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Das Buch

»Nahaufnahmen« versammelt fünfzig Highlights der Gespräche, die Gero von Boehm in den letzten Jahren geführt hat – unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Ferdinand von Schirach, Daniel Kehlmann, Jonathan Meese, Martina Gedeck, Paul Auster, Anselm Kiefer, Susan Sontag, Daniel Libeskind, Armin Mueller-Stahl, Harry Belafonte, Till Brönner und zahlreichen anderen. Neben bereits legendären enthält der Band neue, bisher unveröffentlichte Interviews – ein höchst anregender, oftmals überraschender Blick hinter die Kulissen des kulturellen Lebens unserer Zeit.

Der Autor

Gero von Boehm, geboren 1954 in Hannover, ist seit mehr als dreißig Jahren ein erfolgreicher TV-Regisseur und -Produzent. In seinen Gesprächsformaten »Wortwechsel«, »Gero von Boehm begegnet ...« oder »Close up« interviewt er Prominente der zeitgenössischen Kulturszene. Die ZDF-Reihen »Deutschland-Saga« und »Europa-Saga« mit Christopher Clark gehören neben großen Porträts und Reportagen zu seinen dokumentarischen Arbeiten.

Gero von Boehm

Nahaufnahmen

Fünfzig Gespräche mit dem Leben

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

Propyläen

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ISBN 978-3-8437-1426-6


© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Vorwort

Mein Freund George ordnet das Treiben unserer Zunft, zu der auch er gehört, dem Vampirismus zu. Wir ernährten uns alle vom warmen Blut unserer Opfer, meint er. Ganz falsch ist das natürlich nicht. Aber die in diesem Buch Versammelten haben sich immerhin freiwillig geopfert und zu jener Form der journalistischen Ernährung, die sich »Interview« nennt, beigetragen. Manche, so schien mir, hatten sogar Vergnügen dabei. Und dennoch: Letztlich spricht, wie schon Montaigne wusste, »niemand über sich ungestraft«. Er schrieb das einst in seinem grandiosen Essay über Die Kunst, sich im Gespräch zu verständigen.

Eine Kunst ist es freilich nicht, ein Interview zu führen, eher schon ein Handwerk. Und das gehorcht noch nicht einmal, wie beim Bäcker oder Tischler, festen Regeln – höchstens einer einzigen: Langweile deinen Gast nie. Denn sonst bekommst du nicht, was du willst. Darüber hinaus hilft der immer halsbrecherische Versuch, eine gewisse Augenhöhe zu erklimmen. Nur dann kann der Gesprächspartner denken: Auch der kennt das Leben, er ahnt, wie es mir ums Herz ist, also kann ich es ausschütten. So kommt man, im besten Fall, mit dem Interviewten auf jene Ebene, die hinter der zurechtgelegten öffentlichen Maske, jenseits der dicken Mauer des Verdrängten und Verborgenen, liegt. Und genau dort wird es interessant. Wenn der Interviewer ein Türchen in der Mauer öffnen kann und der Befragte hindurch geht, beginnt das Spiel eigentlich erst. Ein Spiel, bei dem das Timing – fast – alles entscheidet. Ein längerer Augenblick des Schweigens zum Beispiel, dem der oft entscheidende Satz folgt, ist wertvoller Bestandteil eines guten Interviews.

Hirnforscher wollen übrigens herausgefunden haben, dass besonders neugierige Menschen eine außerordentlich starke Verbindung zwischen zwei zentralen Schaltstellen des Gehirns, dem Hippocampus und dem Striatum, aufweisen. Angeblich macht sich diese Ausprägung bereits in frühester Kindheit bemerkbar. Tatsächlich soll ich schon in zartestem Alter wildfremde Menschen ausgefragt haben. Manchmal blitzte ich ab, doch in der Regel bekam ich Antworten. Der Appetit nach immer mehr hat bei mir seit dieser Zeit nicht im mindesten nachgelassen. Und die erste Frage – frei nach George wäre das der erste »Biss« – fällt mir meist nachts ein. Zugegeben, zum Vampirismus ist es da nicht weit.

David Chipperfield

Berlin, warten auf den Meister. Er ist gerade aus Schanghai zurück, morgen geht es weiter nach New York. Warum fühlt man sich in dem riesigen, hohen Raum mit seinen grauen Betonwänden so wohl? Liegt es an der elfenhaften Evelyn Stern, seiner Frau, die so freundlich umherschwebt? Natürlich auch. Aber vor allem: David Chipperfield baut um den Menschen herum – in diesem Fall um Evelyn und sich selbst, denn es handelt sich um seine private Wohnhalle in Berlin-Mitte. Über den Hof das Büro mit vielen jungen Mitarbeitern. Sir David, leise, zurückhaltend, immer in Schwarzweiß gekleidet, kennt den magischen Schnitt, der anscheinend direkt auf unsere Sinne wirkt. Und der stimmen muss. Das ist ihm wichtiger als die signature, die viele Architekten vor sich her tragen.

GvB: Als Schüler hatten Sie den Ehrgeiz, der schnellste Läufer zu sein. Was bedeutet Ihnen Geschwindigkeit?

Chipperfield: Ich hatte nicht den Ehrgeiz, der schnellste Läufer zu sein. Ich war in einer Boarding School, aber einer zweit- oder drittrangigen, nicht einer der bekannten. Das ist wie ein Internat, wo man drei Monate bleibt und dann wieder nach Hause kommt. Ich war nicht besonders gut in der Schule. Und mir wurde klar, dass es in einer solchen Gemeinschaft wichtig ist, in irgendeiner Sache besser als die anderen zu werden. Ich war einigermaßen sportlich, aber kein besonders talentierter Tennis- oder Fußballspieler. Ich war aber ein recht guter Läufer und erkannte, dass ich noch besser werden könnte, wenn ich Lauftraining machte – dafür interessierte sich sonst keiner. Ich beschloss also, mich über die 400, 800 und 1500 Meter zu verbessern. Da habe ich gelernt, dass ich, wenn ich etwas übte und es mehr als andere wollte, die anderen schlagen konnte. Ich musste meinen Platz finden. Und auf diese Weise habe ich etwas gelernt. Dass man nämlich, indem man sich wirklich auf eine Sache versteift, seine eigenen Grenzen überwinden kann.

