Papst Franziskus

DIE FREUDE DER LIEBE


Das Apostolische Schreiben
AMORIS LAETITIA
über die Liebe in der Familie

Mit Themenschlüssel

Einführung von Jürgen Erbacher


Patmos Verlag

INHALT

Für Freiheit in Verantwortung –
Einführung von Jürgen Erbacher

Keine einheitlichen Lösungen

Stimme der Basis

Absage an Schwarz-Weiß-Denken

Perspektivenwechsel

Qualität der Beziehung im Zentrum

Liebe und Ehe sind Handwerk

Unterscheidung in den Einzelfällen

Nährboden für Veränderungen



NACHSYNODALES APOSTOLISCHES SCHREIBEN

AMORIS LAETITIA

DES HEILIGEN VATERS PAPST FRANZISKUS

ÜBER DIE LIEBE IN DER FAMILIE


Die Freude der Liebe [1–7]

Erstes Kapitel
IM LICHT DES WORTES

Du und deine Frau

Deine Kinder wie junge Ölbäume

Ein blutbefleckter Weg des Leidens

Deiner Hände Arbeit

Die Zärtlichkeit der Umarmung

Zweites Kapitel
DIE WIRKLICHKEIT UND DIE HERAUSFORDERUNGEN DER FAMILIE

Die heutige Situation der Familie

Einige Herausforderungen

Drittes Kapitel
AUF JESUS SCHAUEN –
DIE BERUFUNG DER FAMILIE

Jesus stellt den göttlichen Plan wieder her und führt ihn zu seiner Vollendung

Die Familie in den Dokumenten der Kirche

Das Sakrament der Ehe

Saatkörner des Wortes und unvollkommene Situationen

Die Weitergabe des Lebens und die Erziehung der Kinder

Die Familie und die Kirche

Viertes Kapitel
DIE LIEBE IN DER EHE

Unsere tägliche Liebe

Langmut

Haltung dienstbereiter Güte

Eifersucht und Neid heilen

Ohne zu prahlen und sich aufzublähen

Liebenswürdige Freundlichkeit

Freigebige Loslösung

Ohne gewalttätige Gesinnung

Vergebung

Sich mit den anderen freuen

Sie erträgt und entschuldigt alles

Sie glaubt alles

Sie hofft alles

Sie hält allem stand

Wachsen in der vollkommenen ehelichen Liebe (caritas)

Das ganze Leben lang alles gemeinsam

Freude und Schönheit

Aus Liebe heiraten

Liebe, die sich kundtut und wächst

Der Dialog

Die leidenschaftliche Liebe

Die Welt der Emotionen

Gott liebt das frohe Genießen seiner Kinder

Die erotische Dimension der Liebe

Gewalt und Manipulation

Ehe und Jungfräulichkeit

Die Verwandlung der Liebe

Fünftes Kapitel
DIE LIEBE, DIE FRUCHTBAR WIRD

Ein neues Leben annehmen

Die Liebe in der besonderen Erwartung der Schwangerschaft

Mutter- und Vaterliebe

Erweiterte Fruchtbarkeit

Den Leib erkennen

Das Leben in der großen Familie

Söhne und Töchter sein

Die alten Menschen

Geschwister sein

Ein weites Herz

Sechstes Kapitel
EINIGE PASTORALE PERSPEKTIVEN

Heute das Evangelium der Familie verkünden

Auf dem Weg der Ehevorbereitung zum Eheversprechen führen

Die Vorbereitung der Feier

Die Begleitung in den ersten Jahren des Ehelebens

Einige Hilfsmittel

Licht in Krisen, Ängste und Schwierigkeiten tragen

Die Herausforderung der Krisen

Alte Wunden

Begleiten nach Brüchen und Scheidungen

Einige komplexe Situationen

Wenn der Stachel des Todes eindringt

Siebentes Kapitel
DIE ERZIEHUNG DER KINDER STÄRKEN

Wo sind die Kinder?

