleidern, ihrem teuren Lippenstift und der Vorliebe für das hektische Stadtleben hatte meine Mutter nie auf die Insel gepasst. Er und sie waren eine Verbindung eingegangen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen war. Was ihn glücklich gemacht hatte, hatte sie gelangweilt. Was Mum entzückt hatte, war bei ihm nur ein Grund für Kopfschmerzen gewesen. An ihren Tobsuchtsanfall, als er eines Tages mit zwölf Gouldamadinen angekommen war, erinnerte ich mich, als wäre es gestern gewesen:
„Sie scheißen alles voll! Schaff sie wieder weg!“
„Unsinn, Schatz. Sieh nur, sind sie nicht wunderschön?“
„Wenn sie die Möbel vollkacken, machst du sie sauber.“
„Sie werden uns in den Schlaf zwitschern.“
„Bestimmt übertragen sie widerliche Krankheiten.“
„Sieh sie dir doch nur mal an, Liebling. Schau, wie wunderbar sie aussehen, wenn sie auf dem Frangipangi-Busch2 sitzen. Außerdem hielt der Händler sie in einem Käfig, der kaum größer war als ein Schuhkarton. Wie hätte ich das mit ansehen können?“
„Auf sentimentale Gutmenschen wie dich sind die doch spezialisiert! Da! Gerade hat einer auf den Schaukelstuhl geschissen.“
Bis heute war meine Frage, wie die beiden je so lange hatten zusammenbleiben können, unbeantwortet geblieben. Gegensätze zogen sich an. An dieser Weisheit musste etwas Wahres dran sein. Allerdings konnte man diese auf Gegensätzen beruhende Anziehungskraft nur als flüchtig bezeichnen.
Was Mum wohl sagen würde, könnte sie uns und den Jungen jetzt sehen? Höchstwahrscheinlich hätte sie sich Gummihandschuhe anzogen, um den Pelz mit spitzen Fingern in den Müll zu befördern. Anschließend hätte sie die Polizei gerufen, damit sie den zweifellos gefährlichen nackten Wilden einsacken, der es im Falle ihrer Anwesenheit niemals bis ins Wohnzimmer geschafft hätte.
Vorsichtig berührte ich das silberne Fell. Jetzt, wo es ein wenig trockener war, fühlte es sich wie Samt und Seide an. Überwacht von Dads Argusaugen, ließ ich meine Hand zu dem schlafenden Jungen hinüberwandern und streichelte sein Haar. Weich fühlte es sich an, wie der Pelz. Die Locken schimmerten im Blau des nächtlichen Meeres und gingen mit der Haut, die an blasses Perlmutt erinnerte, eine wunderbare Symbiose ein. Perfektion war mir immer langweilig erschienen. Abgestumpft und jeder Besonderheit entbehrend. Doch jetzt wurde ich eines Besseren belehrt. So wie ihn mochte man sich Fabelwesen vorstellen. Scheue, wilde Geschöpfe, erschaffen von den Fantasien der Menschen. Eine Verkörperung all ihrer Sehnsüchte und Hoffnungen. Wer immer das Geschick auf Erden lenkte, ich verfluchte ihn für seine Grausamkeit.
Konnte denn kein Wunder geschehen, das sein Leben rettete?
Zäh fließende Zeit schien bis zum Stillstand zu gerinnen. Weil mir nichts Besseres einfiel, ging ich an den Computer, räumte Papierstapel und Kaffeebecher beiseite und rief Google auf. Mein Herz klopfte, als ich zu tippen begann. Hinter mir hörte ich Dad jammern und leise fluchen. Bis jetzt war mir nicht klar gewesen, dass ihm Umschreibungen wie verdammte Hundekacke, Bockmist und hirnverbrannte Scheiße geläufig waren.
„Weiß du was?“, sagte ich über die Schulter hinweg.
„Was?“
„Du hast recht. Das Wichtigste ist, dass er nicht stirbt. Aber ruf unseren Hausarzt an, nicht das Krankenhaus.“
„Okay.“ Ich hörte, wie er hochfuhr und nach dem Telefon griff. Mir war nicht wohl dabei, aber ohne professionelle Hilfe würde der Junge nicht überleben. Es musste sein. Gut möglich, dass er einfach nur ein Mensch war. Seltsam, aber normal. Ja, das war sogar das Wahrscheinlichste. Wir befanden uns hier in der Realität, nicht in einem Märchen. Und falls es sich bei unserem Patienten tatsächlich um ein außergewöhnliches Wesen handelte, würden wir unseren guten alten Hausarzt hoffentlich davon überzeugen können, den Mund zu halten.
Während Dad eine knappe, verharmlosende Beschreibung in das Telefon blaffte, widmete ich mich wieder dem Computer.