GvB: Sie führen ein extrem schnelles Leben, beschäftigen sich mit Hunderten von Projekten in aller Welt. Heute New York, morgen Schanghai, dann wieder ein paar wenige Tage Berlin, wo wir jetzt sprechen. Was hilft Ihnen in Augenblicken der Erschöpfung?

Chipperfield: Schlaf. Und ansonsten meine Familie. Ich habe eine sehr präsente Familie, die mich so weit wie möglich auf dem Boden der Normalität hält. Mich an die wichtigen Dinge erinnert, so dass ich mich nicht so sehr durch andere Perspektiven verwirren lasse.

GvB: Durch Erfolge?

Chipperfield: Nicht so sehr durch Erfolge, sondern durch Ablenkungen vom Eigentlichen.

GvB: Was ist das Eigentliche?

Chipperfield: Ich war immer der Überzeugung, dass in der Architektur so vieles mit dem Menschsein zu tun hat, mit menschlichem Verhalten. Daher sollte man seine eigenen Werte und Einschätzungen über das, was das Leben ausmacht, wie man es führt und wie man es durch die eigene Arbeit anderen vorführt, in Einklang bringen.

GvB: Es ist interessant, dass in der Architektur die Gesellschaft und der Einzelne einander so nahe kommen. Weil die Sinne mitwirken und es nicht nur ein gesellschaftliches Konstrukt ist. Wenn du ein Gebäude betrittst, spielen alle deine fünf Sinne mit.

Chipperfield: Architektur ist so etwas wie eine Nachbildung der Natur. Wenn es gut funktioniert, ist sie eine künstliche Natur. Die Betonung liegt auf Natur, und deshalb sollte Architektur Wohlbehagen erzeugen. Der beste Wertmaßstab eines Gebäudes oder eines Ortes ist der, dass ich mich gern dort aufhalte, wie in der Natur. Man spaziert irgendwo entlang und sagt: Das ist ein schöner Platz zum Hinsetzen. So wie man sagt: Dieses Zimmer ist angenehm, ich halte mich hier gern auf. Nicht wegen des Betons oder der Farbgebung, sondern es erzeugt ein angenehmes Raumgefühl. Architektur hat gleichsam ein Potential, zwischen uns und der Welt zu vermitteln. Wir leben in einer Stadt, wir blicken aus unserem Haus, aus unserem Fenster, und durch dieses Fenster sehen wir die Welt. Architektur hat also einerseits eine Schutzfunktion; wir haben sozusagen eine Mauer um uns herum gebaut, und dann machen wir ein Fenster hinein, und durch dieses betrachten wir die Welt. Architektur hat diese beiden Dinge, die uns einen gewissen Schutz vor den Elementen und vor der Gesellschaft gewähren, uns aber auch mit ihnen bekannt machen und verbinden.

GvB: Demnach muss Architektur einen immensen Einfluss auf unser Gehirn haben, uns sehr stark prägen …

Chipperfield: Ja. Winston Churchill ist nicht berühmt als Baumeister, aber als Denker. Er hat gesagt, dass wir unsere Gebäude machen, und unsere Gebäude machen uns. Ich nehme an, es ist für jemanden, der in Blenheim Palace aufgewachsen ist, folgerichtig, einen so weiten Blick auf die Welt zu haben.

GvB: Architektur ist also eigentlich sehr viel mehr als »gefrorene Musik«, wie Goethe gesagt hat. Aber es ist auch ziemlich gewagt, zu sagen, sie sei nachgebildete Natur. Das bringt mich auf die Frage: Beschleunigung ist zu einem Merkmal unserer Zeit geworden. Kann die Architektur ein Gegengewicht dazu schaffen?

Chipperfield: Ja, ich halte das für möglich. Ja, in gewisser Weise beruht die Architektur auf Qualitäten, die ein bisschen anachronistisch geworden sind. Wir erwarten von ihr so etwas wie Dauerhaftigkeit. Unsere Zeit setzt aber nicht auf Dauerhaftigkeit, sondern auf Wandel und Flexibilität. Architektur beruht auf einer bestimmten Integrität und Qualität in der Art, wie etwas gemacht wird. Das widerspricht unserem Zeitgeist. Unsere Zeit ist eigentlich eine Zeit des Bauens, nicht der Architektur. Wir wollen so schnell wie möglich sein. Weil sich das in klingender Münze auszahlt. Architektur beruht aber eigentlich auf einem Gleichgewicht zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir nicht wissen, einem gewissen Grad von Pioniergeist und vielleicht so etwas wie Innovation. Sobald es um viel Geld geht, gehen wir ins Risiko. Man kennt in der Architektur die Dinge, die ihr immer innegewohnt und ihr Qualität verliehen haben: Vorstellungen von Dauerhaftigkeit, von Substanz, von Handwerkskunst, alle diese Dinge. Die stammen irgendwie aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit. Aber dasselbe kann man auch über unser Essen sagen. Man könnte sagen, dass wir heute Nahrungsmittel in industriellen Mengen produzieren, im industriellen Zuschnitt und Tempo. So dass wir einen Hamburger für drei Euro kaufen können. Doch gleichzeitig gehen Leute ins Restaurant und geben dreißig Euro für ein Stück Fleisch aus, zehnmal mehr, als sie eigentlich müssten. Es gibt diese eigenartige Paradoxie in unserer Gesellschaft. Qualität wird in den grundlegenden, alltäglichen Dingen reduziert. Und dann bezahlen wir viel Geld für die Sachen, die wir verloren haben. Wir begeben uns auf Reisen. Wir geben ein Vermögen dafür aus, irgendwo hin zu reisen, wo wir möglichst einfach leben können. Und wir geben ein Vermögen für ein Abendessen aus, das nicht ganz so gut ist wie das, was unsere Mutter gekocht hat. Ich meine, das Gute ist, dass wir noch nicht aufgegeben haben – wir haben immer noch ein Verlangen nach Qualität, nach Dingen, die mit Sorgfalt hergestellt wurden; wir haben noch immer ein Verlangen nach Dingen, die gut durchdacht sind. Gleichzeitig verlieren wir aber ein bisschen den Bezug zur Normalität des täglichen Lebens.