Die ethische Erziehung der Kinder

Der Wert der Strafe als Ansporn

Geduldiger Realismus

Das Familienleben als erzieherisches Umfeld

Ja zur Sexualerziehung

Den Glauben weitergeben

Achtes Kapitel
DIE ZERBRECHLICHKEIT BEGLEITEN, UNTERSCHEIDEN UND EINGLIEDERN

Die Gradualität in der Seelsorge

Die Unterscheidung der sogenannten ›irregulären‹ Situationen

Die mildernden Umstände in der pastoralen Unterscheidung

Die Normen und die Unterscheidung

Die Logik der pastoralen Barmherzigkeit

Neuntes Kapitel
SPIRITUALITÄT IN EHE UND FAMILIE

Spiritualität der übernatürlichen Gemeinschaft

Vereint im Gebet im Licht des Ostergeheimnisses

Spiritualität der ausschließlichen, aber nicht besitzergreifenden Liebe

Spiritualität der Fürsorge, des Trostes und des Ansporns

Gebet zur Heiligen Familie


ANHANG DES VERLAGS

Themenschlüssel

Namen und Quelldokumente

Bibelstellen

Der synodale Prozess zu Ehe und Familie

Die Synodenpapiere und das nachsynodale Schreiben


Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Für Freiheit in Verantwortung

Einführung von Jürgen Erbacher


Amoris laetitia – Die Freude der Liebe: Der Titel ist Programm. Das Schreiben von Papst Franziskus ist eine Ermutigung zur Ehe und will Hilfe im Umgang mit schwierigen Situationen geben. Freiheit, Geschlechtlichkeit, Liebe sind positiv, aber sollen verantwortlich gelebt werden. An vielen Stellen schlägt Franziskus selbstkritische Töne an in Bezug auf die bisherige kirchliche Verkündigung zu Ehe und Familie. Der Papst zeichnet ein sehr realistisches Bild der Familie und erweist sich einmal mehr als Seelsorger, nicht als Oberlehrer. Ein positiver Grundton durchzieht das ganze Papier. Ohne am Lehrgebäude der katholischen Kirche zu rütteln, betont Franziskus, dass Normen nie im Widerspruch zur Liebe Gottes stehen dürfen: »Moralische Gesetze sind keine Felsblöcke, die man auf das Leben von Menschen wirft« (305). Franziskus vollzieht mit seinem Papier nun auch auf lehramtlicher Ebene einen Perspektivenwechsel, wie er sich bei den beiden Bischofssynoden zu Ehe und Familie im Oktober 2014 und 2015 abgezeichnet hat: Anstelle des mahnenden Zeigefingers gilt als neues Motto, entsprechend einer Lieblingsgeste des Papstes: Daumen hoch – Wertschätzung, nicht Ausgrenzung, sondern Integration. Franziskus wartet nicht mit einem großen Regelwerk auf. Vielmehr stellt er die konkrete Situation des Einzelnen ins Zentrum. Jegliches kirchliche Handeln muss sich im Licht der Barmherzigkeit prüfen lassen; Gleiches gilt für die Beziehungen in der Ehe und in der Familie.

Keine einheitlichen Lösungen

Franziskus möchte eine Orientierung geben für die pastorale Praxis. Dabei macht er gleich zu Beginn deutlich, dass angesichts der kulturellen Unterschiede weltweit einheitliche Lösungen nicht möglich sind. Diese Feststellung im Vorwort gehört vielleicht zum Revolutionärsten in dem Dokument. Der oberste Lehrer der Kirche stellt fest, »dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen«. Zwar müsse es eine Einheit von Lehre und Praxis geben. Dennoch ist es aus Sicht des Papstes legitim, »dass verschiedene Interpretationen einiger Aspekte der Lehre oder einiger Schlussfolgerungen, die aus ihr gezogen werden, weiterbestehen« (3). Er nimmt die Bischofskonferenzen und Ortsbischöfe in die Pflicht und spricht sich für »inkulturierte Lösungen« aus (ebd.). Hier greift Franziskus eine Erfahrung aus dem zweieinhalb Jahre währenden synodalen Prozess auf. Zum Abschluss der XIV. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode betonte er Ende Oktober 2015, »dass das was dem Bischof des einen Kontinents als normal erscheint, sich für den Bischof eines anderen Kontinents als seltsam, beinahe wie ein Skandal herausstellen kann«. Seine Konsequenz: »Jeder allgemeine Grundsatz muss inkulturiert werden, wenn er beachtet und angewendet werden soll.«

