001

001

Inhaltsverzeichnis
 
 

Ein Fall
Jemand, nämlich ich, ging zielbewusst über einen Platz in Basel, nur noch wenige Minuten von der Lokalität entfernt, die er aufzusuchen gedachte, da er dort verabredet war, sein Schritt war nicht hastig, aber doch vorwärts orientiert, nicht schlendernd wie etwa derjenige der bemerkenswert schönen jungen Frau, die er überholte. Der Jemand war beschwingt, denn er war dort, wo er hinging, ein freudig Erwarteter, und es muss wohl sein in die Ferne gerichteter, seinerseits erwartungsvoller Blick gewesen sein, der ihn die kleine Kante übersehen ließ, die er nun mit seinem rechten Fuß übertrat. Er hatte sie übersehen, weil er sich auf einem gepf lästerten Platz wähnte und nicht auf einem Trottoir, und nun wurden die Gesetze der Physik sekundenschnell und erbarmungslos auf ihn angewendet, Zentrifugal- und Zentripetalkraft stritten sich um ihn, zerrten ihn vor und zurück und auf und ab, sein eben noch gelassener und ebenmäßiger Gang verwandelte sich in ein Zucken und Krümmen seines Körpers, einen gnomenhaften Tanz, durch den ihm die Mütze vom Kopf geschleudert wurde, und er selbst wurde schließlich durch die wild ausscherenden Kräfte in die Knie gezwungen, und während er sich mit Mühe wieder zu erheben und seiner verlorenen Würde zu bemächtigen suchte, bückte sich die schöne junge Frau nach seiner Mütze und überreichte sie ihm lächelnd, so wie man einem Invaliden etwas zuliebe tut, bevor sie, die Handtasche an der Schulter, lässig weiter bummelte und ihn, diesen Jemand, mich also, mit einem scharfen Schmerz im Knöchel als plötzlichen Greis zurückließ, der sofort spürte, dass ihn dieser Misstritt um Kilometer von seiner Abmachung trennte und auch alle seine andern Abmachungen in eine ungewisse, bedrohliche Ferne rückte, dass dadurch auch ein Verb wie »gehen« sofort aus seinem Vokabular verbannt wurde, mehr noch, dass es niedergeschlagen wurde durch eine Bande von Substantiven, deren lümmelhafte Anführer »Unfall« und »Notfall« hießen, ein dritter, der blöde grinste, nannte sich »Zufall«, und sie alle kamen nun auf Jemand zu und sagten zu ihm, als sie ihn links und rechts unter dem Arm fassten, sie hätten schon lange auf ihn gewartet.

Liederabend
Der Sänger und die Pianistin treten auf, im Saal einer Kleinstadt, auf einem niederen Podest, vor getäferter Rückwand, mit schlechter Deckenbeleuchtung. Der Lüster im Saal bleibt während der Darbietung angezündet, damit ein wenig Licht auf das Gesicht des Sängers fällt.
Und nun hebt er an zu singen, ruhig, schön, eindringlich, während die Hände der Pianistin wie Tänzerinnen über die Tasten wirbeln. Der Sänger singt, indem er die Leute dazu anblickt, von Myrten und Rosen, von Nachtigallen, von Tränen und Träumen, von Sehnsucht, Seufzern und Verlangen, von Kummer, Gram und der Wiege seiner Leiden. Die meisten, die zuhören, kommen aber nicht aus einer aufgewühlten Stimmung, sondern sie haben den Tag an irgendeinem Pult verbracht oder haben unterrichtet oder haben die Angebote der Woche eingekauft oder haben sich in der Baumusterzentrale neue Bodenbeläge für die Küche zeigen lassen, und nun verharren sie hier alle nebeneinander in dem kleinen Saal und lassen die Botschaften der Liebe, der Ahnungen und des wilden Schmerzes auf sich niedergehen, und sie sitzen da, Kopf an Kopf, wie in den Boden eingelassene Pflastersteine, auf die nach einer trockenen Zeit ein Frühlingsregen sprüht, der sie einen Moment aufatmen und von etwas längst Vergessenem träumen lässt, bis der Sänger und die Pianistin sich verneigen und den Saal unter Applaus verlassen. Dann sinken sie in ihre alte Trockenheit zurück, um sich wieder täglich über die Köpfe gehen, treten, trampeln und rollen zu lassen.

