Im Gedenken an Okama
und
zum Dank an meine Freunde und Unterstützer,
durch die diese Begegnungen erst möglich geworden sind.

Herzlich danken möchte ich
Martha, der besten Ehefrau von allen,
meiner Mutter, Johanna Schmidt († 2007),
sowie Frau Antonie Anton,
die das Manuskript der Erstauflage 2007
gelesen und korrigiert haben.

Ein zusätzliches Dankeschön gebührt dir, liebe Martha:

Für die Korrektur der zusätzlichen Kapitel in dieser Neuauflage, besonders aber dafür, dass du mich Jahr für Jahr wieder nach
Peru ziehen lässt!

Inhalt

Vorwort

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage von „Begegnungen in Peru“ im Mai 2007 sind inzwischen acht Jahre vergangen. Obwohl ich seit 2006 meinen festen Wohnsitz wieder in Deutschland habe, war ich zwischenzeitlich fast jedes Jahr einmal im peruanischen Urwald – derzeit bereite ich meine neunte Reise vor. Dabei hatte ich viele weitere „Begegnungen in Peru“ – mit Menschen aus den verschiedensten Volksgruppen, die allesamt einmalig, spannend und interessant waren. Bei jeder Reise gab es wieder Neues zu entdecken, mit den damit verbundenen Möglichkeiten den persönlichen Horizont zu erweitern und dazu zu lernen.

Das Land Peru begeistert mich jedes Mal aufs Neue. Die Fläche von Peru ist ungefähr 3,6-mal so groß wie die der Bundesrepublik Deutschland, das Land hat aber nur ca. 30 Mio. Einwohner. Peru hat ca. 3.000km Küste, über 6.000m hohe Berge (der Huascarán ist mit 6.768m der höchste Berg Perus) und die größte tropische Gebirgskette der Welt. In den peruanischen Anden liegt auch der Ursprung des Amazonas, des zweitlängsten1 Flusses der Erde. Etwa 60% der Fläche von Peru gehören zum Urwaldgebiet (was manchen überraschen mag). Normalerweise wird das Land vereinfacht in drei Zonen eingeteilt: Küste, Bergland und Urwald. In Wirklichkeit ist es aber viel komplexer: 84 der 117 Öko-Zonen der Erde und 28 der 32 Klimazonen der Erde sind in Peru zu finden. Peru ist ein Land der Superlative – nicht nur in seiner geografischen, sondern auch in seiner ethnischen Vielfalt. Dabei ist es gar nicht so einfach, diese Vielfalt der Volksgruppen genau festzulegen, denn je nach Quelle stößt man dabei auf unterschiedliche Zahlen. Gemäß Ethnologue2 gab es in (ganz) Peru einmal 105 Sprachen, von denen 94 angeblich noch gesprochen werden. Nach anderen Quellen gibt es im Urwaldgebiet um die 70 Ethnien, die 13 verschiedenen Sprachfamilien angehören. Nach meinen Kenntnissen gibt es in ganz Peru derzeit über 70 Sprachen, die noch gesprochen werden, etwa 50 davon von den Ethnien im Urwald (das Buch „People of Peru“3 weist darauf hin, dass es u.a. 26 Varianten der Quechua-Sprache im Bergland und im Urwald gibt). Die Gesamtbevölkerung dieser ca. 50 Ethnien im Urwald beträgt schätzungsweise 350.000 – 400.000 Menschen, d.h., sie machen nur etwa 1,2 –1,4% der Gesamtbevölkerung aus.

Von diesen Menschen, die in Peru größtenteils leider immer noch eine Randgruppe bilden, handelt dieses Buch. Die meisten Erlebnisse, die ich hier beschreibe, fanden in den Jahren 1998 bis 2005 statt. Während dieser Jahre konnte ich schon viele Veränderungen in der Lebensweise dieser Menschen in den Urwalddörfern beobachten. Es war mir klar, dass die Zeit nicht stillstehen würde. – Doch dass es so schnell vor sich gehen würde, hat mich doch sehr überrascht.

