Christian Eisert
Viele Ziegen und
kein Peter
Eine Ferienfahrt zu den Schweizern
ullstein extra
Das Buch
Schneebedeckte Berge, dunkle Tannen, grüne Wiesen im Sonnenschein – die Schweiz ist Idylle pur. Außerdem mischte sie jahrhundertelang in jedem Krieg Europas mit, führte legale Prostitution Jahrzehnte vor dem Frauen-wahlrecht ein und verminte noch bis vor kurzem ihre Brücken nach Deutschland. In dem Land, das kleiner ist als Niedersachsen, sind die Gegensätze groß. Und die Menschen großartig – findet jedenfalls Christian Eisert, nachdem er sie auf Ziegenausstellungen, im Kloster oder in unterirdischen Verstecken besuchte. Jeden Tag an einem anderen Ort, jede Nacht in einem neuen Bett behält er stets seinen Plan im Blick, das Wort „Schweiz“ abzureisen. Das Vorhaben droht zu scheitern. Bis sich ihm eine echte Eidgenossin anschließt …
Der Autor
Christian Eisert, geboren 1976 in Berlin (Ost), ist TV-Autor, Satiriker und Comedy-Coach. Er war acht Jahre Autor für Harald Schmidt und schreibt für die Fernsehshows Alfons und Gäste und Grünwald Freitagscomedy sowie für Shopping Queen und Löwenzahn. Sein Reisebericht Kim und Struppi stand über ein Jahr lang ganz oben in der Spiegel-Bestseller-Liste.
www.christian-eisert.de
Christian Eisert
Viele Ziegen und
kein Peter
Eine Ferienfahrt zu den Schweizern
ullstein extra
Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein-buchverlage.de
Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.
Hinweis zu Urheberrechten
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.
Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem Buch befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
ISBN 978-3-8437-1333-7
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016
Covergestaltung: semper smile München
Covermotiv: © Javier Brosch; Vaclar Volrab; Sebastian Knight; Severe tanshtyl/Shutterstock
Karte: Peter Palm
E-Book (A02): Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Für C.
7,587
Punktezahl der Schweiz im World Happiness Report
Den Rüssel aufgestellt, Vorder- und Hinterbeine in entgegengesetzte Richtungen gestreckt, sprang ein Elefant über den See.
Ich kniff die Augen zu. Ins linke war mir eine der vielen Hundert Fliegen geflogen, die mich umschwirrten.
Als ich wieder sehen konnte, war aus dem Elefanten eine Kaffeekanne geworden. Der Wind spielte mit den Wolken.
Die spätsommerliche Wärme war frühherbstlicher Frische gewichen. Bald würde ich frieren. Ich hatte ja nichts an. Trotzdem war ich glücklich.
Barfuß bahnte ich mir den Weg durchs Dickicht.
Ein Spinnennetz legte sich über mein Gesicht, ich wischte es fort. Die Fliegen nahmen vor meiner Hand Reißaus und kehrten zurück. Eine schwarze brummende Wolke, die stetig auf Kopfhöhe blieb. Roch ich halsabwärts anders?
Dornensträucher machten das Durchkommen fast unmöglich. Auf beiden Seiten ging es abwärts. Zurück wollte ich nicht, da war ich ja schon. Also weiter. Vorsichtig teilte ich die stechenden Zweige. Wenn sie ohne Druck über meinen Körper strichen, hinterließen sie keine Spuren. Ich bewegte mich wie in Zeitlupe. Das Brummen der Fliegen wurde lauter. Ich hatte Hunger. Und Durst. Mich fror. Aber ich war glücklich.
Das Brummen steigerte sich zu einem hämmernden Dröhnen.
Im Formationsflug hielten drei Hubschrauber der Schweizer Armee auf mich zu.
Genau sechs Wochen zuvor, auch an einem Dienstag, forderte mich die großformatige Digitaluhr auf meinem Schreibtisch in Berlin zum Sterben auf: »05:00 – 15. 07. – DIE«.
Dafür fehlte mir die Zeit. Noch. Fernseharbeit ist ein Saisongeschäft. Wenn ich diesen letzten Auftrag abgeschlossen hatte, dann war – von zwei Tagen Drehbuchbesprechung im August abgesehen – bis Mitte September Flaute.
Oder positiver ausgedrückt: Ferienzeit!
Und ich wusste auch schon, wo ich meine Ferien verbringen würde. Und mit wem nicht.
