Das Buch
Als bei Privatdetektivin Heide von der Heide mitten in der Nacht das Telefon klingelt, ahnt sie bereits, dass Ärger bevorsteht. Am Apparat ist ihre alte Bekannte Beate, die völlig aufgelöst um Heides Hilfe bittet. Beates Schwager, Gerald Schöllen, ist seit mehreren Tagen spurlos verschwunden und Beate nun davon überzeugt, dass er Opfer eines Verbrechens wurde. Heide beschließt, ihrer Freundin in der Vermisstensache zu helfen. Sie beginnt mit ihren Nachforschungen in dem Dorf Holte – und ist erstaunt, wie die Menschen dort auf sie reagieren: Beate selbst scheint sich über die Anwesenheit der Freundin nicht wirklich zu freuen und flüchtet sich zu ihrem Freund Thomas Orthes. Simone, die angeblich verzweifelte Ehefrau des Verschwundenen, verbringt ihre Tage bestens gelaunt in der Gesellschaft eines anderen Mannes. Und auch die anderen Bewohner des Dorfes, in dem jeder mit jedem verwandt zu sein scheint, begegnen Heide misstrauisch, geradezu feindselig. Nur mit Mühe gelingt es Heide, immer weitere Neuigkeiten über Schöllen in Erfahrung zu bringen. Bald weiß sie: Er war nicht nur ein knallharter Geschäftsmann, sondern auch ein dominanter und oft brutaler Ehemann und Vater. Fast jeder in seinem Umfeld hätte ein Motiv gehabt, ihn aus dem Weg zu schaffen.
Während Heide versucht, Licht in das Dunkel der verstrickten Beziehungen zu bringen, taucht plötzlich die Leiche eines Mannes auf …
Die Autorin
Joana Brouwer, geboren 1951, war einige Jahre im Schuldienst tätig und arbeitete danach in einem Architekturbüro. Sie ist die Mutter dreier erwachsener Kinder und lebt mit ihrem Mann in Nordhorn.
Joana Brouwer
Der Puppenfänger
Ein Emslandkrimi
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
ISBN 978-3-8437-0441-0
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © Plainpicture
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Für meinen Mann
PROLOG
Frühling 1992
Erst als die Rufe verstummt waren, blieb sie atemlos stehen und warf sich bäuchlings in eine Mulde. Sie presste die Arme an den Oberkörper, drückte das Gesicht in den Waldboden und schloss die Augen. Ein modrig-süßer Geruch stieg ihr in die Nase. Sie unterdrückte das Schluchzen, das ihr die Kehle zuschnürte, und versuchte ruhiger zu werden.
Einen Moment meinte sie, der eigene, viel zu schnelle Herzschlag werde sich auf den Erdboden übertragen, den Wald zum Beben bringen und damit ihr Versteck und ihre Angst verraten. Wenige Zentimeter neben ihrem rechten Handgelenk entdeckte sie einen Ameisenhaufen. Sie dachte an ihre Schwester und daran, was sie ihr raten würde, wenn sie könnte.
Sie war allein und war es nie zuvor gewesen. Rundum war es totenstill, die Bewohner des Waldes schwiegen. Nur ab und an hörte sie das leise gleichmäßige Surren eines Autos, das weit entfernt über die Kreisstraße fuhr.
Ganz in der Nähe gab es einen Bach, das wusste sie sicher. Sie und ihre Schwester waren oft durch den Wald dorthin gelaufen und hatten sich ihrem Elternhaus von der Rückseite aus genähert. Dieser Bachlauf war ihr Ziel. Wollte sie ihren Verfolgern entkommen, musste sie ihn erreichen. Sie schärfte ihre Sinne und lauschte konzentriert. Doch sie hörte es nicht, das leichte Plätschern des Wassers, das sie mehr herbeisehnte als alles andere, was sie je in ihrem Leben gewünscht hatte.
Nachdem sie ruhiger geworden war, drehte sie sich behutsam auf den Rücken und blickte einen Moment in das dichte, grüne Blätterdach, das den Himmel fast verdeckte und die Morgensonne aussperrte. Sie wartete ab, lauschte, ordnete die vertrauten Töne des Waldes und setzte sich vorsichtig auf. Rundum war kein Geräusch zu vernehmen, das das Herannahen eines anderen Menschen verriet. Als sie ihre zerkratzten, bloßen Beine sah, begann sie wieder zu weinen. Ihre Haut war übersät mit schmutzigen, blutigen Kratzern, die unzählige Brombeerranken geritzt hatten. Ihr Rock war zerrissen, in den offenen Haaren fühlten ihre wunden Finger morsche Zweige und Laub. Den rechten Fuß konnte sie kaum bewegen.
Irgendwann auf der Flucht durch den Wald hatte sie eine Sandale verloren, war weitergestürmt, so schnell sie konnte, hatte versucht, die beißenden, unerträglichen Schmerzen zu ignorieren, war auf allen vieren durchs Unterholz gekrochen, durch modrig-weiche Blätterdecken gerobbt, die Verfolger ganz nahe und ihr eintöniges, schändliches Rufen in den Ohren.
Mit ihren schmutzigen Händen wischte sie die Tränen weg, zog ihre Strickjacke aus, wickelte sie um den Fuß und verknotete die Ärmel über dem Knöchel. Sie musste gefasst sein, ihre Angst unterdrücken, versuchen, logisch zu denken.
Die Männer waren zu zweit und stärker als sie, aber sie kannte den Wald − nicht so gut wie ihre Schwester ihn kannte, aber gut genug, um ihnen zu entkommen. Noch während sie überlegte, was klüger war, die Flucht fortzusetzen oder vorerst abzuwarten, hallten die Stimmen wieder zu ihr herüber. Ihre Jäger riefen im Takt, wie sie es die ganze Nacht über getan hatten, abwechselnd, aber im gleichen Rhythmus.
Sie kroch los, suchte verzweifelt Deckung im Unterholz, rappelte sich auf, als die Stimmen aus zwei verschiedenen Richtungen näher kamen und stetig lauter in ihren Ohren dröhnten.
»Wo bist du, Puppe?«, hallte es von der einen Seite, und gleich nachdem dieser Ruf verstummt war, von der anderen: »Wo bist du, Puppe?«
Sie rannte, so schnell es der Waldboden unter ihren Füßen zuließ, spürte ihren Herzschlag klopfend in der Halsschlagader, in der Brust, im Kopf, keuchte, stolperte und fiel, als Hände nach ihr griffen.