GvB: Und das beobachten Sie auch in der Architektur?

Chipperfield: Auf jeden Fall. Die Architektur ist Teil der Gesellschaft, sie ist nicht von ihr zu trennen. Sie ist etwas anderes als die Kunst. Wenn jemand sagt, ein Architekt sei ein Künstler, dann redet er von jemandem, der nicht wirklich ein Architekt ist. Die Architektur ist voll und ganz in die Gepflogenheiten und Werte der Gesellschaft eingebettet.

GvB: Wenn Sie ein Attribut für Ihre Gebäude wählen sollten, ein einziges signifikantes Adjektiv für alle – wie würde das lauten?

Chipperfield: Ich weiß nicht. Ich könnte das nicht in einem Wort zusammenfassen. Wenn ich Ihre Frage aus einer anderen Richtung angehen darf, würde ich sagen, dass wir versuchen, ein Gleichgewicht zwischen der Normalität und dem Außergewöhnlichen zu finden … und mir ist es unangenehm, wenn die Dinge getrennt wurden. Anders gesagt: Es wäre gut, wenn Qualität ein regulärer Bestandteil von Normalität wäre. Diesen Rang sollte die Qualität behalten, sie sollte nicht etwas sein, wofür man extra bezahlen muss. Eine phantastische Mahlzeit braucht nicht aus vierzig Gängen zu bestehen, serviert mit blubberndem Sauerstoff oder Stickstoff oder was auch immer. Sie sollte in einer Schüssel kommen und zur Normalität gehören. Sie sollte ein Teil von uns sein. Es sollte nicht nötig sein, eine Wallfahrt zu einem Restaurant zu unternehmen, wenn man Qualität finden will. Ich habe also sehr großes Interesse an der Vorstellung, dass wir versuchen, an der Qualität des Alltäglichen festzuhalten, Qualität nicht auf einen exotischen Moment zu reduzieren. Gleiches gilt für die Architektur. Architektur sollte nicht etwas sein, wohin man eine Wallfahrt macht mit Aussichtspunkten und Photokamera. Sie kann das auch mal sein – es gibt Momente, in denen wir den Konzertsaal oder das Opernhaus brauchen. Aber das Wichtigste sind doch die Sachen, die uns jeden Tag umgeben. Das ist es, was mir hier gefällt. Wir leben in einem normalen Haus.

GvB: Ich kenne viele Ihrer Bauten, und meine Bezeichnung für sie wäre: »glanzvolle Einfachheit«.

Chipperfield: Das sind aber zwei Wörter!

GvB: Zugegeben. Aber »Einfachheit« allein reicht nicht.

Chipperfield: Ich würde es »besondere Normalität« oder »normale Besonderheit« nennen. Ich habe lange Zeiten in Japan verbracht, und was mir an Japan so sehr gefällt, ist, dass dort Dinge mit Sorgfalt gemacht werden – Na ja, es gibt da auch ein Moment der Fetischisierung von Qualität. Aber im Großen und Ganzen geht es einfach darum, dass etwas gut gemacht wird. Da herrscht so etwas wie Sorgfalt. Es hat nichts mit Geld zu tun und nichts mit Exotik, sondern einfach damit, dass man sich mehr Gedanken macht.

GvB: Ist es ein gutes Gefühl, Ihre Gebäude wieder zu besuchen, wenn sie fertig sind?

Chipperfield: Nicht immer. Weil man sofort alle Fehler bemerkt, und man sieht alle Probleme. Und man hat vielleicht auch zu lange mit einem Projekt gelebt. Mir gefällt es, wenn die Bauten »normal« werden, wenn sie sich füllen. Mir gefällt es, wenn sie dann jemand anderem gehören. Es ist, als wenn man ein Schiff baut und es vom Stapel laufen lässt und sich irgendwie freut, wenn es schwimmt.

GvB: Nehmen wir mal das Nobelpreis-Zentrum in Stockholm, das Sie gerade planen. Den Nobelpreis assoziiert man ja nicht gerade mit einem neuen Gebäude.

Chipperfield: So etwas wie ein Nobel Center gibt es bisher nicht. In gewisser Weise muss man erst einmal definieren, was ein Nobel Center ist. Der Nobelpreis hat einen Ruf, nicht das Gebäude. So interessierten wir uns vermutlich erst einmal dafür, welche Facette des Projekts im Vordergrund stehen könnte. Uns faszinierte die Vorstellung, dass da eine Zeremonie stattfindet – Nobel steht für die Idee einer Preisvergabe, daher kommt dem Ort, an dem der Preis verliehen wird, eine bestimmte rituelle und repräsentative Qualität zu.

GvB: Fast religiös …

Chipperfield: Genau das ist es. Aber tatsächlich findet das Ritual an genau einem Tag im Jahr statt, das ist das Eigenartige daran. Was uns klarwurde, ist, dass der Raum, in dem der Preis bis heute verliehen wird, so etwas wie ein Theater sein muss. Dieser Raum könnte emblematisch für die ganze Idee des Nobelpreises werden: Wenn man sich klarmacht, dass der Nobelpreis individuelle Leistungen in den Bereichen Literatur und Wissenschaft feiert, dann sind der Dialog und das Zusammenkommen ein Teil davon. Und deshalb könnte dieser Raum, in dem die Menschen die Verleihung des Preises feiern, vielleicht auch der künftigen Evolution der Institution Nobelpreis eine schärfere Identität verleihen. So gehen wir da heran, anstatt das zu tun, was man sich vielleicht als das Sinnvollste für einen so großen Raum vorstellen könnte. Auf Bodenniveau oder mindestens in Bodennähe heben wir ihn so hoch wie möglich nach oben. Es ist fast ein griechisches Amphitheater, mitten in Stockholm, mitten in der Großstadt, an sehr exponierter Stelle.