Im Moment beschäftigten mich andere Probleme. Ich tüftelte am Schlusssatz der Freitagsfolge eines täglichen Reality-Formats, bei dem die Fernsehzuschauer Frauen beim Anziehsachen-Einkaufen zugucken. Ich schreibe dafür die Texte des Off-Sprechers, der das Geschehen launig kommentiert, ohne dass der Zuschauer ihn sieht. Ein Routinejob, der meine Miete finanziert und mir die Freiheit gibt, Drehbuchstoffe ohne Auftrag zu entwickeln, zum Beispiel fürs Kinderfernsehen.
Das Anziehsachen-Einkaufen stand diesmal unter dem Motto: »Holladrio, der Berg ruft! Kombiniere zwei Klassiker, und sei mit Jeans und Dirndl das fescheste Madl beim Hüttenzauber.«
Die einzelnen Folgen, fünf je Wochenblock, schickt mir die Produktionsfirma fertig geschnitten zu. Auf für meine Texte frei gelassene Bildstrecken muss ich sekundengenau formulieren. Der letzte Satz einer Einkaufsfernsehfolge soll zum einen Bezug zum Bild haben – die Gewinnerin der Woche im Sieger-Outfit, umgeben von ihren Konkurrentinnen – und zum anderen das Wochenmotto aufnehmen sowie einen Ausblick auf die nächsten Folgen bieten.
»Hulli«, ploppte eine kleine Sprechblase am unteren Rand des Monitors auf, und ich tippte ins Chat-Fenster ebenfalls die Begrüßung, die wir irgendwann erfunden hatten: »Hulli«.
»Geht’s gutli?«
»Stressli. Schreibli!«
»Späterli?«
Damit, bei solchen Kompakt-Dialogen ein -li an alle Wörter zu hängen, hatten wir begonnen, nachdem Amara vor ein paar Jahren aus Zürich das erste Mal zu mir nach Berlin gekommen war und sich fürs Frühstück ein »Müs’chen« wünschte.
Im Bestreben, besonders gutes Hochdeutsch zu sprechen, hatte sie die schweizerdeutsche Verkleinerungsendung -li durch das hochdeutsche -chen ersetzt.
Wie meist um diese Tageszeit war ich schon und Amara noch wach. Oft nehmen wir dann zusammen vor unseren Webcams die Mahlzeiten ein. Ich das Frühstück in Berlin, sie in Zürich ihren Kaffee vor dem Schlafengehen.
Heute hätte ich gerne auf ein gemeinsames Frühstück verzichtet. Andererseits wollte ich es hinter mir haben. Je später ich ihr von meiner Urlaubsplanung erzählte, desto unangenehmer würde es. Also schrieb ich: »Letzter Satz. Dann durchlesen. In 30 Min?«
»Okeli.«
Ich probierte allerlei Assoziationen zu Bergen, Schnee und Almromantik aus. Im Duktus des Sprechers laut lesend testete ich, ob mein Schlusssatz in die vorgegebene Neun-Sekunden-Lücke passte. Dann überflog ich den gesamten Text, änderte hie und da ein Wort und schickte die Folge, meine fünfundneunzigste, an die Produktion.
»Fertig! :-)«
Amara klingelte umgehend an. Ich klickte aufs Kamera-Icon. Ihr Gesicht erschien auf meinem Monitor.
»Spatzeli, nicht weglaufen!«, rief sie, den Zeigefinger erhoben, und verschwand aus dem Fokus ihrer Webcam.
Wäre Angelina Jolie nicht so mager, könnte man sie leicht mit Amara verwechseln. Die gleiche braune Mähne, das gleiche Augenrund und dieser atemberaubende Schwung der Lippen, die nur jene zu dick finden, die sie noch nicht geküsst haben. Ich zum Beispiel. Ich hatte sie noch nie geküsst.
Die Angelina.
Schweizer Vögel tirilierten aus den Lautsprechern meines Computers. Wie üblich stand Amaras Balkontür offen. Damit der Zigarettenqualm abzog. Obwohl ich Rauchen für eine höchst unsinnige Angewohnheit halte, gerate ich ständig an Raucherinnen. Möglicherweise habe ich einen Hang zum Unsinn.
Aus den Lautsprechern drang nun ein Klirren, dann ein Aufschrei und die Information: »Nichts passiert!«
Kurz darauf saß sie mit einer Tasse in der Hand vor der Webcam: »Sorry, musste Kafi machen.« Hin und wieder rutschen schweizerdeutsche Ausdrücke in ihr Hochdeutsch. Aber selbst ohne helvetische Wörter schimmerte ihre Herkunft bei jedem R und A durch. Das eine klapperte wie der Zeiger am Glücksrad, das andere klang, als halle es aus einem Verlies herauf.