Se …
Der Cursor blinkte spöttisch. Was in aller Welt war los mit mir? Begann ich jetzt endgültig zu spinnen?
Selk…
Ich dachte an meine Großmutter. Sie war ein besonderer Mensch gewesen. Eine Fischerfrau, wie sie im Buche stand, verliebt in die See und in die Legenden, die der salzige Wind erzählte. Sie hätte nicht über meine Anwandlungen gespottet, sondern mir auffordernd zugelächelt.
Werfe einen Blick in fantastische Welten. Glaube mir, die Geschöpfe aus unseren Märchen sind noch immer da draußen. Und je nachdem, ob wir uns ihre Achtung verdienen oder nicht, sind sie unser Segen oder unser Fluch.
Hinter mir bekam Dad einen Tobsuchtsanfall.
„Nein“, hörte ich ihn brüllen. „Das können wir nicht. Warum würde ich Sie sonst anrufen? Also beeilen Sie sich gefälligst.“ Er stutzte, als sei er überrascht von seinem eigenen barschen Ton, und setzte reumütig hinzu: „Danke. Tut mir leid. Bis gleich.“
Ich seufzte und tippte die letzten beiden Buchstaben ein.
Selkie.
Na wunderbar. Wenn das nichts über meine geistige Verfassung aussagte. Während Dad sich mit einem Stoßseufzer auf das freie Ende des Sofas setzte und den Jungen aus Eulenaugen taxierte, ging ich in die Küche, setzte Kaffee auf und kochte Kamillentee. Wenn unser Patient wach wurde, musste er unbedingt etwas trinken.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte und die Teekanne auf den Tisch stellte, sah ich, dass er tief und fest schlief. Sein Atem ging ruhig, der Puls am Hals schlug gleichmäßig und schien kräftiger geworden zu sein. Ich wagte nicht, das als Anlass zur Hoffnung zu nehmen.
„Das wird schon“, murmelte Dad. „Ganz bestimmt.“
„Hmm“, brummte ich zurück. Ich hätte meinem Vater gerne zugestimmt, aber nüchtern betrachtet, lag ein schwer verletzter Mensch in unserem Wohnzimmer und war drauf und dran zu sterben. Vermutlich würde der Arzt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und uns augenblicklich die Polizei auf den Hals hetzen. Er mochte ein Freund meines Vaters sein, doch für das Vertuschen einer Straftat reichte die Freundschaft höchstwahrscheinlich nicht aus. Das Gericht würde uns unterlassene Hilfeleistung ankreiden. Die Beherbergung eines Verbrechers. Fahrlässige Tötung. Vielleicht sogar Mord.
Ein Blick auf den Jungen ließ mich den Kopf schütteln. Unsinn. Ein Verbrecher war er definitiv nicht.
Andererseits konnte man das vom Äußeren her natürlich nicht einschätzen.
Ich schalt mich eine Närrin. Der Eindruck von Unschuld und Reinheit beruhte schlicht und einfach auf den oberflächlichen Reizen dieses Jungen. Darauf durfte ich rein gar nichts geben.
Mit vor der Brust verschränkten Armen setzte ich mich auf die Sofalehne und lauschte. Wellen brandeten draußen gegen die Klippen. Der Wind heulte unter dem Dach, wie ich es normalerweise liebte, doch diesmal erinnerte mich sein Klagen an die Melodie zu Spiel mir das Lied vom Tod. Laut dem Wetterbericht von heute Nachmittag würde der Sturm in etwa zwei Stunden Schneefälle bringen und Westray unter einer Schicht aus weißer Kälte begraben. Warum musste ich bei dieser Aussicht an ein Leichentuch denken?
„Stirb nicht!“, befahl ich dem Jungen und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf ihn. „Ich werde wirklich sauer, wenn du stirbst. Wir haben auch so schon genug Sorgen am Hals.“
Das stimmte allerdings. Die Gärtnerei meines Dads in Pierowall lief nicht besonders gut. Unsere Einnahmen reichten gerade aus, um die Schulden abzuzahlen und mehr schlecht als recht über die Runden zu kommen. Mein Traum war es, nächstes Jahr nach dem Schulabschluss in das Geschäft meines Vaters einzusteigen, doch wenn sich die Zahlen der Gärtnerei nicht deutlich verbesserten, würde mein Traum zerplatzen wie eine Seifenblase. Wie sagte man so schön? Ein Unglück kommt selten allein.
Ich sah, wie die Augäpfel unter den Lidern des Jungen zuckten. Seine Lippen waren fest zusammengepresst und bewiesen mir, dass er selbst im Schlaf Schmerzen verspürte. Am liebsten hätte ich ihn in die Arme genommen, um sämtliches Leiden von ihm fernzuhalten.
Was für ein blödsinniger Gedanke.