Angeregt durch die weiteren Begegnungen und Erlebnisse während meinen Perureisen in den vergangenen Jahren kam mir im Jahr 2013 der Gedanke, eine erweiterte Neuauflage dieses Buches zu wagen. Diese 5. Auflage entspricht im Wesentlichen der Auflage von 2013, enthält aber einzelne Korrekturen.

Mein Anliegen ist es, den Leserinnen und Lesern dieses Buches einen kleinen Einblick in die uns so fremde Welt der Urwaldindianer und ihre Kultur zu geben, sowie auf ihre immer schwieriger werdende Situation hinzuweisen. Und falls sich Ihnen die Gelegenheit bietet, die Indianer im Amazonasgebiet zu unterstützen, dann möchte ich Sie dazu ermutigen, dies einfach zu tun!

Hardt, im Juli 2015         Jürgen H. Schmidt

1 Inzwischen wird darüber diskutiert, ob der Amazonas nicht doch sogar der längste Fluss der Erde ist. Siehe dazu u.a. den Artikel „Amazonas will längster Fluss der Erde werden“ auf der Internetseite von Welt.de: http://www.welt.de/wissenschaft/article958349/Amazonas-will-laengster-Fluss-der-Erde-werden.html

2 http://www.ethnologue.com/country/PE (Zugriff am 27.06.2013)

3 Margarethe Sparing-Chávez (Hg.), People of Peru. (Lima: Summer Institute of Linguistics, 1999), S. 15.

1. Wie alles begann…

Beim Christival 1988 – einem Kongress für junge Christen in Nürnberg – fiel mir eine Adressenliste in die Hände, in der mehrere Missionswerke aufgeführt waren. Aus purer Neugier bat ich verschiedene Missionswerke, mir Informationsmaterial zuzusenden. Darunter war auch das Missionswerk „indicamino“, das bis zum Jahr 2002 unter dem Namen Schweizer Indianer-Mission bekannt war.

Schon als Kind war ich ein großer Karl May-Fan. Daher haben mich Indianer und der Wilde Westen schon immer begeistert. Als ich dann aber das angeforderte Informationsmaterial in Händen hielt und mir die Kurzbeschreibungen der Indianerkulturen aus dem südamerikanischen Urwald anschaute, war ich irgendwie enttäuscht. Diese Menschen und ihre Kulturen waren mir so fremd, dass ich absolut nichts damit anfangen konnte. So legte ich die erhaltenen Informationen in einem dicken Ordner ab, bis sie eines Tages bei einer Aufräumaktion im Altpapier verschwanden…

Von 1994 bis 1997 machte ich an der Bibelschule Bergstraße eine theologische Ausbildung. Während dieser Zeit kristallisierte sich heraus, dass ich gerne als Bibelschullehrer in der Mission arbeiten würde. „Zufällig“ kam ich 1996 wieder in Kontakt mit indicamino. Die Mission suchte Bibelschullehrer für ihre Missionsstation im peruanischen Urwald. Und so kam es dazu, dass ich – entgegen allem, was ich mir jemals vorstellen konnte – zu den Tieflandindianern im peruanischen Urwald kam.