»Was gibt’s?« Sie pustete in ihren Kaffee.
»Du hast angerufen.«
»Ach so, ja … Wie läuft’s?« Sie trank einen Schluck.
»Müde. Aber rechtzeitig fertig geworden.« Eigentlich hätte ich gestern Abend abgeben müssen. Doch da hatte ich Gags für einen Franzosen geschrieben. Dabei kann ich gar kein Französisch. »Hauptsache, der Text ist da, bevor sie ins Büro kommen.«
»Lies mal vor. Den letzten Satz.« Sie fingerte eine Parisienne aus der Packung.
Ich deklamierte: »Friede, Freude, Alpenglühn. Danielas blaues Denim-Dirndl gefällt sicher auch dem Ziegenpeter! Für heute hat sich’s ausgejodelt. Servus und bis nächste Woche!«
Amara zündete ihre Zigarette an. »Es heißt Geißenpeter.«
»Früher in den Zeichentrickfilmen hieß es immer Ziegenpeter.«
»Wer hat die Filme gemacht?«
»Japaner.«
»Eben.« Amara-Logik.
»Und wenn schon, die Deutschen kennen ihn als Ziegenpeter. Es geht ja nicht darum, was stimmt, sondern was die Menschen zu wissen glauben.«
»Worüber?«
»Über Ziegen. Über die Schweiz.«
»Und die Leute glauben, wir sagen Ziege zur Geiß?«
»Nein, sie glauben, Ziegen heißen bei euch genauso wie bei uns«, erklärte ich.
»Warum?«
»Weil ihr für uns Deutsche seid, die an jedes zweite Wort ein -li hängen.«
»Wir sind keine Deutschen, Spatzeli!«
»Siehste!«
Amara schwankte zwischen Schmunzeln und Schimpfen. Trank Kaffee. Verschluckte sich, hustete. Es schwappte.
»Ui, nei! Ah!« Sie sprang auf. Rannte weg. Kam wieder. Küchenpapier in der Hand. Wischte vor dem Bildschirm herum.
Ich googelte derweil Ziegen und Schweiz. »Ha, hier: Ziegenschau in Rothenthurm«, griff ich wahllos einen Link heraus, »Vierzehnte TOGESA, Ausstellung und Markt für Toggenburgerziegen, Saanenziegen, Gämsfarbige Gebirgsziegen …«
»Det äne am Bergli«, trällerte Amara, »det schtat e wissy Geiss …«
Im Refrain – »Holeduli, duliduli« – unterbrach ich sie: »Es steht hier kein Wort von Geißen!«
»Das ist Schriftdeutsch. Mündlich heißt es Geiß.«
»Mein Text ist ja schriftlich«, trumpfte ich auf.
»Und wird dann im Fernsehen gesprochen«, hielt sie dagegen und schob hinterher: »Heidis Freund heißt Geißenpeter. Punkt.« Sie nahm einen tiefen Lungenzug. Blies den Rauch zur Balkontür hinaus. Ich trank einen Schluck Fencheltee und wagte es. »Du, ich hab mir überlegt, im August Urlaub in der Schweiz zu machen.«
»Schau mal, das Amseli!« Sie drehte ihr Laptop mit der Webcam in Richtung Vogel. »Jööö, schau, wie es guckt!«
»Ich seh nur ein schwarzes Pixelquadrat.«
Das Quadrat flog weg, Amara wandte sich um. »Warum?«
»Was?«
»In die Schweiz …«
»War ich noch nie richtig. Und Zürich zählt ja nicht.«
»Hm.« Sie drückte ihre Zigarette aus und steckte eine neue an.
»Warum fährst du nicht weiter weg? Wieder nach Nordkorea?«
Meine letzte große Ferienreise hatte ich durch Nordkorea gemacht.
»Ich will einfach wohin, wo es schön ist, ungefährlich und nicht anstrengend. Fremdes Essen, fremde Sprache, exotische Landschaft – alles fein, aber stresst.«
»Blödsinn, du hast überall Schiss.«
Den hatte ich jetzt auf jeden Fall. Vor ihr. »Du, ich weiß noch nicht, wo ich genau hinfahren werde oder wie, ich weiß nur, dass ich gerne …«
»Das kannst du gleich knicken!«, sagte sie bestimmt.