GvB: Die Wurzeln des Denkens und der Wissenschaft haben mit dem Amphitheater der alten Griechen zu tun …

Chipperfield: … und das benutzt man. Es ist ein Mittel, um diese Institution ins rechte Licht zu setzen. Ansonsten hat sie keine Gestalt.

GvB: Wie hat sich nach Ihrer Meinung die Rolle der Architektur im Verlauf der Jahrhunderte verändert?

Chipperfield: Was sich verändert hat, ist die Gesellschaft. In einer zunehmend kommerzielleren Welt wird die Architektur von der Geschäftswelt dazu benutzt, Geld zu vermehren. Wenn Sie also fragen, was sich verändert hat – nehmen wir London. Was ist der Unterschied zwischen der Existenz als Architekt in den 1960er oder 1970er Jahren und dem Architektendasein im 21. Jahrhundert? Ich würde sagen: In der Nachkriegszeit hatten die Architekten noch eine gesellschaftliche Rolle, man übernahm Verantwortung für den Aufbau einer neuen Gesellschaft und eines Sozialstaats, einer Infrastruktur, von Schulen und Wohnungen.

GvB: Das ist total passé, wie mir scheint.

Chipperfield: Verschwunden. Zuerst hat Margaret Thatcher das beseitigt. Und die Marktideologie hat es noch weiter erledigt. So dass der Architekt heute kein Impulsgeber mehr ist, sondern jemand, der für Wertsteigerung sorgt. In den meisten Fällen – draußen in der wirklichen Welt – sind wir dann am nützlichsten, wenn wir für Mehrwert sorgen können. Weil wir uns in einer Wirtschaft und einer Gesellschaft bewegen, in der das der Motor ist, der einfach alles antreibt. Es gibt natürlich Ausnahmen und kulturelle Bauten. Und deren Wert entspricht noch irgendwie dem altmodischen Wertbegriff – sie haben einen Wert, aber nicht im geldlichen Sinn. Das sind die grünen Zonen, wie ich sie nenne, in denen man die Jacke ausziehen, die kugelsichere Weste ablegen und den Helm abnehmen kann.

GvB: Und da bewegen Sie sich doch meistens …

Chipperfield: Ja, wir haben inzwischen einen großen Teil der »grünen Zone« besetzt, und ich musste um die ganze Welt reisen, sie zu finden. Seitdem haben wir viele Museen gebaut, und das ist ein großes Privileg.

GvB: In New York bauen Sie gerade ein Hochhaus am Bryant Park. Welchen Einfluss haben Sie da zum Beispiel?

Chipperfield: Keinen großen. Es ist ein Projekt, mit dem wir das Geld verdienen, das wir in andere Projekte investieren. New York ist eine Stadt der Türme, deshalb habe ich kein Problem damit, dort einen Turm zu bauen. Da verändert sich nicht viel. Wir haben sehr darum gekämpft, das schön zu bauen, auch was die Materialien betrifft. Es ist also vielleicht schon möglich …

GvB: Apropos Museen. Erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit Berlin als Stadt in Ostdeutschland?

Chipperfield: Lebhaft. Das war 1981. Ich beteiligte mich an einem kleinen Studentenwettbewerb um den jährlich vergebenen Schinkel-Preis. Wir stiegen in einer kleinen Pension in der Knesebeckstraße ab, und ich wusste nichts über Berlin. Ich erinnere mich, dass wir losliefen und versuchten, die Stadtmitte zu finden, nur um fünf Stunden später mit der Erkenntnis zurückzukommen, dass das Zentrum auf der anderen Seite der Mauer lag. Aber es war wirklich schön. Wir verbrachten vier oder fünf Tage in Berlin und bekamen unseren Preis im Auditorium der Hochschule für Kunst unweit vom Bahnhof Zoo überreicht. Dabei kam es zu einer großen Studentendemonstration. Alle kamen auf die Bühne: der Bürgermeister, der versuchte, die Preise zu übergeben, und die Studenten, die gegen den Mangel an Studentenwohnungen oder so etwas protestierten. Wenn man aus London kam, war das sehr ungewöhnlich. Also: eine sehr intensive Erfahrung.

GvB: Und dann, viele Jahre später, das Neue Museum des Schinkel-Schülers Friedrich August Stüler, das Sie völlig neu gestalteten. Erinnern Sie sich daran, wie Sie zum ersten Mal das leerstehende Gebäude betraten? Was war Ihr Eindruck?

Chipperfield: Na ja, es war ein Gemisch mit einer ganzen Palette von Sachen. Denn das war damals sehr kurz nach dem Mauerfall. Alles war sehr heruntergekommen. Alle Architekten, die an dem Wettbewerb teilnahmen, wohnten in einem Hotel unweit vom Alexanderplatz. Es war das eine große Vorzeigehotel der DDR, und es war, witzigerweise, eigentlich gar nicht schlecht. Mir gefiel es jedenfalls. Und es ging nicht nur um das Neue Museum. Es war dieses ganze Erlebnis, in Berlin zu sein, einem Berlin, das sich selbst wieder aufbaute. Aber durch diese bemerkenswerte Ruine des Neuen Museums zu spazieren war faszinierend, und ich bekam fast Gänsehaut angesichts der Aufgabe. Wie ein Kind, das plötzlich einen großen eigenen Spielplatz hat.