Mittwoch, den 13. April 2011
Heide wurde von einer unerträglich lauten Musik geweckt, die sie im Halbschlaf zuerst nicht einordnen konnte. Als sie begriff, dass ihr Handy klingelte, begann ihr Herz zu rasen. Dieter Fuchs, ihr Liebster, der sich ab und an als rechter Scherzbold erwies, ließ sich fast monatlich etwas Neues einfallen, um seinen Schabernack mit ihr zu treiben. Am letzten Sonntag hatte er ihr ein neues Handy geschenkt, ihm den Namen Miss Marple gegeben und die Titelmelodie der Miss-Marple-Serie als Klingelton hochgeladen. Heide hatte die Melodie bisher nicht gelöscht, sich aber auch noch nicht an sie gewöhnen können.
Nächtliche Telefonanrufe kündeten stets familiäre Katastrophen an. Dieters Schussverletzung und auch den Herzinfarkt ihres Vaters hatte man ihr in der Nacht über das Telefon mitgeteilt. Doch da ihr Liebster neben ihr lag und ihr Vater bei bester Gesundheit war, musste einem anderen ihrer zahlreichen Familienmitglieder etwas zugestoßen sein. Hastig schob sie Dieters Arm zur Seite, registrierte an seinem unwilligen Knurren, dass er ebenfalls wach geworden war, und sprang aus dem Bett.
Während ihr grauenvolle Bilder durch den Kopf schossen, rannte sie durch die finstere Wohnung, stolperte vor der Badezimmertür über Dieters gepackte Reisetasche und in der Diele über ihre Pumps. Sie verfluchte Agatha Christie samt ihrer Miss Marple und die kindischen Scherze ihres Kommissars, durchsuchte an der Garderobe fahrig die Taschen ihrer Jacken und entdeckte den Verursacher des Lärms letztendlich in ihrer Handtasche.
Erst als sie den Namen ihrer ehemaligen Kommilitonin Beate Buttenstett hörte und gleich darauf auch deren Stimme erkannte, schaltete sie die Dielenbeleuchtung ein und eilte mit Miss Marple in die Küche. Dort nahm sie Dieters Pullover, den er achtlos auf die Essbar geworfen hatte, setzte sich an den Tisch, legte den Pulli über ihre nackten Beine und die Füße auf einen Stuhl. Sie schluckte den Ärger über die späte Ruhestörung hinunter und stellte sich gedanklich auf ein längeres Telefongespräch ein.
»Was ist passiert, Beate?«
»Simones Mann ist verschwunden. Du musst ihn finden.«
»Und seit wann ist er …«, sie zögerte. »Verschwunden?«
»Seit Montag.«
»Seit Montag«, plapperte Heide verschlafen nach, rief sich jedoch augenblicklich zur Disziplin. Schließlich war sie kein Papagei. Während sie Beates Stimme lauschte, angelte sie sich einen Notizblock und einen Stift vom Sideboard, warf einen Blick auf die Küchenuhr und stellte fest, dass noch eine halbe Stunde bis Mitternacht fehlte. Es war also früher, als sie beim Aufwachen angenommen hatte. Trotzdem! Kein einigermaßen zurechnungsfähiger Mensch – auch nicht Beate Buttenstett – griff zu dieser Zeit zum Telefon, um aus lauter Jux und Tollerei derlei Gruselmeldungen zu verbreiten. Beate hatte das Recht, angehört zu werden.
Dieter betrat die Küche. Er fuhr mit seiner Hand unter Heides T-Shirt, streichelte ihren Rücken, drückte sein Gesicht in ihr Haar und küsste ihren Nacken, ehe er sich neben sie setzte. Sie warf ihm einen knappen, skeptischen Blick zu. Immer öfter hatte sie in den letzten Monaten den Eindruck gewonnen, dass er ihre Privatsphäre nicht respektierte und ihren Freiraum zu sehr beschnitt. Zu dem, was sie unter Freiraum verstand, zählte sie auch Telefongespräche. Insbesondere, sobald sie ihre Detektei betrafen.
»Ich begreife nicht, dass du dich nicht früher bei mir gemeldet hast, Beate«, sagte sie und schob Dieters Hand zur Seite, die er auf ihr Knie gelegt hatte. »Wenn ich dich richtig verstanden habe, vermisst deine Schwester ihren Mann schon seit Montag, und du holst mich aus dem Schlaf, um mir diese Neuigkeit drei Tage später mitzuteilen. Habt ihr die Polizei verständigt?«
»Ich bin die Polizei«, knurrte Dieter. »Sag dem Störenfried, er soll dich in Ruhe lassen und mit mir reden!«
Heide sah ihn an, schüttelte missbilligend den Kopf und deckte die Sprechmuschel des Hörers ab. »Leg dich ins Bett und schlaf. Es ist alles in Ordnung.«
»Diese sturen Korinthenkack …«, schrie Beate in den Hörer. »Diese sturen Beamten hocken auf dem Kommissariat, warten seelenruhig ab und unternehmen nichts.«
Dieter war noch näher gerückt und bemühte sich, jedes Wort, das durch den Hörer drang, zu verstehen. Er runzelte verärgert die Stirn und murmelte: »Korinth …, meint sie etwa mich?«
Es gefiel Heide nicht, dass er an ihr klebte, während sie telefonierte, und jedes gesprochene Wort aufnahm, als gelte es ihm. »Beate Buttenstett, eine Bekannte«, raunte sie ihm ungeduldig zu. »Ihr Schwager ist seit Montag verschwunden, und sie möchte, dass ich …« Noch ehe sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, war sie plötzlich hellwach und bereute ihre unbedachte Redseligkeit. Falls sie der Bitte ihrer Bekannten tatsächlich nachkam, war eine Auseinandersetzung mit Dieter zwar nicht zu vermeiden, aber auf gar keinen Fall wollte sie diese Auseinandersetzung heute Nacht führen.
»Du fischst nicht in meinem Teich, von der Heide«, zischte Dieter drohend. Er stand auf, holte eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank, tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn, schaute sie finster an und verließ die Küche.
»Verstehst du, Heide?«, klang Beates Stimme schrill durch den Telefonhörer. »Verstehst du? Die Bullen reagieren nicht. Nichts! Rein gar nichts machen sie, Heide! Sie sitzen untätig auf ihren Ärsch…, entschuldige. Sie warten, bis man irgendwann Geralds Leiche findet, aber dann … dann ist es zu spät.«
Beates kurzzeitiger Ausflug in das Gemütsland Wut endete erneut im Land des Jammers. »Inga und Paula vermissen ihren Papi. Sie fragten nach ihm, und heute wollten sie ohne die Gutenachtgeschichte, die er ihnen jeden Abend vor dem Zubettgehen vorliest, nicht einschlafen. Simone ist verzweifelt. Sie liebt ihn so sehr, und ich befürchte, sie bringt sich um, wenn ihm etwas zugestoßen ist.« Beate schluchzte.