Im Jahr 1998 reiste ich, zusammen mit meiner Familie, zu meinem ersten Term nach Peru aus. Zunächst setzten wir in Arequipa, im Bergland, unser bereits in Spanien begonnenes Sprachstudium fort. Vier Monate später kamen wir dann endlich nach Cashibo, der Missionsstation, die für fast sieben Jahre unser Zuhause werden sollte. Cashibo liegt in der Nähe der Stadt Pucallpa, ungefähr im Zentrum des peruanischen Amazonastieflandes. Es ist ein Ausbildungszentrum speziell für Urwald-Indianer. Neben der Ausbildung von Predigern und Pastoren an der Bibelschule werden dort auch Schreiner, Mechaniker und Kleintierzüchter ausgebildet. Während der letzten 50 Jahre hatte die Mission dort Indianer aus fast 40 verschiedenen Stämmen zu Gast. In Cashibo hatte ich dann auch den ersten Kontakt mit der indianischen Bevölkerung. Zunächst mit den Shipibo-Indianern, denn Pucallpa liegt mitten in ihrem Stammesgebiet. Recht schnell hatte es sich in Santa Teresita, dem benachbarten Shipibo-Dorf herumgesprochen, dass „neue“ Missionare angekommen waren. Und schon bald tauchten die ersten Indianer an unserer Haustüre auf, um Halsketten, Armbändchen, bestickte Tischdeckchen und anderes Kunsthandwerk zu verkaufen. Andere boten auch Früchte, Fisch oder Fleisch von irgendwelchen – uns noch unbekannten Urwaldtieren an. Manche fragten nach Arbeit, und wieder andere fragten, ob sie welche von unseren Mangos, die gerade reif waren, mitnehmen durften – und verkauften diese dann in Pucallpa…

Auch wenn ich vor unserer Ausreise nach Peru schon versucht hatte, so viel wie möglich über die Indianer zu erfahren, mit dem Tag der ersten Begegnung begann nun das Kulturstudium und zwar richtig, live! Für mich war es ein Eintauchen in eine neue, mir unbekannte Welt. Inzwischen sind mir die Indianer und ihre Kultur vertraut und lieb geworden – auch wenn es noch viele Dinge gibt, die ich immer noch nicht kenne, geschweige denn verstehen kann. Und so wird es wohl auch bleiben. Trotz allem Kulturstudium, trotz vieler Begegnungen und meiner Bereitschaft mich auf die Menschen einzulassen, unsere Welten sind zu verschieden. Und somit ist auch das Ausmaß, in dem man den anderen und seine Welt verstehen kann, begrenzt. So gilt es, den anderen in seinem Anderssein anzunehmen, ihm und seiner Kultur Respekt entgegenzubringen, und ihn auch dann zu lieben, wenn man mit seinem Latein am Ende ist…

Daher ist auch das einmal begonnene Kulturstudium niemals abgeschlossen. Man kommt nie an den Punkt, wo man sagen kann: „Jetzt hab ich’s!“ In meinem Fall war es so, dass ich als Lehrer an der Bibelschule in jeder Klasse Schüler aus durchschnittlich zehn verschiedenen Stämmen hatte. Jeder Stamm hat seine eigene Sprache und Kultur. Einige Indianersprachen und Kulturen sind sich sehr ähnlich, doch es gibt auch beträchtliche Unterschiede. Man kann daher nicht sagen, Indianer ist gleich Indianer. Jede Ethnie hat ihre Besonderheiten.

Durch Reisen in Indianerdörfer lernte ich ein paar Stämme näher kennen, insbesondere die Candoshi, die Quechua am Pastazafluss und die Caquinte. Mit Menschen aus anderen Gruppen kam ich hauptsächlich auf der Missionsstation in Kontakt und viele davon waren meine Schüler an der Bibelschule. Mit meinen Schülern kam ich dabei ja nicht nur über theologische Fragen ins Gespräch. Viele Gespräche drehten sich um das Dorf, die Familie und die Kultur – von uns beiden. Die Indianer interessierten sich genauso dafür, wie die Dinge bei mir, bzw. bei uns in Deutschland laufen, so wie ich mich für ihre Lebensweise interessierte. Und sie waren mindestens genau so oft erstaunt über unsere Verrücktheiten, wie ich über die ihrigen…