GvB: Was waren – wenn Sie zurückblicken – die wichtigsten Einflüsse in Ihrer Kindheit? Was hat Sie am meisten geprägt? Ich rede nicht von Gebäuden oder Räumen …

Chipperfield: Auf einem Bauernhof aufzuwachsen war schon sehr prägend – und dort viel allein zu sein. Ich war vier Jahre älter als mein Bruder und meine Schwester. So ein Bauernhof ist etwas sehr Körperliches. Ich habe eine starke Erinnerung an all die Gerüche und wie sich alles anfühlte. Es ist eine sehr intensive Erfahrung. Wenn du mitten in der Nacht rausmusst, im strömenden Regen, um die Schweine vom benachbarten Feld zu holen, das ist schon krass. Es gab viel Heulerei, aber es war trotzdem eine glückliche Zeit, ganz und gar nicht negativ. Meine Eltern waren dann sehr großzügig auf ihre Weise. Sie versuchten mich zu fördern, indem sie mich auf dieses Internat schickten, eine Privatschule. Sie konnten es sich kaum leisten, aber sie wollten mir helfen, den Absprung aus dem Bauerndorf zu schaffen. Sonst wäre ich einfach Landwirt geworden. Stattdessen wurden der Zeichensaal und das Sportgelände im Internat die beiden Orte, an denen sich mein Leben abspielte. Ansonsten brauchte ich nicht viel.

GvB: Ist es wichtig, im Leben ein Stadium zu erreichen, in dem man immer weniger braucht?

Chipperfield: Da bin ich sicher.

GvB: Ist das eine Form von Freiheit?

Chipperfield: Ja – aber es ist schwierig. Ich verreise für eine Woche, und wenn ich wiederkomme, habe ich zwanzig neue Bücher, die Leute mir geschickt haben, und andere Sachen. Bücher sind leichter aufzubewahren, aber auch das ist ziemlich mühsam. In Spanien haben wir ein winziges Häuschen, und ich versuche, es wie ein Boot zu führen. Ich bin für die Küche verantwortlich. In der Küchenschublade ist nichts, was nicht zum grundlegenden Bedarf gehört, und ich werfe alles andere raus. Das habe ich grade gemacht. Ich habe auch eine kleine CD-Schublade – nur so und so groß, damit ich, wenn ich eine neue CD reintun will, eine andere rausnehmen muss. Das heißt, dass das Haus immer wieder von Überflüssigem bereinigt wird. Auch, weil man dann merkt, wie wenig man eigentlich braucht.

GvB: Das klingt, als ob Sie von Ihrer Architektur sprechen. Aber Sie haben noch nicht gesagt, was Freiheit wirklich für Sie ist?

Chipperfield: Oberflächlich betrachtet ist man schon ziemlich eingezwängt, vor allem in Zeitpläne. Wir machen zu viele Dinge, ich bin zu viel unterwegs. Und doch habe ich einen extrem hohen Grad an Freiheit. Ich denke sehr oft an die Eltern meiner Frau Evelyn. Als Juden entkamen sie 1939 aus Deutschland, sie waren noch Kinder. Da kannten sie einander noch gar nicht. Und sie sind ihr ganzes Leben über in Bewegung geblieben, von Deutschland nach England, die Mutter ging in die Schweiz, dann nach Argentinien. Lebte dort unter Perón und zog später nach Kolumbien, als Evelyn acht Jahre alt war. Um dann 1965 den ganzen weiten Weg nach Deutschland zurück zu kommen. Aber damit nicht genug: Wenn ich Evelyns Vater sehe, der mich ganz besonders unterstützt hat in all den Firmenfragen. Immer wenn ich sagte, ich habe ein großes Problem, und mich ganz elend fühlte, dann sagte er einfach: »Es wird eine Lösung geben. Wo ist das Problem? Es gibt doch gar keins.« Wenn man so viel durchgemacht hat im Leben, dann sehen alle Probleme lösbar aus. Ich glaube, dass wir das Ausmaß an Freiheit, das wir haben, nicht verstehen. Dass wir nicht dankbar genug sind. Ich versuche es zu sein.

Federico Fellini

Wir bauen die Technik im Vier Jahreszeiten auf, er hat eine Stunde Zeit, kommt natürlich verspätet. Und führt, ohne mich eines Blickes zu würdigen, sofort Regie. Leise Befehle im Falsett, in Englisch: »Coulde you pute thate lighte a little lowerrr and the other one on the other side …« Herrliche Szene, alles auf Band. Fellini will gewonnen werden, wendet sich am Beginn des Gesprächs erst mal ab. Es gelingt dann aber. Am Ende Widmung in das schöne Buch mit seinen Zeichnungen: »Buon lavoro«. Lavoro difficile ma non troppo.

GvB: Sind Sie eigentlich eitel? Schauen Sie gern in den Spiegel?

Fellini: Ja, manchmal. Wenn der Spiegel völlig beschlagen ist mit Wasserdampf, dann seh’ ich einen Schatten. Das ist dann ganz akzeptabel. Aber wer möchte nicht gern sein Spiegelbild verbessern? Ja, der Hals könnte etwas dünner und länger sein, das Kinn vielleicht etwas fliehender, und die Haare, da müsste man natürlich einiges tun.

GvB: In Ihrem Büro gibt es ungezählte Stapel von Photos. Das ist Ihre Menschensammlung, Ihr Arsenal von Gesichtern. Und die Stapel haben die unterschiedlichsten Bezeichnungen: »Komische Alte«, »melancholische Frauen«, »schmutzige Visagen« und viele hundert Etiketten mehr. Wenn Sie nun Ihr eigenes Photo in der Hand hätten, welchem Stapel würden Sie es zuordnen?

Fellini: Ja, ich habe da große Behälter, wo der größte Teil dieses photographischen Archivs eben nach Gruppen unterteilt ist. Auf der einen Kiste steht einfach zum Beispiel: »Nicht sehr zuverlässige Gesichter«. Da würde ich mich auch reinstecken. Anderswo steht »edle Gesichter«, vielleicht auch dort. Und irgendwo steht dann, »dickliche Typen«, manchmal würde ich dort ganz gut reinpassen. Ja, und dann »merkwürdige Typen«, auch »die Glatzköpfigen« – irgendwann werde ich wahrscheinlich auch dort drin landen.

GvB: Wenn Sie sich selber eine Rolle zuteilen müssten, wenn Sie sich selbst in Szene setzen müssten, was würden Sie dann am liebsten spielen?