Heide kannte Beates Schwester lediglich oberflächlich. In ihrer Erinnerung sah sie eine sehr schlanke, attraktive Blondine, die mindestens zehn Jahre jünger war als Beate. Damals waren Heide besonders die lockigen, seidig schimmernden Haare aufgefallen, auf deren Pflege Simone ganz offensichtlich sehr viel Wert legte. Aus früheren Erzählungen wusste sie, dass Simone bis zu ihrer Heirat als Floristin in einem angesehenen Osnabrücker Blumengeschäft gearbeitet hatte, dass ihr Ehemann Gerald Schöllen hieß, mehrere Fitnessstudios besaß und als ziemlich wohlhabend galt.
»Habt ihr über eine Entführung nachgedacht?«
»Ja!« Beate hatte sich beruhigt und die Lautstärke ihrer Stimme dem neuen Gemütszustand angepasst. Heide hörte Musik und Geräusche, die darauf hindeuteten, dass ihre Gesprächspartnerin sich nicht allein im Zimmer aufhielt. »Selbstverständlich haben wir zuerst angenommen, Gerald könnte entführt worden sein, aber es ist bisher kein Erpresserschreiben eingegangen«, erklärte Beate. »Simone ist bereits Montagabend nach Lingen aufs Kommissariat gefahren, um ihn als vermisst zu melden. Sie ist auf taube Ohren gestoßen. Dabei sind wir uns sicher, dass er nicht freiwillig … Er ist so ein liebevoller Ehemann und Vater.« Beate begann erneut zu weinen. Heide hörte sie schluchzen und leise murmeln: »Lass nur, es geht schon. Ich danke dir!«
»Du bist nicht allein, Beate? Ist Simone bei dir?«
»Nein, Tommy, Thomas Orthes ist bei mir. Er hat mir eine Tasse Tee gebracht. Du kennst ihn nicht. Bei mir hat sich privat einiges getan, seitdem wir uns das letzte Mal getroffen haben!«
Heide beschloss, sich jede Frage nach Thomas oder Tommy zu verkneifen, um das Gespräch nicht noch weiter in die Länge zu ziehen. »Könnte es sein, dass Gerald irgendjemanden besucht?«, fragte sie. »Verwandte oder Freunde? Irgendjemanden, den Simone vielleicht nicht kennt. Irgendeine Frau aus einer Zeit vor ihrer Hochzeit?«
»Das ist völlig ausgeschlossen!«
Nichts ist ausgeschlossen, liebste Beate, schoss es Heide durch den Kopf. Mein Ehemaliger, der Herr Staatsanwalt Hammer, ist vor vier Jahren zwar nicht klammheimlich verschwunden. Aber er hat sich auf eine Art und Weise von mir verabschiedet, die mindestens ebenso verletzend war. Er hat sich mit dieser dämlichen Kuh Patricia in flagranti von mir in unserem Schlafzimmer erwischen lassen. Heide atmete tief durch, wunderte sich ein wenig, dass der fast vergessene Schmerz sachte in ihrer Magengrube klopfte, und erwiderte betont gleichgültig: »Du kennst doch diese dubiosen Geschichten, Beate. Sie beginnen mit dem Satz: Ich hole Zigaretten und enden …«
»Gerald hat niemanden außer Simone und den Kindern«, unterbrach Beate sie resolut. »Er liebt sie. Seine Eltern leben nicht mehr, Geschwister hat er nicht. Auch keine engen Freunde. Bei den gemeinsamen Bekannten und Geschäftspartnern haben wir uns bereits nach ihm erkundigt. Er würde seine Familie niemals freiwillig allein zurücklassen. Das musst du mir glauben, und du musst dich um diese Sache kümmern. Wenn nicht für mich als Freundin, dann betrachte meine Bitte als Auftrag.«
»Wo hat Simone ihn kennengelernt?«, fragte Heide misstrauisch. Menschen, die weder Verwandte noch Freunde oder Bekannte vorweisen konnten, waren ihr äußerst suspekt.
»Sie haben sich in einer Osnabrücker Diskothek getroffen. Meiner Schwester zuliebe hat er hier im Ort gebaut. Sie besitzen ein herrliches Haus, das wunderschön und sehr teuer eingerichtet ist. Geralds Fitnessstudios sind wahre Goldgruben. Falls ich dich nicht davon überzeugen kann, dass er seine kleine Familie nie und nimmer freiwillig verlassen würde, hilft es vielleicht, dich an seinen geschäftlichen Erfolg zu erinnern. Warum sollte er alles, was ihm wichtig ist, zurücklassen, Heide? Nenne mir ein einziges, treffendes Argument.«
Etwas Zweibeiniges, schoss es Heide durch den Kopf. Eine andere Frau, eine, die jünger ist als Simone, eine hübschere. Eine, die ihren Körper in einem seiner Fitnessstudios drillt, eine, in deren Gesicht sich keine Runzeln an den Augen zeigen. Nicht wie bei dir, liebste Heide, die du gerade heute Abend beim Abschminken zu deinem Ärger wieder einmal zwei neue Fältchen entdeckt hast. Vielleicht ist dem treusorgenden Ehemann und Vater eine Gazelle über den Weg gelaufen, eine gertenschlanke Schönheit, die morgens auf der Waage nicht entsetzt feststellt, dass es ihr bis zum Monat April nicht gelungen ist, sich zwei Kilo Weihnachtsmarzipan abzutrainieren oder abzuhungern.
Während sich Heide die eigenen Unzulänglichkeiten vor Augen führte, erzählte Beate, Gerald sei nur ein einziges Mal über Nacht nicht nach Hause gekommen. Und das wirklich nur …, weil er …, und das müsse man ihm unbedingt glauben, denn …
Schläfrig lauschte Heide der Stimme am anderen Ende der Leitung und fragte sich verwundert, ob Beate beschwipst, gar betrunken war, oder welchen Grund es geben könnte, zu nachtschlafender Stunde über ein Problem lamentieren zu wollen, das bereits mehrere Tage alt war. Beates Hilferuf war zur falschen Zeit gekommen. Zu früh oder zu spät, je nachdem, von welcher Seite man diese unleidliche Angelegenheit betrachtete.
Irgendwann hatte der nächtliche Quälgeist endlich sein Ziel erreicht. Obwohl Heides Instinkt sich wehrte und ihr Gefühl laut Hände weg! schrie, versprach sie, sich der Vermisstensache Gerald Schöllen anzunehmen.