Die Verkündung
Letzthin, im Zug, direkt neben dir, das elend-fröhliche Digitalpiepsen eines Handys, und du weißt, jetzt wirst du die Seite nicht in Ruhe zu Ende lesen können, du wirst mithören müssen, wo die Unterlagen im Büro gesucht werden sollten oder warum die Sitzung auf nächste Woche verschoben ist oder in welchem Restaurant man sich um 19 Uhr trifft, kurz, du bist auf die unüberhörbaren Schrecknisse des Alltags gefasst – und da kramt der junge Mann sein Apparätchen aus der Tasche, meldet sich und sagt dann laut: »Nein! – Wann? – Gestern Nacht? – Und was ist es? – Ein Bub? – So herzig! – 3 1/2 Kilo? – Und wie geht es Jeannette? – So schön! – Sag ihr einen Gruß, gell! – Wie? – Oliver? …«
Und über uns alle, die wir in der Nähe sitzen und durch das Gespräch abgelenkt und gestört werden, huscht ein Schimmer von Rührung, denn soeben haben wir die uralte Botschaft vernommen, dass uns ein Kind geboren wurde.

Kinder
Das Haus, das wir bewohnten, stand etwas außerhalb des Dorfes, in dem mein Vater Lehrer war. Neben dem Haus befand sich ein kleiner künstlicher Weiher.
Ich war höchstens drei Jahre alt, als mein Bruder und ich beschlossen, diesen Weiher auszuschöpfen. Mit einer leeren Ovomaltinebüchse gingen wir zum Rand des Teichs und begannen damit Wasser zu schöpfen und hinter uns in den Garten zu leeren. Wir schöpften und schöpften und schöpften und konnten nicht begreifen, dass sich der Wasserspiegel nicht senken wollte und dass der Grund des Weihers so unerreichbar blieb, als hätten wir ihm nicht eine einzige Büchse Wasser entnommen.

Die junge Großmutter
Im Eingangsraum unserer Wohnung hängt ein Bild, das die Großmutter meiner Frau als junges Mädchen zeigt. Eine Cousine brachte es vor ein paar Jahren zu uns, nach dem Tod ihrer Mutter, und nun schaut uns das Mädchen jeden Tag an, uns und alle, die hier ein- und ausgehen.
Sie mag vielleicht 18 Jahre gewesen sein, damals, hält den Kopf leicht geneigt und blickt erwartungsvoll und skeptisch zugleich auf das Leben, das vor ihr liegt. Die Haare sind kunstvoll gebunden, ein Band hält sie zusammen. Ordentlich sollte sie aussehen für das Portrait, und doch hat ihr der Maler ein paar Strähnen zugestanden, die ihr seitlich und hinten etwas vom Kopf abstehen, eine hängt ihr sogar ein kleines bisschen in die Stirn hinein.
Die Skepsis, hinter der man auch Melancholie ahnt, war berechtigt. Ich weiß nicht viel von ihr, aber ich weiß, dass sie den Mann, den sie ursprünglich liebte, nicht bekam. Die Gesellschaft war dagegen und ordnete ihr einen anderen zu, der später Direktor einer Großbank wurde und am Tag ihres Todes einen Geldtransport in das künstliche Höhlensystem der Alpen begleiten musste, denn der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen, und Hitlers Einfall in die Schweiz wurde täglich erwartet.
Als sie starb, war sie erst 47 Jahre alt und hinterließ einen Sohn und drei Töchter. Eine davon war die Mutter meiner Frau. Hätte die junge Großmutter der Stimme ihres Herzens folgen können, würde sie heute nicht im Eingangsraum meines Hauses hängen, denn dann wäre ihre Tochter und damit auch deren Tochter nicht zur Welt gekommen, und ich hätte sie nie kennen gelernt, und auch meine zwei Söhne, ohne die ich mir mein Leben nicht mehr vorstellen kann, wären nicht da.
Ich achte darauf, dass auf dem Tischchen unter ihrem Bild stets ein kleiner Blumenstrauß steht.

Als ich zwanzig war
Als ich zwanzig war, war es so kalt, dass der Zürichsee gefroren war.
Als ich zwanzig war, schrieb ich meinen Matura-Aufsatz über Kräfte, die jenseits von Politik und Wissenschaft unser Leben bestimmen. Ich schrieb vor allem über die Phantasie.
Als ich zwanzig war, durfte ich zum erstenmal abstimmen. In meinem Primarschulhaus betrat man eine Wahlkabine, konnte dort seinen Stimmzettel mit »Ja« oder »Nein« beschriften und ihn nachher in die Urne werfen. Ich weiß nicht mehr, wozu ich damals Ja oder Nein gesagt habe. Stimmen durften, als ich zwanzig war, nur die Männer.
Als ich zwanzig war, gab es an der Universität so viele Studenten, dass man für die Vorlesungen des berühmten Germanistikprofessors Platzkarten lösen musste. Etwa 700 andere studierten auch Germanistik. Mindestens die Hälfte davon waren Frauen. Darunter, dachte ich, müsste auch eine für mich sein. Ich hatte Recht.