Seufzend kehrte ich an den Computer zurück. Die Suchmaschine präsentierte mir sage und schreibe zweihundertachtunddreißigtausend Einträge zum Suchwort Selkie.
Kurz entschlossen hastete ich noch einmal in die Küche. Als ich mit einem vollen Kaffeebecher ins Wohnzimmer zurückkehrte, stolperte ich über einen von Dads Pullovern. Ein Schwall des heißen Gebräus schwappte zielgenau auf meine Hand.
Verdammt, dieses Haus war das pure Chaos.
Zuerst waren es nur ein paar herumliegende Bücher und CDs gewesen, doch inzwischen glich unser Heim einem atomaren Testgelände. Zwischen bunt zusammengewürfelten Möbeln standen Bücherstapel, die bei der kleinsten Erschütterung umzufallen drohten. Auf den Regalen und Fensterbrettern reihten sich Pflanzen in allen Wachstumsstadien aneinander, während der Boden beinahe gänzlich unter herumliegenden Klamotten und leeren Pizzaschachteln verschwand. An den moosgrün gestrichenen Wänden wetteiferten gerahmte Fotos von Orchideen darum, die dickste Staubschicht tragen zu dürfen, und in einer gut zweihundert Jahre alten Vitrine tummelten sich Dads selbstgebastelte Buddelschiffe.
Sofern der Junge wieder aufwachte, würde sein erster Eindruck miserabel ausfallen. Und verwundert, denn mein Vater und ich waren ein merkwürdiges Gespann. Wer mich sah, dachte an einen dürren, scheuen Rotfuchs, und wer meinen Vater sah, an einen primitiven Grobmotoriker mit den Ausmaßen eines gemästeten Brauereipferdes. Jeder war verblüfft, sobald er erfuhr, dass er ein klassikvernarrter Gärtner war, der in Tränen ausbrach, weil seine Laelia lobata eine neue Blüte hervorgebracht hatte. Und dass ich leidenschaftlich Butterkekse, Torten und Desserts verspeiste, getrieben von der Hoffnung, etwas rundlicher und weiblicher zu werden.
„Also gut.“ Ich knackte mit den Fingern und rief die erstbeste Seite auf. „Was haben wir denn da? Selkies sind insbesondere auf den Orkneys und den Shetland Inseln anzutreffen.“ Ich konnte Mums spöttisches Schnaufen hören, obwohl sie sich vermutlich gerade am anderen Ende der Welt die Fußnägel fliederfarben lackierte. „Man nennt sie auch Seehundmenschen. Tagsüber schwimmen sie in Tiergestalt durch das Meer, nachts legen sie ihre Haut ab und werden zu Menschen. Während manche Legenden behaupten, Selkies brächten armen Fischern mit ihrem Gesang reiche Beute und beschützten aufrichtige Menschen vor den Gefahren der See, wissen andere Geschichten zu berichten, es seien heimtückische, boshafte Geschöpfe, die nichts als Tod und Verderben im Sinn hätten. Weibliche Selkies sind von erlesener Schönheit, wobei männliche Selkies eher untersetzt und unansehnlich daherkommen.“
Ich wandte mich um. Hässlich war unser Fund nun wirklich nicht. Aber das bewies oder widerlegte gar nichts. Mit hochrotem Kopf widmete ich mich wieder dem Bildschirm, während Dad hinter mir zu schnarchen begann.
„Die Legende weist Ähnlichkeiten zu den Erzählungen über die japanischen Himmelsfeen auf, welche vom Himmel herabsteigen und ihr Kleid ablegen, um als Mensch zu leben. Ohne dieses Kleid ist es ihnen unmöglich, in den Himmel zurückzukehren. Stirbt ein Selkie in Menschengestalt, kann man ihn wieder zum Leben erwecken, indem man seinen Körper dem Meer übergibt. Er verwandelt sich in einen Seehund, verliert jedoch die Fähigkeit, wieder zum Menschen zu werden. Weint eine Menschenfrau sieben Tränen ins Meer, entsteigt dem Wasser ein Selkiemann und gehört für eine Nacht lang ihr.“
Wie aufregend! Erneut warf ich einen Blick auf den Jungen. Seine Lippen bewegten sich, als würden sie Worte formen, doch zu hören war nichts. Mit klopfendem Herzen wandte ich mich um und las weiter.
„Der Selkiemann wird sie beglücken, wie es kein Mensch vermag, doch nimmt er am nächsten Morgen die Erinnerung an ihn mit ins Meer zurück.“
Nachdenklich zwirbelte ich eine Haarsträhne. Entsprächen diese Geschichten der Wirklichkeit, säßen wohl viele Frauen Zwiebeln schneidend an irgendwelchen Stränden, in der Hoffnung, ein schöner Liebhaber möge den Wellen entsteigen. Stand das nicht im Gegensatz zu der vorherigen Behauptung, männliche Selkies seien hässliche Kreaturen? Was davon entsprach denn nun der Wahrheit? Und warum redete ich angesichts dieser Märchen überhaupt von Wahrheit?