*
Heide ging ins Schlafzimmer und stellte dort augenblicklich fest, dass Dieter seinen Gefühlen nachgegeben hatte und ihr auf äußerst anschauliche Art seinen Unmut mitteilte. Er hatte die Tagesdecke zusammengerollt und sie als unübersehbare Barriere in die Mitte des Doppelbettes gelegt.
»Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende, Herr Kommissar!«, spöttelte sie, als sie auf ihrer Seite der Schlafstätte unter die Federn kroch.
»Wie recht du hast«, stimmte er zu. »Ich strafe möglicherweise mich und nicht dich. Es macht wahrlich keinen Spaß, eine Decke zu umarmen.« Er warf das selbst geschaffene Hindernis auf den Teppichboden und streckte die Arme nach ihr aus. »Streiten wir uns jetzt gleich, oder verschieben wir die Auseinandersetzung auf morgen, meine Schöne?«
»Wir müssen nicht zanken«, erwiderte sie gegen besseres Wissen. Sie schmiegte sich an ihn, legte ihren Kopf auf seine Brust und schaltete die Nachttischlampe aus.
»Du hast deine Bekannte darauf aufmerksam gemacht, dass du dich auf Wirtschaftskriminalität spezialisiert hast und ihr deswegen nicht helfen kannst? Du hast ihr erzählt, dass du mir versprochen hast, nicht in meinen Gewässern zu schippern, und sie an die Polizei verwiesen?«
»Nein, habe ich nicht.«
»Du hast diesen Auftrag angenommen?«, vergewisserte er sich in einer Tonlage, die man durchaus als drohend bezeichnen durfte.
»Ja!«, erwiderte sie mit Nachdruck. »Das habe ich.«
»Na dann gute Nacht, von der Heide!« Dieter machte Licht, schob sie von sich, setzte sich abrupt auf und stand in Windeseile vor dem Bett. Die Augen leicht zusammengekniffen, die Lippen aufeinandergepresst, sah er auf sie herunter. Sie kannte diese Mimik und den dazugehörigen mahnenden Klang seiner Stimme und wappnete sich. Vorsicht war geboten. Ein Gewitter zog auf!
»Wie sagtest du so treffend?«, fragte Dieter. Er bückte sich und hob die Decke auf. »Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende?«
»Ja! Genau diesen Ratschlag habe ich dir soeben gegeben. Fein, dass du ihn annimmst«, spöttelte sie. Ab und an benahm er sich wie ein Kind, dem man das Lieblingsspielezeug weggenommen hatte.
»Für mich endet die heutige Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer, von der Heide.«
»Das wundert mich nicht«, erwiderte sie ironisch. »Aber nur zu. Geh! Ich werde dich nicht am Bettpfosten festbinden.«
»Ich will nicht neben einer Frau liegen, die ihr Versprechen nicht hält«, giftete er und sah sie mit temperamentvoll blitzenden Augen an.
»Du benimmst dich wie ein kleiner Junge, der seinen Willen nicht bekommt«, funkte sie zurück und erwiderte seinen Blick mit der gleichen Leidenschaft, die ihr entgegenschlug.
»Musst du immer das letzte Wort haben?«
»Ja! Das trainiere ich täglich! Täte ich es nicht, würdest du jeden Streit gewinnen und mich langsam, aber gründlich platt walzen.«
»Schlaf gut! Oder besser: Schlaf nicht gut. Falls du es dir anders überlegst, darfst du mich rufen!«, erwiderte er kühl, ehe er das Schlafzimmer verließ und die Tür mit einem Knall hinter sich schloss.
»Darauf würde ich nicht warten«, rief sie ihm nach, so laut sie konnte.
*
Auf dem Weg in sein unbequemes Nachtquartier schnappte Dieter sich seine Aktentasche, die er unter den Garderobentisch geschoben hatte. Er knipste eine Stehlampe an, warf die Decke aufs Sofa und zog seinen Laptop aus der Tasche. Nachdem er die Wohnzimmertür hinter sich geschlossen hatte, setzte er sich mit dem Rechner auf dem Schoß auf sein provisorisches Bett. Es dauerte nicht lange, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Sein Gedächtnis hatte ihn nicht getäuscht. Doch das Gefühl des Triumphes verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. Einen Moment überlegte er, Heide sofort über Schöllens kriminelle Vergangenheit zu informieren, entschied sich allerdings dagegen. Wie hatte sie ihn genannt? Einen kleinen Jungen, der beleidigt war, sobald er seinen Willen nicht bekam. Heute Nacht würde er sie schmollen lassen und ihr die Neuigkeit erst morgen beim Frühstück auftischen. Eine Weile suchte er noch nach dem Namen Buttenstett, fand aber keinen Eintrag. Sie tauchte in seiner Datei nicht auf. Zumindest Heides Auftraggeberin schien unbescholten zu sein.
Heide konnte entsetzlich stur sein. Eine Eigenschaft, die ihm mehr als vertraut war, weil Eigensinn und Hartnäckigkeit auch einen großen Teil seines Charakters ausmachten. Geliebt hatte er Heide bereits, als er achtzehn Jahre alt gewesen war. Beide hatten sich einige Ausrutscher in ihrem Liebesleben geleistet. Er mehr als sie, aber erst, nachdem sie sich von ihm getrennt hatte. An diese Zeit, die er insgeheim seine Sturm-und-Drang-Zeit nannte, dachte er nicht gerne zurück. Er hatte zu viele unbedachte Versuche mit zu vielen Frauen unternommen, die ihm zu viele Probleme eingebracht hatten. Doch mittlerweile hatten Heide und er das Wesentliche begriffen, und die Situation zwischen ihnen war hoffentlich ein für alle Male geklärt. Sie waren ein Paar und würden gemeinsam alt werden. Um daran keine Zweifel aufkommen zu lassen, wollte er morgen die ersten Friedensverhandlungen mit seiner Auserwählten einleiten und sie zum hundertsten Male oder öfter bitten, ihn endlich zu heiraten. Sobald er aus Hannoversch Münden zurück war, würde er für sie kochen. Das hatte er inzwischen ihretwegen gelernt, weil dieser verflixte Staatsanwalt Alexander Hammer – wollte man dem allgemeinen Gerede Glauben schenken – ein exzellenter Koch war und Heide ständig die köstlichsten Gerichte serviert hatte. Vielleicht sollte er ein Steak braten, das gelang ihm wie keinem anderen. Er war ein begnadeter Steakbrater. Außerdem fehlte ihr, wenn er ihr nur mageres Fleisch kredenzte und dazu einen leckeren Salat anbot, der Grund, unentwegt über Kalorien zu sprechen. Rotwein! Ja! Sehr gut. Vorweg ein Gläschen Prosecco und als Dessert eine Schokoladenmousse. Oder besser eine Quarkspeise? Eis! Eis war ausgezeichnet. Er würde Schokoladeneis für seine Schöne kaufen, es in Schälchen füllen und einen Schuss Eierlikör darüber gießen.