In diesem Buch soll es um Begegnungen mit den Indianern gehen. Ich schreibe bewusst ganz subjektiv, so, wie ich die Dinge erlebt habe. Aus unzähligen Begegnungen habe ich ein paar ausgewählt, um dem Leser Einblicke in die Welt der Indianer zu geben. Dabei handelt es sich natürlich immer um Momentaufnahmen. Denn die Welt der Indianer ist einem rasanten Wechsel unterzogen. Während die Generation der Großeltern noch in der Steinzeit lebte, benützt heute ein Teil der Enkelgeneration bereits das Handy und surft im Internet! Das hat natürlich gravierende Auswirkungen auf die Kultur und die Lebensweise der Menschen. Ich gehe davon aus, dass die kommenden Jahre noch größere Veränderungen für die indianische Bevölkerung bringen werden, als wir uns das derzeit vorstellen können. Auch wenn manche Anthropologen, Missionare und Freunde von Naturvölkern alledem mit Wehmut, Besorgnis oder Widerstreben entgegensehen, es wird wohl kaum möglich sein, die Indianer vor Veränderungen zu „schützen“ oder zu „bewahren“. Die Wünsche nach den Konsumgütern der „modernen Welt“, die per Satellitenfernsehen auch in entlegenen Indianerdörfern geweckt werden, werden ihre große Anziehungskraft entfalten. Die Indianer werden letztlich selbst bestimmen, wie sie leben wollen, auch wenn offensichtlich nicht alles „gut“ für sie ist (genau so wenig wie für uns alles „gut“ ist). Und seien wir mal ehrlich: Wer von uns möchte noch so leben und wohnen wie unsere Vorfahren vor 100 Jahren?

Vor allem in den letzten beiden Kapiteln dieses Buches werde ich noch etwas zum Thema Veränderungen schreiben. Doch zunächst einmal soll es um Begegnungen und Erfahrungen mit den Indianern gehen.

Das Shipibo-Dorf „Santa Teresita“

2. Erste Begegnungen

Wie schon erwähnt, hatten wir schon bald unsere ersten Begegnungen mit Shipibo-Indianern, die als Verkäufer an unsere Haustür klopften. Während eines Besuches der Bibelschule der Shipibo-Indianer in Pucallpa lernte ich weitere Shipibos kennen. In dieser Zeit nahm ich an den Unterrichtsstunden einfach als Beobachter teil. So bekam ich einerseits einen ersten Einblick in die Ausbildung von Indianerpastoren, andererseits aber auch in das Verhalten der Indianer als Schüler. Auffallend waren vor allem ihre Schüchternheit und die Schwierigkeiten, die sie mit der spanischen Sprache hatten. Auch später, als ich dann selbst unterrichtete, erlebte ich es immer wieder, dass Schüler sehr schüchtern waren. Doch oft lag das nur am Umfeld und an der fremden Sprache. Wenn man sie dann in ihrem Dorf besuchte, d.h. in ihrem eigenen Umfeld, wo sie sich in ihrer eigenen Sprache verständigen konnten, dann traute man oft seinen eigenen Augen nicht. – War das wirklich dieselbe Person? Nun, zu Hause fühlten sie sich „wie der Fisch im Wasser“, wie man in Peru zu sagen pflegt.

Bei meinen Besuchen in der Shipibo-Bibelschule in Pucallpa lernte ich auch einen jungen Shipibo-Indianer kennen, der weit weniger schüchtern war: Jeiser. Vermutlich lag das mit daran, dass er in Yarina (bei Pucallpa) aufwuchs und eine Schule in der Stadt besuchte. Aber er ist generell auch jemand, der sehr leicht Freundschaften schließt und alle Welt kennt. Schon bald entstand eine Freundschaft und Jeiser besuchte uns immer wieder in Cashibo. Als ich ihn kennen lernte, besuchte er noch die Sekundarschule und befand sich zeitweise in einer ziemlichen Identitätskrise. Dies hing sehr stark damit zusammen, dass sein Vater seine Mutter verlassen hatte und sie mit den Kindern alleine blieb. Das Schwierigste aber war, dass sein Vater Jeiser immer als Sohn ablehnte und behauptete, er wäre von einem anderen Mann. Als sein Vater dann später schwer krank im Hospital lag, besuchte ihn Jeiser regelmäßig und bat mich, seinen Vater ebenfalls zu besuchen.