Mir schwirrte der Kopf. Ich brauchte eine Auszeit. Über die restlichen zweihundertsiebenunddreißig Ergebnisse würde ich mich später hermachen.
Wenn der Arzt uns verließ und der Junge weder gestorben noch in ein Labor verschleppt worden war.
Erschöpft plumpste ich in die grün-braun karierten Polster meines Lieblingssessels. Der Atem unseres Patienten ging unruhig. Seine Halsschlagader schwoll an, seine Hände, die jetzt auf der Decke lagen, zuckten wie unter Stromschlägen. Während Dad ganze Wälder absägte, suchte ich in meinem Kopf nach den passenden Worten für den Arzt, der jeden Moment hier auftauchen konnte: „Ich weiß, es sieht übel aus, aber wir können ihn nicht in ein Krankenhaus bringen. Er ist nämlich ein halber Seehund. Wie wäre es, wenn Sie sich einfach hier um ihn kümmern und anschließend vergessen, dass Sie hier waren? Wäre das okay?“
Ja, ganz fantastisch. Zog ich ernsthaft in Erwägung, er könnte kein Mensch sein? Ich hatte den Seehund gesehen. Einen sehr ungewöhnlichen Seehund. Und ich hatte den nackten Jungen mit dem Fell vor mir kauern sehen. Seine Wunde war genau an der Stelle, an der auch das Tier verletzt gewesen war. Wie sollte man so etwas rational erklären?
Herrgott, ich brauchte Schlaf. Vielleicht schlief ich auch längst und träumte mir diese Wirklichkeit zusammen. Als hätte mein Körper nur darauf gewartet, dass ich die Augen schloss, driftete ich augenblicklich in zähe Schwärze ab. Für einige Momente vergaß ich alles um mich herum, bis ein Poltern mich hochfahren ließ.
„Was zum …?“
Alles, was ich sah, war ein heller Schatten, der sich das Fell vom Tisch schnappte und hinüber zur Haustür huschte. Und zwar mit einer Schnelligkeit, die das vorherige Delirium Lügen strafte. Der Junge griff nach der Klinke, drückte sie herunter und fand die Tür verschlossen vor. Ich hörte ein tiefes Knurren. Dann einen kehligen Laut, der von blanker Panik und schäumender Wut zeugte. Dad sprang wie von der Tarantel gestochen hoch. Der Fremde warf sich gegen die Tür, rüttelte an der Klinke, fuhr herum und stürzte zum Fenster hinüber. Er hatte es bereits geöffnet, als Dad ihn von hinten packte und zurückzog. Es war, als versuchte er, eine Wildkatze im Zaum zu halten. Das Fell fiel zu Boden. Fauchend zappelte der Junge im Griff meines Vaters. Er zog, zerrte und riss derart an seinen Armen, dass mir angst und bange wurde. Die Laute, die ihm während des Kampfes entflohen, waren nicht menschlich. In ihm grollte der Zorn eines wilden Tieres.
Obwohl Dad größer und um vieles fülliger als sein Gegner war, vermochte er ihn kaum zu bändigen. Irgendwann, als sein Griff unter dem Ansturm der Gegenwehr erschlaffte, sank zu meiner Erleichterung auch der Junge in sich zusammen.
Beim schuppigen Kelpie, mein Vater lag allen Ernstes auf dem Boden, mit einem nackten Kerl in seinen Armen, während ich zur Salzsäule erstarrt dastand.
Fehlte nur noch, dass genau jetzt der Arzt auftauchte.
Kalter Sturmwind pfiff mir ins Gesicht und fegte die Notizen auf dem Schreibtisch durcheinander. Ich musste träumen. So idiotisch konnte die Realität nicht sein.
„Ich tue dir nichts“, japste Dad. „Du kannst aber nicht einfach verschwinden. Du bist verletzt. Ich kann dich so nicht gehen lassen.“
Der Junge bleckte die Zähne. Er starrte zuerst meinen Vater an, dann mich, und schleuderte uns mit seinem Blick eine solch panische Wut entgegen, dass mir eiskalt wurde.
„Geh weg von mir!“, fauchte er. „Lass mich los!“
Dads Griff lockerte sich. Der Junge sprang auf, schnappte sich das Fell und sah mich an. Plötzlich kam es mir vor, als zweifelte er an seinem Fluchtplan. Verwirrung trat in seine Augen, und etwas wie … Wehmut? Nein, ich musste mich irren. Er hasste uns und hatte Angst. Alles, was er wollte, war die Flucht.