Nachdem dieser Vorsatz gefasst war, schaltete er das Licht aus und gab sich die größte Mühe, endlich einzuschlafen. Das Sofa war zu kurz und nicht breit genug. Sollten Heide und er irgendwann neu möblieren, würde er dafür sorgen, dass eine Sitzgelegenheit angeschafft wurde, auf der er sich nach einem Ehestreit ausstrecken konnte. Denn Meinungsverschiedenheiten würde es in ihrer Ehe – Gott sei’s gedankt – immer geben, da war er sich sicher. Streit war das Salz, das ihr Zusammensein würzte. Ohne eine ordentliche Prise Salz schmeckte kein Gericht. Ganz gleich wie viel Mühe man sich bei der Zubereitung gab.
*
Es gab keinen Grund, den Wünschen einer Bekannten nachzugeben, zu der sie bereits seit längerem keinen Kontakt gehabt hatte, überlegte Heide, als sie sich in ihre Schlafposition rollte. Sie hatte Beate am Anfang ihres Studiums in einer Vorlesung kennengelernt. Eine kurze Zeit hatten sie einen gemeinsamen Bekanntenkreis gehabt, der allerdings auseinandergebrochen war, als Beate das Studienfach gewechselt hatte. Falls das plötzliche Verschwinden des Herrn Gerald Schöllen Dimensionen annahm, für die ausschließlich ihr Liebster, der Herr Kriminalhauptkommissar, und seine Kollegen zuständig waren, riskierte sie einen weitaus größeren Ärger mit ihm als den, den sie soeben erlebt und beinahe genossen hatte. Andererseits ging sie, was das betraf, kein besonders großes Risiko ein, denn sie würde jede Wette darauf abschließen, dass Beates Schwager sich mit einer unbekannten Schönheit davongemacht hatte und bald wieder auftauchte. Höchstwahrscheinlich verbrachte er sonnige Tage mit seiner frischen Liebe an einem weißen Sandstrand und tollte in heißen Nächten mit ihr in den zerwühlten Laken eines Hotelbettes. Oder Gerald Schöllen bot einer hilfsbedürftigen Patricia seine breite Brust zum Schutz. Genau wie der untreue Alexander es gemacht hatte, überlegte Heide. Mit Unmut registrierte sie, dass zu dem flauen Gefühl im Magen eine ohnmächtige Wut hinzugekommen war. Sie musste sich beruhigen. Empfindungen dieser Art nahmen zu viel Raum ein und hinderten sie am Einschlafen. Hätte Alexander sich ihr gegenüber nur ebenso loyal verhalten wie sie sich gegenüber Dieter, hätte sie ihm verzeihen können. Sie hatte mit Dieter Schluss gemacht, ehe sie mit Alexander ins Bett gestiegen war.
Süß und klebrig – wie Zuckerwasser – hatte Patricia sich mit ihrer vermeintlichen Lebensschwäche über Alexander ergossen und ihm den Verstand geraubt. In eine gut funktionierende, erfüllte Partnerschaft konnte niemand so leicht eindringen, wies sich Heide selbst zurecht. Zumindest diese Erfahrung hatte sie gemacht. Sie wusste auch, dass weder sie selbst noch Alexander während des letzten Jahres ihrer Beziehung wirklich glücklich gewesen war. Nicht nur ein Mal hatte sie ihn mit ihrem Kommissar verglichen, dem sie beruflich oft über den Weg gelaufen war und der sie ständig an gemeinsame Zeiten erinnert hatte.
Sie zog Dieters Kopfkissen zu sich und drückte ihr Gesicht hinein. Der Bezug duftete ganz leicht nach seinem Rasierwasser. Dieter und sie wohnten zwar in getrennten Wohnungen, aber beide nahmen abwechselnd die Fahrt von Nordhorn nach Osnabrück und zurück auf sich, um nicht getrennt voneinander schlafen zu müssen. Das Bett erschien ihr für eine Person viel zu breit und zu lang. ›Kingsize‹, hatte der blonde Dieter, der größer als ein Meter neunzig war, gemeint, als sie das Schlafzimmer neu möblierten. ›Ich will Kingsize mit Überlänge, meine Schöne, denn ich möchte es mir in der Lasterhöhle längs und quer bequem machen und so richtig meine Beine ausstrecken.‹
Sie musste endlich einschlafen, beschloss Heide und befürchtete gleichzeitig, dass es ihr nicht gelingen würde. Sie kannte den Zustand, in dem das Gedanken-Karussell sich zu drehen beginnt und nicht mehr zu stoppen ist, sehr gut. Deswegen wollte sie auf der Stelle an etwas Schönes denken und auf gar keinen Fall länger an den sturen Dieter, der im Wohnraum allein auf dem Sofa lag. Erst recht wollte sie nicht über Alexander nachgrübeln. Vorbei war vorbei. Sie hatte mit diesem Kapitel ihres Lebens abgeschlossen, und sie wünschte sich diesen Mann auf gar keinen Fall zurück. Der Schuft hatte ihr bis dahin heiles Männerbild zerstört und Misstrauen gegen jedes erwachsene männliche Wesen in ihr gesät. Das würde sie ihm niemals verzeihen. Auch ihre Beziehung zu Dieter litt darunter, denn seit der Trennung von Alexander war sie eifersüchtig. Allein der Gedanke an diese schändlichen, absolut beschämenden Empfindungen trieb ihr die Röte ins Gesicht und ließ ihr Herz schneller schlagen. Niemals durfte Dieter erfahren, dass sie ihm misstraute.
›Ich will gebraucht werden. Du brauchst mich nicht‹, hatte Alexander Hammer ihr beim Abschied vorgeworfen. ›Du kommst wunderbar allein zurecht.‹ Zumindest mit dieser Aussage hatte der Herr Staatsanwalt ins Schwarze getroffen. Er sollte sich – verdammt noch mal – sofort zum Teufel scheren und in die Vergangenheit abtauchen. Sie kam tatsächlich wunderbar ohne ihn klar und brauchte gerade ihn, diesen hinterhältigen Betrüger, ganz bestimmt nicht.