Fellini: Auch in diesem Moment spiele ich ja eine Rolle. Ich möchte hier sympathisch, intelligent, geistreich erscheinen. Welche Rolle würde ich spielen? Ja, das hängt vom Film ab. Wenn ich verführerischer gewesen wäre oder dünner, dann hätte ich vielleicht die Rolle von Mastroianni in 8 ½ gespielt, da es ja in dem Film um einen Regisseur geht, der sich in einer Krise befindet. Ich weiß nicht, welche Rolle ich mir geben würde. Jedenfalls eine recht komplexe Rolle. Ich würde versuchen, die Leute zu rühren, sie zum Lachen zu bringen. Zum Nachdenken anregen, bedrohen, den Propheten, den Clown, den Priester spielen, den Eremiten, vielleicht den Kalifen.

GvB: Fellini, das ist längst mehr als ein Name. Das ist ganz einfach ein Mythos geworden, und Sie pflegen ihn vielleicht sogar am meisten. Und das Publikum braucht das Bild von diesem Barockmenschen Fellini, um Ihre Filme zu verstehen, soweit man sie überhaupt verstehen kann und soll. Aber kann so ein Mythos nicht manchmal auch ungeheuer belastend sein, und wären Sie nicht in Ihrer Arbeit viel freier, wenn Sie mal einen Film anonym machen könnten?

Fellini: Manchmal habe ich mir gewünscht, einen Film ohne Namensnennung machen zu können, nicht wegen dieser Last, die ich absolut nicht spüre – im Gegenteil. Ich glaube, dass alles doch dazu beiträgt, mich so zu erhalten, wie ich bin, in dieser ständigen Hochstimmung, die eine kreative Arbeit ermöglicht. Nein, ich habe schon mal gedacht, wenn ich einmal arbeiten könnte ohne die Pflicht, meinen Namen darunterzusetzen, dann hätte ich vielleicht etwas mehr Verantwortungsfreiheit, etwas mehr Leichtigkeit, aber das ist natürlich ein psychologischer Aspekt – nur das. Ich glaube, dass ich jedes Mal bei einem Film die gleichen Emotionen wiederfinde, die gleichen Unsicherheiten, die gleichen Sorgen und Befürchtungen, die gleiche Angst, etwas falsch zu machen. Das ist keine Last.

GvB: Ist es denn wirklich immer gleich schön oder haben Sie auch manchmal Filme mehr als Draufgabe für die Produzenten gemacht, um andere Dinge tun zu können, die Sie etwas mehr interessieren?

Fellini: Nein, ich kann mich nicht beklagen. Ich kann mich hier nicht zum Märtyrer stempeln, der Filme machen musste, die er nicht machen wollte. Was ich machen wollte, hab’ ich gemacht, und ich glaube, ich habe recht viel Glück gehabt. Natürlich gibt es Reibungspunkte. Die Widersprüche müssen überwunden werden, und dann habe ich am Ende doch immer die Filme gemacht, die ich machen wollte, und so, wie ich sie machen wollte. Ich brauche diese Hindernisse, ich muss diesen Widerstand spüren, ich habe das Bedürfnis, zu kämpfen. Ich brauche einen Produzenten. Ich glaube nicht, dass man wirklich völlig frei sein muss, wenn man in diesem Job arbeitet. Nein, die absolute Freiheit ist meiner Meinung nach etwas Schädliches, vielleicht aus psychologischen Gründen. Und ich streite eigentlich ganz gerne, muss ich sagen. Ja, ich bin glücklich in jedem Sinne, und ich bin auch froh, dass es Gegensätze gibt.

GvB: Aber Sie haben immer wieder verlockende Angebote aus Amerika gehabt. Sehr viel Geld war da im Spiel, und Sie haben sich auch manchmal verlocken lassen, Sie haben Zusagen gemacht und haben dann im letzten Moment doch zurückgezogen. Woher kommt diese Berührungsangst? Sie hätten auch in Amerika ein Superstar werden können.

Fellini: Ich habe Einladungen angenommen, um zu sehen, wie ich die Schwierigkeiten überwinden kann, in einer fremden Sprache zu leben und mich dort auszudrücken. Nach Amerika zu fahren und dort das amerikanische Leben zu erzählen, das kann nicht funktionieren, das würde ich nicht schaffen. Ich brauche, wenn ich meine Geschichte erzähle, wirklich das absolute Wissen dessen, was ich in diese Bilder hineintun will. Woraus zum Beispiel der Stoff dieser Decke besteht, wie man eine Mahlzeit gestaltet, wie man sich dort unterhält, wie man sich bewegt, wie man sich kleidet und so weiter. Ich kenne dieses Land nicht. Das Ganze blendet mich eigentlich. Ich bin dort immer sehr beeindruckt hingefahren, denn Amerika ist ein außergewöhnliches Land, ein Land, das wirklich sehr spektakulär ist. Das passt eigentlich zu mir, die Gesichter, die Rassenvermischung, dieser ständige Karneval des Zukünftigen.

GvB: In Rom sind Sie da natürlich besser dran, denn Rom kennen Sie nun wirklich sehr genau, Sie unternehmen tagelange Autofahrten durch die Straßen. Und wenn wir sagen, das ist Fellini, und diese Typen, die sind ja toll, dann ist das ja im Grunde Rom, das ist Italien. Eigentlich ist es kein Patent von Fellini, dieses Chaos und diese Typen, es ist ein Patent von Rom und Italien, und Sie sind im Grunde der Lizenznehmer. Was bedeutet diese Stadt, was bedeutet dieses Rom für Sie?

Fellini: Ja, das ist ein großes Theater und Filmstudio geworden, wo die Marionetten und Puppen der Geschichten wohnen, die ich erzählt habe, die ich gegenwärtig erzähle und die ich in Zukunft erzählen werde. Ich fühle mich wohl wie ein Puppenspieler bei sich zu Hause.