Damit ist klar: Unter Franziskus gilt der alte Grundsatz »Roma locuta, causa finita – Rom hat gesprochen, die Sache ist entschieden« nur bedingt. Viele Fragen zu Ehe und Familie müssen jetzt vor Ort entschieden werden, von den Bischofskonferenzen, von den Ortsbischöfen, den Priestern oder den Eheleuten selbst. Allerdings gibt es einen Grundton, den Franziskus vorgibt und auf dem die inkulturierten »Variationen des Themas« aufbauen müssen: die Wertschätzung des Guten auch dort, wo das Ideal nicht erreicht wird; die Ermutigung, in einer Beziehung auf das Ziel dieses Ideals hin zu wachsen; schließlich die Vorgabe, dass alles, was dem Ideal nicht entspricht, in der konkreten einzelnen Situation durch die Brille der Barmherzigkeit zu betrachten und zu bewerten ist. »Die Kirche möchte mit demütigem Verstehen auf die Familien zugehen« (200). Es geht nicht darum, eine »kalte Schreibtisch-Moral« (312) zu entfalten, sondern um eine »pastorale Unterscheidung voll barmherziger Liebe«. Der Schlüssel zum Verständnis des Papiers sowie des ganzen Pontifikats von Papst Franziskus liegt in der Feststellung: »Zwei Arten von Logik […] durchziehen die gesamte Geschichte der Kirche: ausgrenzen und wiedereingliedern […] Der Weg der Kirche ist vom Jerusalemer Konzil an immer der Weg Jesu: der Weg der Barmherzigkeit und der Eingliederung […] Der Weg der Kirche ist der, niemanden auf ewig zu verurteilen, die Barmherzigkeit Gottes über alle Menschen auszugießen, die sie mit ehrlichem Herzen erbitten […] Denn die wirkliche Liebe ist immer unverdient, bedingungslos und gegenleistungsfrei« (296).

Stimme der Basis

Ausführlich zitiert Franziskus die Abschlusstexte der beiden Bischofssynoden vom Oktober 2014 und 2015. Damit misst er diesem Beratungsinstrument ein erhebliches Gewicht bei, ebenso den nationalen Bischofskonferenzen. Wie schon in Evangelii gaudium (2013) und in seiner Enzyklika Laudato si’ (2015) nimmt er auf Dokumente von Bischofskonferenzen aus der ganzen Welt Bezug. So werden die Bischofssynode und die Bischofskonferenzen »sub et cum Petro« (unter und mit Petrus) in die höchste Lehrautorität hineingenommen. Diese formalen Dinge sind wichtig, wenn es um die Frage geht, wie Franziskus das Papstamt versteht und wie er sich eine Kirche vorstellt, in der mehr Synodalität verwirklicht wird. Viermal verweist er direkt auf die Umfrage, die zu Beginn des synodalen Prozesses Ende 2013 weltweit durchgeführt wurde. Damit findet sich die Stimme der Basis auch noch im Abschlussdokument. Zugleich lässt Franziskus seine Vorgänger, vor allem Paul VI., Johannes Paul II. und Benedikt XVI., zu Wort kommen und zeigt damit, dass er sich in ihre Tradition stellt, auch wenn er eigene Akzente setzt.

Franziskus beginnt seine Ausführungen über Ehe und Familie mit einem Blick in die Heilige Schrift. Dies ist die Basis für seine späteren Überlegungen. Zum einen fällt auf, dass er die schöpfungstheologischen Aussagen über Mann und Frau, Nachkommenschaft und Familie im Alten Testament bereits aus der Perspektive der Verkündigung Jesu betrachtet. Zum zweiten zeichnet er kein »paradiesisches« Bild von Ehe und Familie. Von Anfang an verweist er auf den Schmerz, das Böse, die Gewalt, »die das Leben der Familie und ihre innige Lebens- und Liebesgemeinschaft auseinanderbrechen lassen« (24). Franziskus spannt den Bogen von der Heiligen Schrift ins Heute. Im Buch Ruth und in der Verkündigung Jesu findet er Beispiele dafür, wie Arbeitslosigkeit und unsichere Arbeitsverhältnisse sich auf das Familienleben auswirken.