»Aber sieh mal, wir kennen uns jetzt schon so lange und …«
»Eben genau deshalb.«
»Mann, ich habe dich wirklich gern.«
»Spatzeli, ich dich auch. Aber ich fahre trotzdem nicht mit!«
Sie beugte sich weit zur Webcam vor, riss ihre grünen Augen auf: »Du und ich: Horrorferien!«
»Ja, genau das wollte ich doch sagen!«
Die nächsten Minuten freuten wir uns darüber, wie gut wir uns verstehen. Solange tausend Kilometer zwischen uns liegen.
Nachdem das Gespräch derart glimpflich verlaufen war, widmete ich mich den ganzen Vormittag meinem Urlaubsziel. Und schrieb Amara: »Welches ist das zweitglücklichste Land der Welt?«
Gleich nach dem Aufwachen, gegen drei Uhr nachmittags, beantworte sie meine Frage mit einem kurzen: »Schlaraffia.«
Ich schrieb »Sküppi?«, was Skype meinte, gleich darauf hatte ich Amaras verschlafenes Gesicht auf dem Monitor.
»Das zweitglücklichste Land der Welt ist … na?«, fragte ich.
Sie nickte Richtung Balkon: »Muss man den Vermieter fragen, wenn man Vogelhäuschen aufstellen will?«
»Bei uns untersagen die meisten Vermieter das Füttern von Vögeln.«
»Er muss es ja nicht wissen.«
»Er sieht es aber«, warnte ich.
»Ich würde es tarnen. Als Briefkasten zum Beispiel.«
»Sehr unauffällig. Vor allem, wenn da ständig Vögel landen.«
»Luftpost?«
Ich gab auf. »Das zweitglücklichste Land der Welt ist: Island!«
»Sagt wer?«
»Der aktuelle World Happiness Report.«
»Ist das ’ne Frauenzeitschrift?«
»Nein, das ist eine wissenschaftliche Studie zum Glücksempfinden.« Ich scrollte durch das Dokument. »Sehr viele Balkendiagramme und Tabellen. Sieht eindrucksvoll aus.«
»Und wer ist auf Platz 1?«
»Die Schweiz.«
»Haa-haa …!«, machte Amara und steckte sich kopfschüttelnd eine neue Zigarette an.
»Steht hier aber. Unter Berücksichtigung der Gesundheitsversorgung, der Freiheit, eigene Lebensentscheidungen zu treffen, dem Bruttoinlandsprodukt – in der Schweiz: Bruttoinlandprodukt, ohne s – und der Lebensleiter lebst du im glücklichsten Land der Welt. Herzlichen Glückwunsch!«
»Lebensleiter?« Sie steckte eine Zigarette an.
»Eintausend Befragte mussten ihr Leben auf einer von zehn Leitersprossen einordnen. Ganz unten das schlechtestmögliche Leben, dass sie sich vorstellen können, ganz oben das bestmögliche. Die Schweizer ordneten sich im Durchschnitt auf Sprosse siebeneinhalb ein.«
»Das geht ja gar nicht.«
»Das ist Statistik.«
»Und wo steht Deutschland?«
»Auf Sprosse sechseinhalb.«
»Es nimmt mich Wunder, woran das liegt.«
»Ich vergess es immer wieder: Heißt dieses nimmt mich Wunder, es wundert dich oder es interessiert dich?«
»Es interessiert mich!«
Ich überflog die Daten zu Deutschland. »Ach, du Schreck! Im Gesamtranking der glücklichsten Länder der Welt steht Deutschland auf Platz 26. Zwischen Panama und Chile.«
»Würdest du so viel rauchen und Alk trinken wie ich, dann wärst du auch glücklich.«
Darauf ging ich schon lange nicht mehr ein. »Ich habe noch etwas herausgefunden. Klick mal den Link an, den ich gerade geschickt habe.«
»Spatzeli, darf ich eben Kafi machen gehen?«
»Gleich, erst klicken.«
Gähnend tat sie, was ich verlangte. Das kam nicht oft vor.
»Oh, die Schweiz«, stellte sie fest.
Vor mir war die gleiche Karte geöffnet, und ich sagte, was mir aufgefallen war. Weil es Amara nicht gleich sah, ging ich ins Detail: »Der Zipfel mit Schaffhausen sind die Ohren. Die Spitze nach unten …«
»Das Tessin!«
»… bildet die Vorderbeine. Über die Hinterbeine kann man diskutieren. Sie überschneiden sich eben und wirken deshalb etwas klobig.« Bevor ich dazu kam, Genf im Schwanz zu verorten und alles rechts von Davos als Rüsselnase zu bezeichnen, schnaubte Amara: »Die Schweiz ist kein Schwein – never!«
»Das habe ich auch nicht gesagt!«
»Sondern?«
»Sie ist ein Wildschwein!«
Amara blieb der Mund offen stehen. Genau wie dem Wildschwein.