GvB: Wenn man die Frauen in Ihren Filmen sieht, dann kann einem ja ganz schön angst werden. Das sind meistens oder sehr oft regelrechte Monster mit Raffgebiss oder überdimensionalem Busen, verschlingende Vamps sehr oft, und man könnte meinen, dass sich da so ein bisschen die Ängste des impotenten Mannes ausdrücken.

Fellini: Meinen Sie? In meinen Filmen hab’ ich ja immer einen bestimmten Typ des italienischen Mannes dargestellt, der eben unreif ist, katholisch konditioniert, mit Tabus belegt, das heißt emotional verbrannt, verbrüht. Und dort haben wir die Frau zwischen diesen verschiedenen Gefühlen, Bedrohung einerseits und Vertrauen andererseits. Es ist ja wohl nichts Neues, wenn ich ganz frei psychoanalytisch improvisierend sage, dass die Beziehungen zwischen Mann und Frau auch durch den Aspekt der gegenseitigen Zerstörung bestimmt ist. Einer der beiden unterliegt. Wenn wir etwas von uns in eine Frau projizieren, dann ist es ja auch so, dass wir uns der Frau ausliefern. Wenn sie dann verschwindet, fühlt man sich beraubt. Das ist eine Art Sterben. Ich glaube schon, dass die Angst da ist vor einer Frau.

GvB: Bei Ihnen persönlich? Wir sprechen jetzt über Sie!

Fellini: Nein, nein, ich spreche von den Darstellern, von den Personen meiner Filme, nicht von mir.

GvB: Aber das sind doch Sie.

Fellini: Meinen Sie mich persönlich?

GvB: Das sind Sie. Ja, Sie stellen sich mit Ihren Personen dar.

Fellini: Auch ich fürchte, gefressen zu werden. Ich glaube, wer emotional leidet, der macht eine gewisse psychologische Selbsttherapie durch, und der Künstler befindet sich in einer Zone, wo er einfach durch die phantastischen Dinge des Unbewussten angreifbarer ist. Er würde vielleicht auch zerrieben werden. Er ist also ständig irgendwo verletzbar. Er würde vielleicht sogar zerstört und krank werden, während er etwas über die Ängste erzählt. Er schafft sich vielleicht sogar eine Art zweite Haut, die ihn auf wunderbare Weise beschützt. Ich glaube, dass ich so etwas tue, und deswegen hab’ ich persönlich keine Ängste – nicht die Ängste, von denen ich erzähle. Ich glaube aber im Allgemeinen, dass die Anwesenheit einer Frau nicht nur faszinierend ist, sondern immer eine gewisse Unruhe schafft, denn wir stehen vor einem Urteil. Bin ich schön genug? Wie liegen meine Haare? Passt ihr die Stimme? Es ist immer eine schöne Frau da mit einem schönen Lächeln, mit ihrem Blick, und unausweichlich befinden wir uns in einer kritischen Situation. Wir wissen nie, ob sie uns akzeptiert, ob wir einen Freispruch bekommen, ob sie uns vielleicht auch einen Passierschein für eine intimere Begegnung mit ihr gibt. Wieso sprechen wir eigentlich so lange darüber? Haben Sie Probleme? Brauchen Sie Trost?

GvB: Ich glaube nicht. Was halten Sie von Treue Frauen gegenüber? Das ist jetzt die letzte Frage zu diesem Thema.

Fellini: Ich glaube, die wahre Treue ist die zu sich selbst. Andere Arten der Treue in diesem sentimentalen Pakt, Tauschhandel und Vertrag, den man mit einer Frau eingeht, zeigen schon in der ersten Phase etwas vom Ende. Ich glaube nicht, dass das die wahre Treue ist. Man kann einem Archetypen treu sein. Wir haben vielleicht eine Frauenfigur, die wir ständig in verschiedenen Zeiten unseres Lebens in verschiedenen Städten wieder suchen. Das ist die Treue. Aber auch nur aufgrund einer Evolution, einer Entwicklung, einer Änderung, einer Bereicherung oder einer Verarmung. Auch das könnte sich ganz plötzlich wandeln. Ich glaube, dass das weibliche Bild in unserem Innersten uns zur Treue, zur extremen Treue aufruft, auch zur Kunst. Denn in der griechischen Mythologie sehen wir ja Venus auch als die Beschützerin der Künstler. Frau und künstlerische Kreativität gehören zusammen. Und so kann eine Frau auch die symbolische Verkörperung dieser unausgedrückten Spannung sein, die den Künstler kennzeichnet.

GvB: Absolute Treue zu einer Frau ist unrealistisch, würden Sie sagen?

Fellini: Ja, das sind irgendwie Mythen. Irgendwo passt sich der Mensch im Laufe seines Lebens an eine Treue an. Er verzichtet darauf, weiterzusuchen. Das heißt, wir versuchen dem treu zu bleiben, was wir gefunden haben. Das ist aber gar keine Treue, sondern nur Gewohnheit.

GvB: Die katholische Kirche hätte darüber wahrscheinlich etwas andere Ansichten. Trotzdem sind Sie ja ein gläubiger Mensch und ein guter Italiener und guter Katholik.

Fellini: Ich glaube nicht, dass ich mich einen guten Katholiken nennen kann. Ich bin katholisch kraft meiner Geburt. Ich bin in einem Land geboren, das seit zweitausend Jahren unter der katholischen Macht steht, und das Land ist in diesen Katholizismus eingetaucht.

GvB: Ihre Mutter wollte, dass Sie Priester werden, und Sie hätten vielleicht gute Chancen gehabt, eines Tages Papst zu werden. Wenn Sie heute Papst wären, was würden Sie ändern?

Fellini: Ich habe immer Schwierigkeiten bei Fragen, die mit »wenn« anfangen. Da verirre ich mich immer, das muss ich Ihnen ganz ehrlich gestehen. Ich weiß, dass ich jetzt etwas sehr Witziges antworten müsste, und ich weiß im Moment nicht, was ich Witziges sagen soll. Ich weiß nicht, wie ich meine Haltung identifizieren soll, welche Gesetze, welche Maßnahmen ich auf dem Stuhl Petri ergreifen würde. Vielleicht kann ich Ihnen beim nächsten Besuch darauf antworten. Dann werde ich mich vorbereiten.