„Wohin willst du gehen?“, fragte ich. „Du hast ja kaum genug Kraft, um aufrecht zu stehen.“
Humpelnd wich der Junge zurück. Irgendetwas war geschehen, das ihn gebrochen hatte. Sein Blick war der eines Menschen, der gelernt hatte, niemandem zu vertrauen.
„Du willst wirklich gehen?“ Sein Anblick zerriss mir schier das Herz. „Bist du dir ganz sicher?“
„Lass mich raus“, forderte er.
„Gut. Okay.“
Es kostete ungeheure Mühe, zur Tür hinüberzugehen, sie aufzuschließen und beiseite zu treten. Salziger Wind brauste herein. Aromatisiert vom winterkalten Meer.
Der Junge atmete tief ein, ohne seinen Blick von mir zu nehmen. Langsam wich der Zorn aus seinen Augen. Sie wurden warm und sanft wie das stille Meer in einer Sommernacht. Er musterte mich von Kopf bis Fuß, bis mein Gesicht so heiß glühte, dass ich glaubte, es müsse platzen wie ein zu prall aufgeblasener Ballon.
„Danke“, hörte ich ihn flüstern, dann rannte er davon. Hinaus in den Sturm.
Ich starrte ihm hinterher, bis die Finsternis ihn verschluckte. Er war zum Meer hinuntergelaufen. Warum überraschte mich das nicht? Vielleicht waren die alten Legenden wahr. Vielleicht war mir in dieser Nacht ein Selkie begegnet, und die Magie, derentwegen ich die Märchen des Nordens so liebte, war Wirklichkeit geworden.
„Na wunderbar.“ Lautlos wie ein Geist tauchte Dad neben mir auf und nickte hinüber zu den Hügeln, über die sich die tastenden Finger zweier Scheinwerfer kämpften. „Was erzählen wir denn jetzt dem Doktor?“
Pierowall, am Tag danach
Behutsam rieb ich die Blätter der Indischen Gewürzrinde zwischen meinen Fingern. Ein Duft nach gerösteten Nüssen strömte hervor, dessen Intensität unübertrefflich war. Diese Pflanze war zu Unrecht kaum bekannt. Ihre gelben Blüten strahlten tropische Lebensfreude aus, ihr Duft war betörend. Von der Gewürzrinde ging ich hinüber zu den tropfenden Palmen und atmete das Aroma nasser Erde ein. Schließlich landete ich bei den Orchideen, vertiefte mich im Studium ihrer filigranen Blüten und versuchte, meine Sorgen auszusperren. Vergeblich. Wieder und wieder durchlebte ich in Gedanken den vergangenen Abend.
Der Arzt hatte Dad mit einer Tirade aus Flüchen überschüttet. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Spät in der Nacht bei angekündigtem Schneesturm von Pierowall in unser Dörfchen zu fahren, nur um mit den Worten „Tut mir leid, war ein Irrtum“ wieder zurückgeschickt zu werden, war eine harte Nuss.
Ob der Junge noch lebte? War er wirklich in das Meer gegangen?
Ein Selkie. Ein lebendes Fabelwesen. Beim heiligen Kelpie, wenn das so war, würde das die gesamte Welt der Wissenschaft auf den Kopf stellen. In jedem Märchen konnte ein wahrer Kern liegen, Unmögliches wäre möglich. Und es bedeutete noch etwas anderes. Seehundmenschen waren magische Wesen, welche die Macht des Meeres nutzen konnten, um sich zu heilen. Sie waren gar magisch genug, um nach dem Tod ins Leben zurückzukehren.
Wenn man den Legenden glauben wollte …
Während draußen der Schneesturm tobte, wanderte ich in Gedanken versunken weiter und schnupperte am Lebkuchenbaum, dem Eukalyptus und dem weiß blühenden Stern-Jasmin. Ich schwelgte im Duft der Orchideen und der cremegelben Ylang-Ylang-Blüten, tauchte meine Nase in die zarten Blüten malvenfarbener Rosen und seufzte in der süßen Wolke, die den rot blühenden Frangipangi-Busch umgab. Fleischige Beeren glänzten an den Zweigen des Pfefferbaumes, Nässe tropfte von den Wedeln der Dschungelpalmen. Wenn wir es uns hätten leisten können, wären Dad und ich durch sämtliche Regenwälder dieser Welt gewandert, hätten alle tropischen Inseln durchkämmt und jedes abgeschiedene Tal erforscht, um neue Kostbarkeiten zu entdecken. Nicht um sie hierher zu schaffen, sondern um sie einmal in ihrer wahren Heimat gesehen zu haben.
Das Gewächshaus der Gärtnerei glich dem unseres Hauses bis auf das kleinste Detail, abgesehen von der Tatsache, dass hier keine Gouldamadinen umherflatterten und auf die Blätter des Bananenbaumes kackten.