Ich erfüllte Jeisers Bitte und hatte ein sehr gutes Gespräch mit ihm. Später hat sich dann die Beziehung zwischen Jeiser und seinem Vater verbessert, auch wenn es gelegentliche Rückschläge gab. Ein Spannungsfeld war für Jeiser immer wieder seine Identität als Shipibo-Indianer, der nicht traditionell im Indianerdorf, sondern in der Stadt aufgewachsen ist. Das brachte ihm einerseits große Vorteile wie eine gute Schulbildung und ein gutes Spanisch. Aber ihm fehlen viele Kenntnisse, die ein im Dorf aufgewachsener Indianer sonst eben hat. Trotz des niedrigen Stellenwerts, den Indianer normalerweise in der peruanischen Gesellschaft haben, ist Jeiser stolz auf seine indianische Herkunft. Und er versteckt diese – im Gegensatz zu anderen seiner Stammesgenossen, die ebenfalls in der Stadt aufwuchsen – nicht. Nach der Sekundarschule machte Jeiser eine Ausbildung zum Krankenpfleger, die er mit Erfolg bestand. Bereits während seiner Schulzeit gewann er immer wieder Wettbewerbe und durfte so als Repräsentant der Jugend viele Reisen durch ganz Peru machen. So lernte er Menschen aus den unterschiedlichsten Gegenden und Schichten Perus kennen und sein Horizont erweiterte sich erheblich. Neben seinem Einsatz in der Kirche ist er auch politisch sehr interessiert und engagiert, was ihn einmal fast in Probleme gebracht hätte…

In den letzten Jahren setzte sich Jeiser sehr stark in der AIDSPrävention ein, denn diese Krankheit ist auch für die Shipibo- Indianer zu einer Bedrohung geworden. Er führte zu dieser Thematik mehrere Studien durch und schrieb dazu auch Informationsmaterial in der Shipibo-Sprache. In eigener Initiative startete er Projekte in Shipibo-Dörfern, um die Bevölkerung – insbesondere die Jugendlichen – über die Krankheit zu informieren. Ich bin gespannt, wie sein Lebensweg weiter gehen wird. Es würde mich nicht wundern, wenn er eines Tages in der Landesregierung von Ucayali, oder sogar im peruanischen Parlament sitzen würde…

Auch in einem Ausbildungskurs für kulturübergreifende Mission, der von FAIENAP4, dem Dachverband der evangelischen Indianerkirchen des peruanischen Amazonastieflandes, durchgeführt wurde, boten sich weitere Möglichkeiten, um mit Indianern in Kontakt zu kommen. Im November 1998 fand dieser Kurs in Cashibo statt und es waren v.a. indianische Pastoren, die daran teilnahmen. Manche dieser Pastoren arbeiteten bereits als Missionare unter anderen Stammesgruppen. Es war für mich bewegend zu sehen, welche Mühen sie auf sich nehmen, um anderen das Evangelium zu bringen. Während des Kurses gab es einen regen Austausch über Indianerkulturen und es wurde deutlich, dass es zwar viele Ähnlichkeiten, aber auch beträchtliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Volksgruppen gibt. Diese Unterschiede betreffen u.a. das Essen. So ist z.B. die Seekuh eine Spezialität für die Shipibo-Indianer (die infolgedessen schon fast alle in ihrem Stammesgebiet aufgegessen haben…); für die Candoshi-Indianer ist die Seekuh jedoch ein Tabu-Tier, dessen Fleisch auf keinen Fall mit einer schwangeren Frau in Berührung kommen darf. Aber auch identische Verhaltensweisen in einem bestimmten Fall werden oft auf unterschiedliche Weise begründet. So kommt es z.B. immer wieder vor, dass Kinder, die mit einer Missbildung zur Welt kommen, getötet werden. Bei einer Volksgruppe wird dieses Verhalten mit der starken Betonung der Selbständigkeit des Individuums begründet, d.h. ein missgebildeter Mensch wird als Belastung für die Gesellschaft angesehen. Bei einer anderen Volksgruppe wird dieses Verhalten damit begründet, dass es das Kind eines bösen Geistes sei, der nicht geduldet werden könne.