»Das ist doch eindeutig«, führte ich geduldig aus, »rechts die Schnauze, links …«
»Rechts von mir aus oder von dir aus?«
»Von uns beiden aus, wir gucken ja beide auf die Schweiz.«
»Neineinein, ich gucke aus der Schweiz heraus. Also ist dein Rechts bei mir links.«
»Bring mich nicht durcheinander, ich bin froh, dass ich das hinbekommen habe mit links und rechts.«
Amaras Logik kann einen in den Wahnsinn treiben. Ausnahmslos nimmt sie vermeintlich Unwichtiges wichtiger als das vermeintlich Wichtige. Deshalb kommt sie auch nie rechtzeitig von zu Hause los. Bei unserem ersten Date tauchte sie zwei Stunden zu spät auf. Wenn ihr etwas ge- oder missfällt, reagiert sie unmittelbar. Gern laut. Ich versuche dann – speziell in Supermärkten, Kinos oder Cafés –, ihr Einhalt zu gebieten, was sie noch mehr reizt, da sich »HIER KEIN MENSCH FÜR UNS INTERESSIERT!«
Was Umstehende meist sehr interessant finden.
Sie ist die einzige Frau, die ich je vor Wut angeschrien habe, aber auch der erste Mensch, dem ich meine Manuskripte vorlese. Gerade weil sie Prioritäten verschiebt und das Gespür für die wichtigen Winzigkeiten hat. Sie sieht, ehe es andere überhaupt ahnen, wenn etwas nicht im Lot ist. Eine Fähigkeit, mit der Amara ihren Lebensunterhalt bestreitet. Seit einigen Jahren sucht sie nach einer treffenden Berufsbezeichnung. Lebensberaterin, Life-Coach oder Heilerin nennen sich schon andere. Sie ist einzigartig.
Wir hatten uns allerdings nicht in beruflichen Zusammenhängen kennengelernt.
»Oh nein!« Ihre Augen weiteten sich. »Jetzt seh ich’s auch.« Sie schien erschrocken über sich selbst. »Es ist eine Art Comic-Wildschwein.«
»Es gähnt.«
»Was … äh … wie bitte?!«
»Nein, es hustet«, berichtigte ich mich. »Ihr seid ja nicht für Schlaftabletten berühmt, sondern für Hustenbonbons.«
Sie konnte nicht darüber lachen.
»Die Schweiz sieht aus«, fasste ich die neue Erkenntnis zusammen, »wie ein hustendes Wildschwein.«
Sie drückte lange ihre Zigarette aus.
»Versprich mir eines.« Ihr Augengrün kam nah. »Das sagst du niemals öffentlich!«
Meine Ferienreise sollte nicht in, sondern durch die Schweiz gehen. Die touristischen Hotspots abzureisen fand ich zu simpel; mich einfach durchs Land treiben zu lassen barg die Gefahr, mich zu verzetteln.
Außer Amara kenne ich – aus beruflichen Zusammenhängen – weitere Schweizerinnen. Sie bat ich um Insidertipps. Als Erste antwortete Charlott(e) (das e wird nicht gesprochen), der ich vor einigen Jahren auf der Kinderfernsehproduzenten-Party der Berlinale begegnet war. Charlotte liebt ihr Land im gleichen Maße, wie sie daran leidet. Mails und SMS unterzeichnet sie mit CH. Sie versorgte mich mit zahllosen Empfehlungen. Eine davon war ihr Vater, der ins Visier der Schweizer Stasi geraten war, die anders hieß, aber Schweizer Bürger ähnlich intensiv ausforschte wie die DDR die ihren.
Was Überwachung im Urlaub betrifft, war ich reich an Erfahrung. Auf meiner letzten großen Ferienfahrt passten von morgens acht bis abends spät zwei als Reiseleiter getarnte Geheimdienstler darauf auf, dass ich nicht vom rechten Weg abkam in Nordkorea – wie die Schweiz ein Hort des großen Glücks. Das behauptet jedenfalls die Staatsführung. Die Wahrheit sieht deutlich düsterer aus. In Nordkorea.