Wie bei uns stand ein Sofa unter einem von feuerfarbenen Kletterrosen überwucherten, schmiedeeisernen Bogen. Aus unsichtbaren Lautsprechern ertönte klassische Musik, auf einem Beistelltisch in marokkanischem Stil standen hübsch angerichtet eine Keksschale und eine Kanne mit indischem Gewürztee. Es gab Kunden, die nur hierher kamen, um auf dem Sofa auszuspannen und in den Farben und Düften zu schwelgen. Manche kamen sogar ausschließlich deshalb hierher.
Dad und ich hatten der Tatsache schon vor langem ins Auge gesehen: Westray war ein schlechter Ort für eine auf exotische Pflanzen spezialisierte Gärtnerei. Die Menschen auf der Insel mochten das einfache Leben. Sie verzichteten auf Überflüssiges und beschränkten sich auf das Praktische. So sehr wir unsere tropischen Kostbarkeiten liebten, so überflüssig erschienen sie den meisten Menschen hier. Am besten liefen Nordmanntannen, Grabgestecke und Weihnachtssterne.
„Schon wieder ganz in schwarz?“
Erschrocken hob ich meine Nase aus den weißen Blütenstauden des Orangenjasmins. Olivia kam auf mich. Sie war die einzige Mitarbeiterin in der Gärtnerei und gleichzeitig auch die engste Vertraute meines Vaters. Wie sie da stand, mit ihrer roten Schürze und den kecken blonden Locken, sah sie wie eine jugendliche Meg Ryan aus, obwohl sie bereits auf die Vierzig zuging. In ihrer Gegenwart ging Dads Beschützerinstinkt regelmäßig mit ihm durch, doch wie er mehrmals betont hatte, kam sie als Partnerin für ihn nicht in Frage. Mir war schleierhaft, warum. Er hatte seine Entscheidung niemals begründet, es sei denn, man ließ ausweichende Antworten wie „das ist eben so“ oder „keine Ahnung“ gelten. Olivia war hübsch, geistreich und humorvoll. An fehlendem äußerem und innerem Charme konnte es nicht liegen. Vermutlich wollte mein Vater grundsätzlich keine Partnerin. Eine Vorsichtsmaßnahme, die weitere Verletzungen verhindern sollte. Dad war seit Mums Verschwinden wie eine fest verschlossene Auster, aber ich konnte es ihm nicht verübeln.
„Wie lange willst du noch als Maulwurf herumlaufen?“ Olivia zeigte ihr süßestes Kleinmädchen-Grinsen. „Du solltest mal Farbe bekennen. Ein hübsches Mädchen wie du sollte seinen Typ unterstreichen. Blau würde fantastisch zu deinem roten Haar und zu deinen grünen Augen passen.“
„Ich mag es aber eben so.“ Pikiert sah ich an mir herunter. Schwarze Cordhose, schwarzer Rollkragenpullover, dunkelbraune Schuhe. Was war daran falsch? „Dieses Outfit harmoniert mit dem Winter. Vor allem mit dem Winter auf dieser Insel. Ich will mich nicht wie ein greller Papagei fühlen, okay? Wir sind hier auf den Orkneys, nicht in Miami. Sollen einfache Gemüter von mir aus herumlaufen wie Bollywood-Weihnachtsbäume, ich mache da nicht mit.“
„Einfache Gemüter?“ Olivia schnalzte missgünstig mit der Zunge. „Wer hat denn da gerade arrogante Höhenflüge?“
„Das hat nichts mit Arroganz zu tun. Und auch nichts mit Düsternis oder Depressionen. Ich trage bunte Sachen. Im Sommer.“
„Na ja, wenn du Braun, Khaki und Beige zu bunt zählst.“ Anscheinend befand sich Olivia auf Konfrontationskurs. „Weißt du, Mari, du bist wie diese Samen.“ Sie nahm eine der getrockneten Kapseln aus dem Bastkorb, die wir als Zierrat verkauften. Im Hintergrund trat mein Vater fluchend gegen den Stamm eines Orangenbaumes und hüpfte anschließend, einen Daumen in den Mund gesteckt, ein paar Mal auf der Stelle.
„Du keimst und wächst im Dunkeln. Kommt die richtige Zeit, sprengst du deine schützende Hülle und erblühst. Pass nur auf. Bald kommt der Richtige. Dann wirst du begreifen, was es heißt, zu leben.“
„Was wäre die Welt nur ohne gut gemeinte Tipps und wohlwollende Ratschläge?“ Ich rollte mit den Augen, marschierte zum Erste-Hilfe-Kasten und verarztete meinen Vater. Sein Daumen sah aus wie ein Patchwork-Gebilde, erschaffen aus den zahllosen Verletzungen seiner achtunddreißigjährigen Gärtnerarbeit. Der neue Schnitt war lang, aber nicht allzu tief. Tapfer unterdrückte er sowohl die Flüche als auch das Jammern, während ich behutsam ein Pflaster anlegte.