Noch heute war sie ihrem Herrgott dankbar, dass ihre Hausbank ihr ein Hypothekendarlehen gewährt und sie so in die Lage versetzt hatte, Alexander seinen Anteil an der heißgeliebten, gemeinsam angeschafften Altbauwohnung in der Marienstraße abzukaufen. Um Miete zu sparen hatte sie ihre Büroräume in der Dielingerstraße gekündigt und die Detektei in die Privatwohnung verlegt. Ihre Mitarbeiterin Helen Schneider hatte einen Platz in Alexanders ehemaligem Arbeitszimmer gefunden, sie selbst im früheren Mal- und Gästezimmer. Das Esszimmer hatte seither die Funktion eines Besprechungsraumes übernommen, und ihre Staffelei stand jetzt auf einem alten Teppich vor der Balkontür in der geräumigen Küche. Was eigentlich recht praktisch war, da der Fliesenboden sich gut reinigen ließ. So konnte sie unbesorgt großzügig mit ihren Acrylfarben umgehen und danach Farbspritzer rund um den Schutzteppich mit Aceton entfernen.
Verdammt! Sie wollte endlich zur Ruhe kommen und nicht mehr über olle Kamellen lamentieren! Verzweifelt drehte sie sich auf den Rücken, zog Dieters Kissen über den Kopf und begann, Schäfchen zu zählen. »Ein Schäf-chen springt ü-ber den Zaun. Zwei Schäf-chen sprin-gen über den …«, murmelte sie rhythmisch und klopfte dabei im Takt der Silben ungeduldig mit ihren Fersen auf die Matratze. Ehe sie bis zehn gezählt hatte, gab sie resignierend auf und ließ die Gedanken erneut fließen.
Einige Tage nach der Trennung von Alexander war sie fast sicher gewesen, niemals wieder festen Boden unter den Füßen zu fühlen. Doch nach einer kurzen Zeit der Trauer hatte sie beschlossen, ihren Körper in Hochform zu bringen, damit auch ihre Seele heilen konnte und sie ihr psychisches Gleichgewicht wiederfand. Sie hatte sich zur Wassergymnastik angemeldet und war jeden Morgen durch den Osnabrücker Schlosspark gejoggt. An manchen Tagen hatte sie mehr Stunden im Fitnessstudio als in ihrer Detektei verbracht und sich abends mit ihrer alten Liebe Dieter getroffen, den sie bereits seit Schulzeiten kannte und von dem sie sich wegen Alexander getrennt hatte. Sachte, aber stetig war das winzige Flämmchen der Leidenschaft, das immer verstohlen in ihrem Herzen für den Kommissar geglüht hatte, gewachsen, war aufgelodert und dann – rums! Seither widersprach sie sofort, wenn irgendjemand behauptete, Aufgewärmtes schmecke nicht und sei nicht bekömmlich. Sie genoss jeden Bissen und wies trotzdem – oder gerade deswegen – in schöner Regelmäßigkeit Dieters Heiratsanträge zurück.
Die Kilos, die sie sich während ihrer Unglückszeit abtrainiert hatte, waren im Laufe der Jahre allmählich zurückgekommen. Bei einer Größe von einem Meter und sechsundsiebzig und einem Gewicht von sechsundsiebzig Kilo war sie ganz unbestreitbar zu schwer. Im nächsten Jahr würde sie ihren vierzigsten Geburtstag feiern. Vielleicht konnte sie bis dahin –? Zehn Pfund oder etwas mehr –? Irgendwann hatte sie gelesen, dass Verheiratete eher zum Übergewicht neigten als – egal! Sie war nicht verheiratet und würde es – wenn es nach ihr ging – auch nicht so bald sein, aber sie würde gerne abnehmen. Mindestens drei Kilo, vielleicht auch etwas mehr. Seufzend warf sie Dieters Kopfkissen zurück und schaltete das Licht ein, schob die Bettdecke beiseite, griff nach einem Haarband und fasste ihre brünetten, schulterlangen Haare im Nacken zu einem Knoten zusammen.
Ihre Füße waren eiskalt. Oma Lydias Winterarbeit, ein Paar blau-weiß gestreifte Stricksocken, lag griffbereit auf dem Nachttisch. Sie streifte sie über, stand auf und marschierte in die Küche. Dort warf sie einen Blick auf die Staffelei und musterte ihre jüngste Arbeit, eine Collage mit sehr dünnem Weißblech auf mehrschichtigem Farbuntergrund. Im Großen und Ganzen war sie damit zufrieden. Celia, die Freundin ihres Vaters, würde sich über das Geburtstagsgeschenk freuen. Heide schaltete eine Kochplatte an, nahm eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank, goss die Flüssigkeit in einen Henkeltopf und schob ihn auf den Herd. Sie würde sich bloß einige winzige Schlückchen davon gönnen, den geliebten Honig im Schrank stehen lassen und die verführerische Kakaodose – die ihr ohne Unterlass vom Bord oberhalb der Essbar zuzwinkerte – ignorieren.
Alexander und sie hatten sehr selten miteinander gestritten, überlegte sie, als sie den Topf von der Platte nahm und die Milch in einen Becher goss. Nie war sie auf einen Menschen getroffen, der verantwortungsvoller, vernünftiger und besonnener auf sie gewirkt hatte als er. Und keiner hatte sie so sehr enttäuscht.
Sie setzte sich an den Küchentisch, legte ihre Füße auf einen Stuhl, trank die kochend heiße Milch in kleinen Schlückchen und betrachtete die Fotowand ihrer Lieben vor sich. Genau wie sie in diesem Moment hatte Alexander sich in den Monaten vor ihrer Trennung häufig die Bilder ihrer Nichten und Neffen angesehen, hatte die Babyfotos von den Haken genommen und sie minutenlang angestarrt. Er hatte immer von eigenen Kindern geträumt. Es war wohl sein Schicksal, dass gerade dieser Herzenswunsch sich niemals erfüllen würde. Die Diagnose der Ärzte, an die er sich gewandt hatte, war immer dieselbe gewesen. Zeugungsunfähig! Höchstwahrscheinlich hervorgerufen durch eine Mumpserkrankung, die er sich im Grundschulalter zugezogen hatte.
Heide hatte keinen Gedanken daran verschwendet, dass das Wissen um seine Zeugungsunfähigkeit das Ende ihrer Beziehung einläuten könnte. Schließlich war sie mit der Vorstellung zurechtgekommen, ein Leben mit ihm, aber ohne Kinder zu führen. Seine Bemerkung Ein Mann, der keine Kinder zeugen kann, ist kein Mann hatte sie abgetan und sich bemüht, ihn im Bett das Gegenteil beweisen zu lassen. Doch je mehr Mühe sie sich gegeben hatte, desto häufiger hatte er sich in seine Arbeit verkrochen.