Anders in der Schweiz, da war das Glück der Einwohner ja wissenschaftlich bewiesen. Zudem ist die Schweiz das Gegenteil einer führerzentrierten Diktatur. Ja, Schweizer trennt gar, was Einwohner anderer Länder verbindet: Die Schweizer sprechen weder alle dieselbe Sprache, noch gehören sie derselben Volksgruppe an, noch einer einzigen Religion. Dennoch muss es etwas geben, das stärker ist als ihre Unterschiede. Etwas, das sie gemeinsam einen Staat bilden lässt.
Einen Staat, der in seiner West-Ost-Ausdehnung zwischen Bremen und Berlin passt und von Nord nach Süd zwischen Ostsee und Berlin.
Einen Staat, der so außergewöhnlich und besonders ist, dass er zu den wenigen Ländern der Erde gehört, die nur mit Artikel genannt werden. Genau wie die USA, die Mongolei und der Vatikan – eine Staatenunion, das dünnstbesiedelte Land der Welt und ein Kirchenstaat. Und was ist die Schweiz?
Eine »Willensnation«.
Ein Land, dessen Einwohner irgendwann beschlossen haben, zusammenzugehören. Ein Land, in dem ein Viertel der Bevölkerung Ausländer sind, angelockt vom Prinzip Schweiz. Ein Prinzip, das alle Gegensätze zu überwinden scheint. Und jeden Einwohner glücklicher macht als den Rest der Welt.
Was lag für glückliche Ferien in der Schweiz näher, als den Landesnamen als Reiseroute zu wählen?
Weil gemessen an der zurückgelegten Distanz überdurchschnittlich viele tödliche Verkehrsunfälle durch Rückwärtsfahren verursacht werden, soll dieses auf das Notwendigste beschränkt werden. Es soll nur noch dann rückwärts gefahren werden dürfen, wenn die Weiterfahrt oder das Wenden nicht möglich ist.
Art. 17 Abs. 3 der Schweizer Verkehrsregelnverordnung 2016
In ein fremdes Land per Flugzeug zu reisen spart Zeit. Dafür plumpst der Passagier gleich mitten ins Land, ohne dessen Grenze zu sehen, ohne die Veränderung von Vegetation und Architektur mitzuerleben. Das Flugzeug bietet dem Reisenden nur diesen »So sieht’s hier also aus«-Moment im Anflug auf den Zielort, wenn tief unten braune und grüne Flächen vorbeiziehen und kleine Häuser und das Gewerbegebiet und der Zaun und die Betonbahn. Es rummst, es rumpelt, es folgen Durchsagen, gegen die alle verstoßen, um anschließend halb angezogen zwischen den Sitzen zu stehen.
Aus diesem Grund hatte ich mich gegen den fünfundsiebzigminütigen Flug in die Schweiz und für eine achteinhalbstündige Bahnfahrt entschieden. Berlin 22:14 ab, Basel 7:47 an.
Der Zug rollte aus dem Berliner Hauptbahnhof, und ich schöpfte Hoffnung, die Nacht allein und ungestört in meinem leeren Liegewagenabteil verbringen zu können.
Da polterte ein Junge im Grundschulalter ins Abteil: »Ich will oben! Ich will oben!«
Seine Mutter antwortete: »Wir schlafen ja oben, Konstantin.«
»Cooool.«
»Möchtest du links oder rechts?«
»Ich nehme, ich nehme, ich nehme …« Sein Kopf schnellte hin und her. Er sprang und landete.
»Aua«, sagte ich.
»Konstantin, entschuldige dich bei dem Mann!«
»Ist schon gut«, brummte ich, zog die Schuhe aus und dann die Knie bis hoch unters Kinn. Halb verschattet von der Liege über mir hockte ich auf meiner blauen Matratze und sah aus wie ein Kindergartenkind, das nicht aus seiner Höhle will.
»Ich schlafe links! … Nein, rechts! … Nein, links!« Das Kind hüpfte herum, als hätte es einen verzweifelten Frosch verschluckt. »Oder rechts! Oder links! Nein, rechts.«
»Konstantin, ich finde links cool«, behauptete die Mutter.
Ich fand links auch cool. Ich schlief rechts.
Konstantin fand links nicht so cool.
Er war eines jener Kinder, das die Namen aller Planeten aufzählen kann und weiß, warum Pluto keiner mehr ist.
Seine Mutter umwehte ein blasses Batikkleid und die Tragik geplatzter Lebensträume.
Kaum waren die beiden in ihre Betten über mir geklettert und verstummt, quartierte die Schaffnerin einen Mann bei uns ein.
Er schlief sehr, sehr laut, und ich dachte die ganze Nacht darüber nach, warum Agatha Christie ein so kompliziertes Motiv für den Mord im Orient Express konstruiert hatte.