„Was wäre ich nur ohne dich?“ Liebevoll tätschelte er mir nach Vollendung meiner Arbeit die Schulter. „Hört zu, bringt noch schnell die Kokoserde rein, dann machen wir alles dicht. Heute kommt doch sowieso keiner mehr her.“
Olivia und ich nickten synchron, während Dad mit wehender Schürze in den überdachten Freibereich hinauslief. Draußen wurde der Schneefall heftiger. Ich konnte kaum mehr die Schiffe im Hafen sehen. Verwehungen türmten sich höher und höher, obwohl es erst früher Nachmittag war. In Momenten wie diesen, wurde mir deutlicher als sonst bewusst, dass wir auf einer kleinen Insel im hohen Norden lebten, und damit für die meisten Menschen am Ende der Welt.
Während die Fenster der Gärtnerei sich mit Eisblumen schmückten und der Wind klagte, ertönte aus den Lautsprechern The Flower Duet aus der Oper Lakmé. Eines meiner Lieblingsstücke. Die tragische Liebe zwischen der Tochter eines indischen Brahmanenpriesters und einem englischen Offizier, verurteilt zum Scheitern und doch unzerstörbar in ihrer Schönheit. Mir wurde flau im Magen.
„Erde an Mari?“ Olivia stupste mich an. „Hey, alles in Ordnung?“
„Ja.“ Ich rieb mir mit den Fingern die Schläfen. Im Geiste sah ich wieder die Augen des Jungen vor mir. Schwarz und glänzend wie Onyxe. Seehunde blickten immer traurig, als wüssten sie um das bittersüße Drama des Daseins, und genau diese wissende Traurigkeit hatte ich auch in ihm wiedererkannt.
„Alles bestens“, murmelte ich.
„Bist du dir sicher?“
„Ja, und jetzt komm. Wir müssen uns mit der Erde beeilen, sonst kommen wir gar nicht mehr nach Hause.“
„Ihr seid es, die bei diesem Sauwetter noch fahren müsst. Bleibt doch hier. Ryan und ich haben mehr als genug Platz.“
„Das ist nett. Aber lieber nicht.“
„Ich weiß. Ihr seid Einsiedlerkrebse. Bleibt dabei, solange es euch glücklich macht. Was habt ihr übrigens an Weihnachten angestellt?“
Ich wollte gerade antworten, als sie mir einen Finger auf die Lippen legte. „Lass mich raten. Ihr habt gelesen, Musik gehört und Pflanzen betüddelt. Allein.“
„Ja.“
„Wie geht’s den Vögeln?“
„Bestens.“
„Und wie geht es Andreas? Hat er immer noch so viel Pech?“
Ich seufzte. Andreas war ein alter Fischer, der kaum mehr etwas fing und in Armut versank, ohne jemals ein Wort der Klage zu verlieren. Neben Olivia und meinem Dad war er der einzige Mensch, mit dem ich gerne und oft redete. Wir waren so gesehen Nachbarn, nur fünf Kilometer Luftlinie voneinander entfernt. Ich war seit zwei Wochen nicht mehr bei ihm gewesen. Eigentlich unverzeihlich.
„Du kennst ihn doch“, sagte ich. „Es geht ihm miserabel, aber wenn du ihn fragst, grinst er nur und schenkt dir Whisky ein.“
„Ich hoffe, das gilt nur für Thomas. Wart ihr mal wieder mit ihm draußen?“
„Nein. Aber vielleicht morgen. Wenn es so weiterschneit, kommen wir sowieso nicht in die Stadt.“
Der Gedanke besaß eine wilde Verführungskraft. Ich würde zusammen mit Andreas und Dad hinaus auf das Meer fahren. Hinaus zu den Seehunden und zu meinem Selkie. Meine Güte, was war ich nur für eine Träumerin! Aber selbst, wenn Fabelwesen nicht existierten, war es wundervoll, mit dem klapprigen Kutter über die Wellen zu reiten. Hin zum Horizont und weg von allen Sorgen. Auf dem Meer war alles fern. Unsere Geldsorgen, Dads Liebeskummer und meine Angst vor der Zukunft.
„Ich würde euch gerne mal wieder besuchen.“ Olivia trat von einem Bein auf das andere. „Sobald das Wetter sich normalisiert hat.“
„Wegen der Vögel oder wegen Dad?“
„Ach bitte.“ Sie wurde knallrot und wuschelte mir durch das Haar. „Hör auf damit. Wenn ihr wirklich noch nach Hause wollt, solltet ihr euch beeilen. Es wird nicht besser da draußen.“
„Glaubst du an Selkies?“ Es rutschte mir einfach so heraus. Unheilvoll schwebten die Worte zwischen uns. Doch statt spöttisch zu lächeln, begannen Olivias Augen zu funkeln.