Ich werde alt
Ich steige in Gaggenau aus. Eine Dame vom Kulturamt holt mich ab. Ich erkenne sie, bevor sie mich erkannt hat. Fast immer erkenne ich die Leute, die am Bahnhof stehen, um mich abzuholen, sie stehen da wie Fragezeichen. Da ich morgen früh eine Fahrkarte nach Rastatt benötige, werfe ich, bevor wir zum Auto gehen, einen Blick auf den Fahrkartenautomaten. Unter den vielen kleingedruckten Ortsnamen finde ich Rastatt nicht, obwohl ich sorgfältig den Anfang der R-Orte absuche.
»Sehen Sie Rastatt?« frage ich die Kulturbeauftragte, und sie sieht es ebenso wenig, schon aus Respekt mir gegenüber.
Ich gehe zum Schalter und verlange eine einfache Karte nach Rastatt, gültig am morgigen Tag. Die könne sie mir nicht geben, sagt die Schalterbeamtin, da müsse ich morgen den Automaten quälen. Sie sagt »quälen«, mit einem rätselhaften, halb ironischen, halb maliziösen Lächeln. Da sei eben Rastatt nicht drauf, sage ich. Rastatt sei schon drauf, sagt sie, aber ich könne auch einfach die Zahl 340 wählen.
»Mach ich«, sag ich, »aber Rastatt ist nicht drauf.«
»Doch, doch«, sagt sie.
Als ich hinzufüge: »Ich bin 60, ich kann lesen«, sagt ein Mann, der auf der Wartebank Zeitung liest: »Ich bin auch 60, kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.«
Gefolgt von der erstaunten Dame vom Kulturamt gehen wir zum Automaten, und auf den ersten Blick sehe ich unter »R« Rastatt. Warum ich es vorher nicht gesehen habe, kann ich mir nicht erklären.
»Das kostet eine Schokolade«, sagt der Gleichaltrige. Wir gehen zurück in den Schalterraum, wo mein Koffer steht, ich lege diesen auf den Rücken, öffne ihn und ziehe eine kleine Schokolade, die ich im letzten Moment noch eingepackt hatte, heraus. Er wehrt ab, ein Scherz sei das gewesen, aber ich beharre auf der Gabe, und schließlich nimmt er sie, »aus der Schweiz«, sagt er anerkennend.
Zur Schalterbeamtin, die immer noch mit ihrem Mona Lisa-Lächeln hinter der Scheibe sitzt, sage ich, und jetzt bin ich der Gequälte: »Sie hatten Recht, Rastatt steht drauf.«
Sie nickt zufrieden, und der Mann auf der Wartebank isst bereits zufrieden meine Schokolade, als ich mit der Dame vom Kulturamt unzufrieden dem Parkplatz zustrebe.

Ich werde noch älter
Wer das Hotelzimmer betritt, findet gleich links neben der Türe zwei Lichtschalter. Sie haben die Form kleiner Tafeln, die leicht schräg stehen, und werden sie von einer Schräglage in die andere gedrückt, geht das Licht an. Der eine Schalter bedient den Eingang, der andere das eigentliche Zimmer.
Wer das Bad betritt, findet linkerhand dieselben tafelförmigen Lichtschalter, mit denen sich das Badezimmer erleuchten lässt.
Am Morgen suche ich nach dem Duschen vergeblich eine Steckdose für den Haarföhn, der wie in einer Badeanstalt fest an der Wand installiert ist. Ein Kabel mit einem Stecker hängt zwar einladend herunter, aber die Steckdose für allfällige Rasierapparate ist bösartig weit davon entfernt, keine Chance, ihn mit dem kurzen Kabel zu erreichen. Ich trockne mir die Haare mit dem Badetuch.
Später, beim Auschecken an der Rezeption, sage ich, nach Bestätigung meiner grundsätzlichen Zufriedenheit, einzig der Haarföhn sei ein leeres Versprechen gewesen, und erwähne das zu kurze Kabel.
Aber gleich darunter sei doch über dem Lichtschalter der Deckel für die Steckdose, sagt die Dame freundlich mitfühlend, so wie man einem Schüler die richtige Lösung einer Hausaufgabe erklärt.
Rückblickend fällt mir ein, dass es im Bad nur eine einzige Lichtquelle gab, die also auch nur mit einem einzigen Schalter zu bedienen war. Ich hatte mich von der Analogie der Schalteranordnung im Zimmer zur Nichtüberprüfung der vorhandenen Möglichkeiten verleiten lassen und war auch bereit anzunehmen, dass mir die Einrichtungen dieses Hotels ohnehin feindlich gesinnt waren.
Gelähmte Neugier, Unwillen, sich am Unbekannten zu messen, erwartete Demütigung durch mir fremde Installationen, und zuletzt wenigstens Recht haben wollen – Alarmsignale, sage ich mir, lauter Alarmsignale, als ich meinen Koffer zum Bahnhof ziehe und am Automaten die Zahl 340 eintippe.

Lebenslauf