›Wir könnten wählen, Heide. Man kann den Spender nach drei Konstanten bestimmen, der Körpergröße, der Augenfarbe und der Haarfarbe‹, hatte er eines Tages gesagt. Sie hatte sofort gewusst, dass eine Insemination mit gekauftem Fremdsperma sein Selbstwertgefühl nicht stärken konnte und auch, dass diese Möglichkeit für sie nicht in Betracht kam. Allein der Gedanke, das Kind eines Mannes auf die Welt zu bringen, der sein Sperma verkaufte wie ein Zuchthengst, hatte sie angewidert. ›Falls du das als Liebesdienst von mir forderst‹, hatte sie erwidert, ›dann will ich dich nicht länger lieben.‹
Von Patricias Schwangerschaft hatte er ihr an dem Tag erzählt, an dem er seine persönlichen Dinge aus der Wohnung geholt hatte. Um ihn nicht zu kränken, hatte sie nicht gefragt, ob er und seine neue Frau nach seinem Plan vorgegangen waren und das passende Sperma in Kopenhagen ausgesucht hatten. Sie hatte sich nicht danach erkundigt, ob sie einen Spender gefunden hatten, der Alex ähnlich sah, oder ob sie einen Studenten ausgewählt hatten, wie es so häufig empfohlen wurde. Auch Augenfarbe und Körpergröße des Samenspenders oder die Frage, ob man mehrere Portionen des gleichen Spermas auf Vorrat deponiert hatte, falls Geschwisterkinder gewünscht wurden, hatte sie nicht interessiert.
Heide hatte geahnt, dass Patricia mit der Entscheidung für dieses Kind den Preis für das gemeinsame Leben mit Alexander bezahlte. Er hatte ihr entsetzlich leidgetan. Deswegen war sie ruhig geblieben und hatte gemeinsam mit ihm seine Bücher und andere Erinnerungsstücke in Umzugskartons gepackt. Irgendwann später hatte Alexander sie angerufen. Er hatte geweint und ihr erzählt, dass das Kind bei der Geburt gestorben war.
Heide schob die schwermütigen Gedanken beiseite und überflog unwillig die wenigen Notizen, die sie sich während des Telefongesprächs gemacht hatte. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie Beate nie besonders gerne gehabt hatte. Auch Gerald Schöllen interessierte sie im Grunde genommen nicht. Eigentlich war sie sich sogar ziemlich sicher, dass die Vermisstensache Schöllen sich in Wohlgefallen auflösen würde.
*
Gerald Schöllen kauerte auf dem Dielenboden der Hütte. Seine Handgelenke waren mit Handschellen aneinandergekettet, die Fußgelenke mit einem Strick zusammengebunden. Zusätzlich hatte man ein Seil mehrmals um seinen Oberkörper gewickelt, an einem hölzernen Pfosten gesichert, mit den Fußfesseln verbunden und alle Enden hinter seinem Rücken verknotet.
Er wusste nicht, was an dem verhängnisvollen Tag, an dem man ihn entführt hatte, im Einzelnen geschehen war. Als er – mit weit offenem Mund und entsetzlichen Kopfschmerzen – in der Hütte aufgewacht war, hatte sich in seinem Hirn lediglich eine tiefe, schwarze Leere befunden. Seine Entführer mussten ihn auf die brutalste Art und Weise zusammengeschlagen haben, denn nur die Folgen harter Schläge oder gar Tritte konnten die stechenden Schmerzen oberhalb seines Magens und das brennende Pochen in der Lendengegend erklären.
Das letzte Mal, als seine Peiniger ihm, wie an jedem Tag seiner Gefangenschaft, eine Augenbinde umgelegt, die Fußfesseln gelöst und ihn ins Freie geführt hatten, war er wagemutig gewesen. Er hatte auf seinen durchtrainierten Körper und ein wenig Glück vertraut. Statt sich, wie abgesprochen, hinter einem Gebüsch zu erleichtern, hatte er versucht, ihnen zu entkommen. Seit diesem missglückten Fluchtversuch wusste er zwar, dass seine Unterkunft aus einem heruntergekommenen kleinen Wochenendhäuschen bestand, weitab von jeder Zivilisation. Doch dieses Wissen hatte ihm – außer einer feucht-klebrigen Verletzung an der Oberlippe und einer anderen am Hinterkopf – bisher leider nichts eingebracht. Mittlerweile waren die blutigen Schandmale seiner Machtlosigkeit mit schorfigen Krusten überzogen. Sobald er sie behutsam mit den Fingern seiner gebundenen Hände ertastete, erinnerten sie ihn daran, dass seine Kidnapper gnadenlos ihre Waffe einsetzten und keinerlei Skrupel kannten, einen gefesselten wehrlosen Mann bewusstlos zu schlagen.
Irgendwann – es musste gestern früh gewesen sein – war er aus seiner Ohnmacht aufgewacht. Er hatte eine gefüllte Wasserflasche zwischen seinen Oberschenkeln vorgefunden, die er mit seinen gebundenen Händen gut fassen konnte. Schöllen, der es gewohnt war, viel und hastig zu trinken, hatte den Verschluss geöffnet und die Flasche in einem Zug geleert. Erst als seine Blase ihn drückte und er sich nicht länger zurückhalten konnte, war ihm klar geworden, dass er nicht wusste, wann man ihm erlauben würde, eine Toilette aufzusuchen. Auch wusste er nicht, wie lange er warten musste, bis jemand kam, um ihm erneut zu trinken zu geben.
Jetzt verfluchte er seine Unbeherrschtheit und schämte sich beim Anblick der leeren Flasche und seiner klitschnassen Hose. Jeder Muskel an seinem Körper schmerzte. Er hatte Kopfweh und verspürte einen brennenden, quälenden Durst. Beides erinnerte ihn an die unzähligen Saufabende, die er mit allen Sinnen genossen hatte, und an das darauffolgende Aufwachen, das er mit der gleichen Leidenschaft gehasst hatte. Ab und an fuhr er mit der Zunge über seine Lippen, die sich spröde und rissig anfühlten. Egal, wie lange er warten musste, bis man ihm etwas gegen seinen unerträglichen Durst bringen würde, er wollte sich die Flüssigkeit gewissenhaft einteilen, sie in winzig kleinen Schlücken zu sich nehmen und jeden einzelnen Tropfen auskosten.
Wenn er den Kopf hob, blickte er auf ein altertümliches Bettgestell aus Metall. Daneben stand ein rechteckiger Tisch, davor zwei Stühle. Auf einem von ihnen hatte ein geschlechtsloses, vermummtes Wesen, das wahrscheinlich eine klitzekleine Rolle in dem großen Drama seiner Entführung spielte, einen Laptop platziert. Aus dem Gerät klang – in einer nicht endenden Dauerschleife – eine einzige Melodie, die Gerald mit ihrem immer wiederkehrenden Takt fast in den Wahnsinn trieb. Das TAM Ta Ta Ta, Tam Ta Ta Ta Tam Ta TAM Ta Ta Ta … hinderte ihn am Denken, geisterte durch seine Wachträume und durch seinen Schlaf.