„Natürlich“, rief sie entschlossen aus. „Jeder hier glaubt daran. Auf den Orkneys sind Selkies allgegenwärtig.“
„Hast du jemals einen gesehen?“
„Nein. Ich habe jede Menge Seehunde gesehen, aber nie einen, der sich das Fell ausgezogen hat. Als Kind musste ich mal bewusstlos aus dem Wasser gezogen werden, weil ich versucht hatte, mich in einen Selkie zu verwandeln. Es ist so eine schöne Legende. Man schlüpft in die Haut eines Tieres und schon zählt nur noch eines: Das Leben. Ich nahm damals das räudige Fell aus unserem Keller, rannte ins Meer und scheiterte. Es war das erste Mal, dass meine Eltern mir den Hintern versohlten.“
„Hast du mal einen silbergrauen Seehund gesehen?“, fragte ich. „Einen Großen, Schlanken ohne Flecken?“
„Nein.“ Olivias Blick wurde seltsam, ohne dass ich es deuten konnte. „Du etwa?“
„Ja. Ich meine nein. Ach, keine Ahnung, was ich gesehen habe. Lass uns lieber die Erde reintragen.“
„Du glaubst also an Selkies?“
„Vielleicht“, antwortete ich.
„Aber das ist ein Märchen.“
„Vielleicht.“
„Selkiefrauen sollen wunderschön sein.“ Olivia wich meinem Blick aus. „Selkiemänner leider weniger.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher.“
„Nein, meine Liebe. Selkiemänner sind ungeheuer stark, aber grauslich anzusehen. Wie auch immer, wenn du das Fell eines Selkies findest und es vergräbst, muss er sieben Jahre bei dir bleiben. Er wird dem Meer sieben Tränen nachweinen, doch wenn du es schaffst, die Liebe in ihm zu wecken, gehört er für immer dir.“
Hitze schoss in meine Wangen. Ich hätte nur sein Fell vergraben müssen und er wäre nicht hinaus in die Nacht geflohen. Er wäre bei mir geblieben, sieben Jahre lang. Wenn man an solche Märchen glaubte.
Ich wandte mich ab und roch an einer himmelblauen Hyazinthe. „Was weißt du sonst noch? Ich meine über Selkies.“
„Nicht viel. Sie können dir einen Wunsch erfüllen. Sie singen unter Wasser, weil Gesang im Wasser besser geleitet wird. Manchmal sitzen sie nachts auf Felsen und leiten verirrte Fischer mit ihren Liedern zurück auf den richtigen Weg. Sie sind geboren, um frei zu sein, deshalb ist es gefährlich, ihr Fell zu nehmen. Finden sie es wieder, kehren sie zurück ins Meer und nehmen deine Seele mit. Es sei denn, man schafft es, dass sie einen lieben. Dann liegt dir das Glück ewig zu Füßen.“
Ich starrte sie mit offenem Mund an. Es war bezaubernd, darüber zu reden. Doch wie ein eisiger Strudel sickerte die Befürchtung, der Junge könnte längst tot sein, durch meine Verzückung.
„Was würdest du sagen“, begann ich vorsichtig, „wenn ich dir erzähle, dass ich einen gesehen habe?“
Olivia lächelte ihr Kleinmädchenlächeln. Sie fuhr sich durch den Wust blonder Locken und zuckte mit den Schultern. „Gefällt er dir?“
„Was?“ Mein Herz begann zu klopfen. „Wie jetzt?“
„Dein Selkie. Gefällt er dir?“
„Ja.“ Ich wusste, dass Olivia mir nicht glaubte. Es machte ihr nur Freude, fantasievolle Fäden zu spinnen. „Aber er ist weg.“
„Dann ist es zu spät. Sollte er dir noch einmal begegnen, stehle sein Fell und vergrabe es. Und zwar so, dass er es nicht wiederfindet.“
„Aber dann wäre er mein Gefangener.“ Der Gedanke gefiel mir nicht. „Ich würde nicht wollen, dass er unfreiwillig bei mir ist.“
„Wenn das so ist, hör besser auf zu träumen.“ Olivia schnalzte mit der Zunge. „Freiwillig bleibt ein Selkie niemals an Land. Komm, wir müssen uns beeilen. Sonst schafft ihr es nie nach Hause.“
Wie der Schwur gebrochen wurde
„Um meine Lippen lag dein nasses wildes Haar,
um deine Schulter lag mein Arm gezogen,
Hast du denn Furcht vorm offnen Meere?
Es peitscht dich warm. Komm bald, komm bald.
im Hafennebel tanzt die Fähre.
Hinaus! Hinaus!“
Richard Fedor Leopold Dehmel
~ Louan ~
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