Gesetzeskonform fuhren wir vorwärts in die Schweiz ein.
Eine graue Wand verlief seit einigen Hundert Metern parallel zur Fahrtrichtung. Bunte Parolen lockerten das Einerlei hin und wieder auf. Sollte es jemandem gelingen, die bis zur Dachkante des Zuges reichende Wand zu erklimmen, würde er es trotzdem kaum schaffen, von dort auf das Zugdach zu springen, dazu war der Abstand zu groß. Gerade als es schien, die graue Wand würde nie enden, verlor sie an Höhe und gab den Blick frei auf einen Fluss.
Die Zugfahrt über die Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz glich verblüffend der von Nordkorea nach China. Meine Nordkorea-Reise lag mehr als zwei Jahre zurück, doch jedes Detail hatte sich eingebrannt.
Im Fernen Osten trennt der Fluss Tumen die Nachbarländer, hier war es der Rhein. Weiterer Unterschied: Der Zweck der grauen Wand: In Nordkorea verhindert sie Fluchtversuche, hier die Belästigung durch Zuglärm der Menschen in den Wohnhäusern dahinter. Das Graffiti ließ sich allerdings genauso wenig entziffern wie die nordkoreanischen Kampfparolen.
Das Gesicht im Wind der langsamer werdenden Fahrt, lehnte ich mich weit aus dem Gangfenster von Wagen 62. Neben mir standen ausstiegsbereit Konstantin und seine Mutter.
»Basel EssBeeBee«, las Konstantin das Bahnhofsschild vor und erklärte: »EssBeeBee bedeutet Schweizerische Bundesbahnen.« Basel SBB roch nach Kaffee und machte schwindlig. Ein halbes Dutzend Bahnsteige zwischen Spalier stehenden Eisensäulen unter dem lichten Dach einer fünfschiffigen Bahnhofshalle. Jede Dachwölbung krönte über die gesamte Länge eine Glashaube, die auf gekreuzten Streben ruhte. Darunter hingen wie ein kubistisches Spinnennetz senkrecht und waagerecht verlaufende Metallrohre, die in kleine Lautsprecher mündeten.
Die Bremsen kreischten. Die Welt vor dem Türfenster blieb stehen. Konstantins Zeigefinger bearbeitete den grünen Türöffnerknopf wie ein Specht den Baum. Die Tür seufzte und schwang zur Seite. Mutter und Sohn kletterten hinaus. Ich verharrte auf den Gitterstufen des Wagens und zog mit der linken Hand – in der rechten balancierte ich auf einer sogenannten Frühstücksbox aus dem Bordbistro einen Becher mit Tee – die Riemen meines schwarzgrünen Tourenrucksacks stramm. Der leichteste der Welt. Laut Prospekt 980 Gramm Leergewicht. Er verfügte über einen »Airspeed-Netzrücken« und bot statt einer profanen Plastikklickschnalle am Hüftgurt einen »Single-ErgoPull-Verschluss« mit dem ich »mächtig Druck auf die Hüften bekommen« sollte und einen »satten Sitz«.
Schon auf dem Marsch zum Hauptbahnhof in Berlin hatte ich diesem Sitz, hin und wieder hüpfend, nachgespürt. Drückte mein Rucksack? War er zu schwer?
Ich hatte großen Aufwand betrieben, um das Gewicht meines Gepäcks zu reduzieren. Hatte den Stiel meiner Zahnbürste abgesägt und das Besteck auf ein einziges Teil aus Leichtkunststoff reduziert, das Messer, Gabel und Löffel vereinigte. Ich taufte es »Megaffel«.
Auch der Rest meines Outfits war neu: ein sandfarbenes Basecap, ein grauer Kapuzenpullover, eine moosgrüne Trekkinghose und Wanderschuhe mit rot-gelben Schnürsenkeln und roter Sohle, die ich zwei Wochen lang, drinnen und draußen, eingelaufen hatte. Bis jetzt fühlte sich meine Ausrüstung gut an. Amara, der ich gestern Abend ein Selfie geschickt hatte, hatte meine Erscheinung als »alpenelegant« gelobt.
Ich stieg die letzte Gitterstufe hinab und betrat Schweizer Boden. Von meinem Gürtel nestelte ich die Digicam und knipste mein Gesicht vor dem Baseler Bahnhofsschild. Weiße Schrift auf dunkelblauem Grund. Das wollte ich an jeder Umsteigestation machen. Nach aktuellem Planungsstand würden es siebenundachtzig Fotos werden.