GvB: Ich finde es ganz beruhigend, dass Federico Fellini nicht auf Anhieb immer gleich was Witziges einfällt. Aber bleiben wir noch ein bisschen bei Ihrem Glauben und bei Ihrer Einstellung dazu. In La Strada, einem Ihrer frühen Filme, aber auch in späteren Filmen leuchten am Horizont einer sonst manchmal doch eher düsteren Welt so fast franziskanische Werte auf – Demut, Zufriedenheit, Unterwürfigkeit, Einfachheit im Geist. Und diese Werte stellen Sie dar als mögliche Schiene einer Neuordnung der Menschen untereinander. Kann es sein, dass diese Werte, Demut, Unterwürfigkeit, Einfachheit im Geist, die so wichtig waren in Ihren früheren Filmen, irgendwie verlorengegangen sind?

Fellini: Auch das Leben derjenigen, die meinen Beruf haben, geht ja weiter wie jedes Leben. Das ist ein biologisches Fortwähren durch die Jahreszeiten des Lebens. Ich verleugne keinen Film, den ich gemacht habe. Ich verleugne auch nicht die Gefühle.

GvB: Wollen Sie, dass man Ihre Filme versteht?

Fellini: Ja, sicher. Es wäre doch sehr merkwürdig, wenn es einen Autor gäbe, der sagt, ich will nicht verstanden werden. Ich meine, der müsste irgendwo eingeliefert werden.

GvB: Apropos einliefern, Sie holen sich ja viele Anregungen aus psychiatrischen Kliniken. Ihre Sekretärin beschreibt so schön, wenn Sie sich dann durch eine solche psychiatrische Klinik führen lassen, dass Sie dann mit geröteten Wangen herauskommen, etwas erhitzt, als ob Sie Ihre Batterie, Ihre innere, neu aufgeladen hätten. Was fasziniert Sie am Wahnsinn?

Fellini: Diese Sekretärin, die das geschrieben hat, ist vor allem erst mal entlassen worden. Ich war in psychiatrischen Kliniken, nicht als Patient, sondern aus Neugier und als Freund von vielen psychiatrischen Ärzten. Und ich wollte vor vielen Jahren einmal einen Film machen über ein Buch, das Mario Tobino geschrieben hat. Der war lange Jahre Leiter einer psychiatrischen Klinik in der Nähe von Lucca. Er hat sehr beeindruckend über das Thema geschrieben, das geht einem unter die Haut. Mir hat das Buch sehr gefallen, und ich wollte es verfilmen. Da waren Emotionen enthalten, die man sehr gut hätte darstellen können. Ich habe ihn besucht, habe sogar eine Zeitlang in dieser psychiatrischen Klinik gelebt. Und dann habe ich darauf verzichtet, diesen Film zu machen – nicht wegen des Unwohlseins, das ich verspürt habe angesichts dieser Krankheit, dieser Dekadenz, dieses Abnormalen, sondern ich habe gespürt, dass das eine gefährliche Atmosphäre war, eine sehr suggestive Atmosphäre, sehr einladend. Der Wahnsinn – allein schon deshalb, weil er außerhalb jeder Norm liegt – hat ja etwas Belebendes, etwas Gefährliches. Da gibt es eine Dimension, die eben durch Mauern abgeschlossen ist gegenüber der normalen Welt. Auch das ist natürlich stimulierend, und das kann einen betören und mitreißen. Das war gefährlich, jedenfalls beunruhigend, und deswegen habe ich den Film nicht mehr gemacht. Hin und wieder taucht das Projekt mal wieder auf. Ich habe den Eindruck, in einer Gesellschaft zu leben, die einfach ausufert, die einfach ihre Grenzen verloren hat, die keine Dämme mehr hat. All das gibt diesem alten Projekt eine Aktualität, die wirklich berauschend ist. Deswegen taucht es wieder auf.

GvB: Haben Sie selbst jemals einen Psychiater aufgesucht oder gebraucht?

Fellini: Nein, nein, so tief bin ich noch nicht gesunken, also, in diesen psychotischen Bereich bin ich nicht hinabgestiegen. Aber wer meine Arbeit macht, wer eben mit dem Unbewussten zu tun hat, der kann mitunter auch etwas verbrannt rauskommen.

GvB: Es heißt, dass Sie als Kind von zu Hause ausgerissen seien, um Clown zu werden und einem Zirkus nachzureisen. Das ist wahrscheinlich eine dieser vielen Legenden, die nicht unbedingt stimmen. Aber wenn ich behaupte, dass Sie heute im Grunde immer noch ein großes Kind sind, das einem Zirkus nachreist – inzwischen vielleicht mehr dem eigenen Zirkus, dem Zirkus im Kopf –, würden Sie mir da widersprechen oder ist das richtig gedacht?

Fellini: Ja, ich glaube, die Tatsache, dass man in sich das kindliche Wesen bewahrt, ist etwas Unerlässliches, wenn man in einer gewissen Weise kreativ ist. Man muss diese Fähigkeit bewahren, staunen zu können, überrascht sein zu können, etwas Wunderbares zu sehen und das Mysterium zu erleben. Das ist, glaube ich, ein typisches Merkmal der Kinder. Deswegen ist die Welt etwas, was man nicht von sich loslösen kann. Da gibt es kein Subjekt und Objekt. Das Kind ist in dieser wunderbaren Welt, die es sieht, diese Farben, diese Linien, diese Töne. Und ich glaube, dass diese Identifikation mit dem, was dann hinterher zur objektiven Realität wird, dass diese Identifikation, dieses fehlende Entwurzeln, eine der Bedingungen dafür ist, sich künstlerisch äußern zu können. Sie haben also recht. Ich bin ein Kind geblieben und will es bis zum Ende bleiben. Und solange es geht dem Zirkus hinterherreisen.