Während des Kurses ergaben sich immer wieder interessante Gespräche und Begegnungen mit den indianischen Pastoren. Als wir an einem der Abende einen Film über das Leben des China-Missionars Hudson Taylor anschauten, war Tito, einer der Teilnehmer, sehr berührt und hatte Tränen in den Augen. Er hatte ebenfalls – so wie Hudson Taylor – seine erste Ehefrau sehr geliebt und diese schon recht früh verloren. Sein Schmerz darüber war immer noch groß, und doch hielt ihn das nicht davon ab, weiter auf Gott zu vertrauen und sein Wort zu verkündigen.

Mit einem anderen Shipibo-Indianer hatte ich eine Begegnung, die mich etwas irritierte. Er gab mir bei der Begrüßung zwar die Hand, schaute mir aber nicht ins Gesicht, sondern auf die andere Seite. Wie sollte ich das interpretieren? In unserem deutschen Kontext ist das ja nicht besonders höflich. – Aber: durfte ich meinen kulturellen Hintergrund als Maßstab nehmen? Ich fragte Roger, den Leiter des Kurses. Er ist ebenfalls Shipibo-Indianer, aber mit einer Mestizin verheiratet. Er klärte mich auf, dass es in seiner Kultur ein Ausdruck von Höflichkeit ist, dem anderen nicht direkt ins Gesicht, bzw. in die Augen zu schauen. – Ich ahnte, dass noch viele Fettnäpfchen vor mir liegen würden…

Für den Abschlussabend des Kurses übten wir ein Anspiel ein. Als Weißer musste ich natürlich die Rolle eines verrückten Missionars spielen, der so allerhand Dummheiten macht, und vor allem überall mit seiner Kamera herum rennt. Wir hatten viel Spaß dabei und natürlich nutzte ich die Gelegenheit, um ein Foto zu machen…

Während unserer ersten Monate in Cashibo war auch ein Candoshi- Indianer als Lehrling im Kleintierzuchtprogramm auf der Missionsstation. Er hatte einen echten, typischen Candoshi- Namen und hieß Mashingashi. Da geplant war, dass ich bald eine Reise zu seinem Stamm unternehmen würde, kam ich mit ihm ins Gespräch und wollte natürlich Einiges über ihn und seine Kultur wissen. Unter anderem fragte ich ihn, wie sich die Candoshi denn begrüßen. Er erklärte es mir. Ich sagte zu ihm: „Aber ihr gebt euch sicher nicht die Hand dabei?“ – Er erwiderte: „Doch, das tun wir, wir sind jetzt zivilisiert!“ Als ich zu den Candoshi kam, war natürlich nichts mit Händeschütteln! Es ist einfach nicht Teil ihrer Kultur. Aber solche Antworten mit der Betonung auf „Jetzt sind wir zivilisiert“ habe ich danach noch oft erhalten. Es hängt einfach damit zusammen, dass die Indianer in Peru eine Randgruppe bilden und sie – in Unkenntnis ihrer Kultur – oft als primitive Wilde angesehen werden. Entsprechend angeknackst ist auch das Selbstwertgefühl vieler Indianer und sie versuchen sich durch das „Zivilisiertsein“ zu nivellieren. Während der Reise zu den Candoshi kam ich sogar in Mashingashis Dorf und sein Vater lud uns zum Essen in sein Haus ein. Da erlebte ich noch so eine zivilisatorische Überraschung: Hingen da doch auf einer Leine im Haus – feinsäuberlich aufgereiht – mehrere Hemden und Krawatten. Ich fühlte mich wie Julius Cäsar in dem Film „Asterix bei den Briten“: Ich kam, sah und traute meinen Augen nicht…!