Er wollte leben, sein hart verdientes Geld ausgeben, Ende Mai in die Karibik fliegen, im Herbst in Südafrika auf Fotosafari gehen und zum Jahreswechsel den Schnee genießen. Deswegen musste er die Nerven behalten und ruhig abwarten. Wenn es ums Ganze ging, kam die Zeit des Pokerns. Auch Entführer waren Menschen. Was sie wollten, war nichts Ungewöhnliches. Sie wollten Scheine! Sogar seine Töchter, fast noch Wickelkinder, bettelten ständig um irgendeinen Plastikkitsch, den er bezahlen musste.
Es war wichtig, den Verbrechern klarzumachen, dass sie sich den Falschen gegriffen hatten. ›Vielleicht eine Verwechslung, meine Herren? Solche Dinge passieren. Sieht man ständig im Kino. Dafür habe ich Verständnis‹, würde er sagen, sobald sie zurückkamen. Sicherlich hatte seine Frau bereits die Polizei verständigt. Er war kein Hanswurst, kein Herr Irgendwer! Man würde ihn nicht in diesem Drecksloch verrecken lassen! Man würde ihn suchen. Deswegen durfte er seinen Kidnappern auf gar keinen Fall ein finanzielles Angebot unterbreiten. Klein beigeben war die letzte, wirklich die allerletzte Möglichkeit. Freiwillig wollte er diesen Schweinen nicht einen Euro rüberschieben, keinen einzigen Cent! Er würde ihnen begreiflich machen, dass er sich nicht imstande sah, ein Lösegeld zu bezahlen.
›Ich gehöre – verdammt noch mal – zu der hart arbeitenden Bevölkerung‹, wollte er sagen, ›und nicht zu den oberen Zehntausend. Mein Haus ist mit einer stattlichen Hypothek belastet, die Firma ebenfalls nicht schuldenfrei. Ich habe Verpflichtungen, zahle Gehälter in beachtlicher Höhe, Miete für die Studios, Leasingraten für den Fuhrpark, für meine Karre, für das Auto meiner anspruchsvollen Ehefrau.‹
Als das Geräusch gleichmäßiger Schritte und das Quietschen eines Schlüssels in einem angerosteten Schloss zu ihm drangen, fuhr er zusammen. Freude, Erleichterung und ängstliche Erwartung ließen sein Herz schneller schlagen. Er zwang sich, ruhig durchzuatmen, und richtete seinen Blick gebannt dorthin, wo sich hinter einer Nische die Eingangstür befand.
Zwei schemenhafte Gestalten traten fast geräuschlos ein und ließen den Schein ihrer Taschenlampe suchend durch den Raum wandern. Noch ehe Schöllen den Lichtschein auf seinem Gesicht spürte, ahnte er enttäuscht, dass der Auftraggeber dieser unsäglichen Entführung erneut Lakaien geschickt hatte, um ihn weichzuklopfen. Doch eines war gewiss: Ein Gerald Schöllen ließ sich nicht von zwei Zwergen veräppeln und verhandelte nicht mit Fuzzis aus der zweiten Riege. Sicherlich zog das Würstchen, das jetzt mit einer Pistole in der Hand breitbeinig vor ihm stand, nicht an den Drähten der Macht und traf keine lebenswichtigen Entscheidungen.
Bei den beiden vergangenen Besuchen waren seine Peiniger stumm geblieben. Jetzt begann einer von ihnen mit einer krächzenden, verstellten Stimme zu sprechen. Er redete davon, dass Schöllen nun die andere Seite der Medaille kennengelernt habe und endlich auf der Seite der Schwächeren stehe. Gefesselt und an einem Holzpfosten festgezurrt, sei er nicht länger in der Lage, mit seinen Muskeln zu spielen und seinen durchtrainierten Körper einzusetzen, um Macht auszuüben. Niemals wieder würde er einem Mitmenschen Schaden zufügen.
Schöllen ballte seine gebundenen Hände zu Fäusten, sammelte alle Kräfte, die er besaß, spielte den Uninteressierten und ließ das überflüssige Gerede scheinbar gleichmütig über sich ergehen. Doch in dem Augenblick, in dem der Lichtkegel sich von seinem Körper löste, gab er nach. Er begann zu weinen, obwohl er es nicht wollte. Als eine Deckenlampe, die den Raum lediglich notdürftig ausleuchtete, eingeschaltet wurde, schloss er die Augen und wischte verstohlen über sein Gesicht. Seine Tränen sollten sie nicht sehen. Kleine Kinder plärrten! Rotzlöffel! Er war Schöllen, der sich von niemandem etwas sagen ließ und der seit Jahrzehnten nicht geheult hatte.
Die Gestalt kam näher, hielt erneut die Pistole auf ihn gerichtet, bückte sich, griff überraschend flink nach der leeren Wasserflasche, warf sie fort und stieß mit ihrem Fuß hart in Schöllens Rippen. Schöllen hustete, rang nach Luft, hörte ein erbärmliches Stöhnen, das bis in seinen Kopf dröhnte, und presste die Lippen aufeinander, als er begriff, dass er es war, der diese abstoßenden Töne von sich gab. Keinen Laut, beschloss er. Du sprichst nicht. Du hast stundenlang nach Hilfe gebrüllt, du hast geschrien, bis deine Stimme versagte. Keiner hat dich gehört. Du hockst in einer elenden Hütte, abseits jeder Zivilisation in Gott-weiß-wo. Du wirst ihre Forderungen erfüllen, und zwar zügig. Willst du überleben, Gerald Schöllen? Ja, das willst du! Dann richte dich nach den Anweisungen dieser Geisteskranken und halt die Klappe.
Als er erneut den Fuß an seinen Rippen fühlte, öffnete er die Augen, legte den Kopf in den Nacken und sah im Licht der armseligen Funzel die Sohle eines grünen Gummistiefels, die mehrere Sekunden über seinem Gesicht schwebte und ihm den Angstschweiß auf seine Stirn trieb. Sein Herz raste, ihm wurde schlecht. Er musste sich zusammenreißen, gleichmäßig ein- und ausatmen. Nur nicht ohnmächtig werden. Er konnte es sich nicht leisten, wieder das Bewusstsein zu verlieren. Er musste sie um etwas zu trinken bitten. Wenn er es nicht schaffte, ihnen Wasser abzutrotzen, würde er sterben.