Da ich mir eine Reiseroute in den Kopf gesetzt hatte, die den Landesnamen in Schreibschriftbuchstaben ergeben sollte, musste ich in Basel beginnen, weil wir von links nach rechts schreiben. Ganz links, also im Westen der Schweiz, da wo sie an Frankreich stößt, konnte ich nicht anfangen, weil der Anfang des S weiter vorne liegt.
Es hatte Tage gedauert, bis ich herausgefunden hatte, wie sich eine Route planen lässt, die ein Wort aus zusammengeschriebenen Buchstaben ergibt. Die gängigen Reiseplaner bieten immer den kürzesten Weg vom Start- zum Zielort an. Damit die Software machte, was ich wollte, statt effizient zu sein, fügte ich Zwischenstationen ein. Um die Namen kleinerer Orte lesen zu können, musste ich bei Google Maps in die Karte hineinzoomen, was dazu führte, dass ich die große Übersicht verlor und nicht mehr wusste, wo ich mich sowohl im Wort als auch im Land Schweiz befand.
Als ich es endlich geschafft hatte, ein halbwegs vernünftiges S zu bauen, nahm es die Hälfte des Landes ein. Doch die restlichen sechs Buchstaben fehlten.
Eigentlich heißt die Schweiz gar nicht Schweiz.
Um keine der Volksgruppen zu benachteiligen, bekam das Land offiziell einen lateinischen Namen: Confoederatio Helvetica. Deshalb lauten Postcode und Landeskennzeichen international »CH«. Gleichwohl existieren offizielle Bezeichnungen in allen vier Landessprachen. Und da heißt das Land auf Deutsch eben nicht »Schweiz«, sondern »Schweizerische Eidgenossenschaft«.
Das sagt im Alltag kein Mensch. Außerdem bereitete mir das kurze Wort »Schweiz« schon genug Probleme.
Ich plante ein kleineres S und stellte fest, dass ich meine Route an Straßen ausrichtete. Eine große Autoferienreise hatte ich schon gemacht (mit einem Porsche, den ich längst nicht mehr besaß). Fürs Radeln fehlten mir Lust und Kondition, zu Fuß würde meine Reise zu viel Zeit kosten. Blieben öffentliche Verkehrsmittel: Eisenbahn, Schiffe, Bergbahnen, Straßenbahnen, Omni- und Oberleitungsbusse – sowie die PostAutos, wie in der Schweiz die motorisierten Nachfolger der Postkutsche genannt werden –, außerdem eine U-Bahn-Linie. Damit kam ich in fast jeden bewohnten Winkel der Schweiz.
Die ersten Streckenpläne, die ich fand, waren schematische Darstellungen: Netzspinnen, Verkehrswaben oder Tarifringe. Für mein Schreibschriftwort benötigte ich jedoch zwingend den tatsächlichen Streckenverlauf im Gelände. Die Schweizerischen Bundesbahnen halfen mir. Unter anderem schickten sie eine zwar vereinfachte, aber letztlich topographische Streckenkarte, die außer Bahnstrecken auch alle wichtigen Schiffs-, PostAuto- und Bergbahnverbindungen darstellte. Auf Scans malte ich im Computer darauf herum. Häufig gelang mir ein perfekter Einzelbuchstabe, aber ich fand keinen Übergang zum nächsten. Weitere Schwierigkeit: Gerade Senkrechten. Die Schweiz besitzt bloß zwei durchgehende Nord-Süd-Strecken: den Lötschberg-Tunnel über dem Hinter- und den Gotthardtunnel über dem Vorderbein. Ansonsten stellen sich die Alpen quer, weshalb mein w fragwürdig weit nach oben rutschte.
Größtes Problem war der i-Punkt. Ihn musste ich – wollte ich korrekt sein – ohne Verbindung zum Boden erreichen. Nur wie?
Die Schleifen und Schnörkel des Wortes zu gestalten, gelang mir zunehmend besser. Der Internet-Fahrplaner der SBB bot die Funktion von A nach B »via C«, und ich überlistete seine Effizienz mit bis zu 12 »via«-Angaben. Praktischerweise berücksichtigte er sämtliche Verkehrsmittel, also auch Nahverkehr, Schiffe und Bergbahnen.
Nach zwei Wochen Planung – allein drei Tage brauchte ich für das h – hatte ich es geschafft, eine Reiseroute durch die Schweiz zu planen, die das Wort »Schweiz« ergibt.
Nur der i-Punkt fehlte. Der i-Punkt blieb ein Problem.