Absage an Schwarz-Weiß-Denken

Die aktuellen Herausforderungen für Ehe und Familie stehen im Zentrum des zweiten Kapitels. Seine nüchterne Situationsbeschreibung vermeidet die innerkirchlich nicht seltene Klage über die »ach so schlechte Gegenwart«. Der kulturelle Wandel habe »Licht- und Schattenseiten«, stellt er in Anknüpfung an seinen Vorgänger Johannes Paul II. fest. Mehr Freiheitsräume, gleichmäßige Verteilung der Lasten, Verantwortlichkeiten und Aufgaben in der Familie sowie mehr Kommunikation zwischen den Eheleuten führten dazu, »das gesamte familiäre Zusammenleben menschlicher zu gestalten« (32). Freilich benennt er auch die Herausforderungen wie den »ausufernden Individualismus«, die Bedingungen der modernen Arbeitswelt, Missbrauch, Gewalt und Sucht, die schwer auf dem Familienleben lasten. Auch bemängelt Franziskus eine »übertriebene Idealisierung« der Ehe durch die Kirche. Häufig habe sie ein »allzu abstraktes theologisches Ideal der Ehe vorgestellt, das fast künstlich konstruiert und weit von der konkreten Situation und den tatsächlichen Möglichkeiten der realen Familien entfernt ist« (36). Das habe die Ehe nicht attraktiver gemacht, sondern eher das Gegenteil bewirkt. Schon hier wird deutlich, dass Franziskus dem Gewissen des Einzelnen eine größere Bedeutung beimessen möchte, etwa wenn er über die verantwortliche Elternschaft spricht.

Entscheidend für die weiteren Ausführungen ist die Feststellung: »Wir müssen die große Vielfalt familiärer Situationen anerkennen, die einen gewissen Halt geben können, doch die eheähnlichen Gemeinschaften oder die Partnerschaften zwischen Personen gleichen Geschlechts, zum Beispiel, können nicht einfach mit der Ehe gleichgestellt werden« (52). Damit erteilt er einem simplen Schwarz-Weiß-Denken eine Absage und spricht sich für eine differenzierte Bewertung von Beziehungsformen aus. Zugleich bekräftigt Franziskus das traditionelle kirchliche Bild der Ehe von einem Mann und einer Frau. Damit ist nicht gesagt, dass andere Formen von Partnerschaft grundsätzlich abgelehnt werden. In diesem wie in anderen Zusammenhängen ist in Amoris laetitia auch wichtig, was das Dokument nicht sagt: Statt dass bestimmte frühere Positionen offen als falsch bezeichnet werden, gehen sie − gemäß der Gepflogenheiten des Lehramts − diskret im Schweigen unter.

Bereits im zweiten Kapitel zeigt sich, was später noch weiter ausgeführt wird: Franziskus macht sich stark für eine Gleichberechtigung von Mann und Frau (55, 155 f). Der Papst aus Lateinamerika, der die Welt des Machismo gut kennt, weiß um die Tragweite dieses Themas weltweit. Er verurteilt scharf jede Ausbeutung und Zurücksetzung von Frauen sowie Gewalt gegen sie etwa durch Genitalverstümmelung (30). Umgekehrt erinnert er die Männer an ihre Pflichten bei der Kindererziehung und im Haushalt. »Häusliche Aufgaben oder einige Aspekte der Kindererziehung zu übernehmen, machen ihn nicht weniger männlich«, so Franziskus (286). Er würdigt den Feminismus, wehrt sich aber gegen Gender-Modelle, die die Geschlechter einzuebnen versuchen. Dabei wird einmal mehr deutlich, dass Franziskus eine sehr undifferenzierte Vorstellung von diesen Theorien hat (56 u. a.). Er anerkennt, dass die Rollenbilder von Mann und Frau auch soziokulturell und familiär geprägt sind. Zugleich betont er die Unterschiedlichkeit der Geschlechter, die ihnen von der Schöpfungsordnung her verschiedene Rollen zuweisen (vgl. 286).

Perspektivenwechsel

Im dritten Kapitel wirft Franziskus einen kurzen Blick auf die Lehre der katholischen Kirche zu Ehe und Familie. Er bekräftigt die Unauflöslichkeit der Ehe und die Offenheit für Kinder. Er würdigt die unter Gläubigen umstrittene Enzyklika Humanae vitae (1968) von Papst Paul VI. und spricht von der »verantwortlichen Elternschaft« (68); auf das Verbot künstlicher Empfängnisregelung in dieser Enzyklika geht er hingegen nicht näher ein. Später wird er sich bei seinen Orientierungen für die Familienpastoral eine Formulierung des Abschlussberichts der Synode von 2015 zu eigen machen: Ehepaare sollen »zur Anwendung der Methoden, die auf den ›natürlichen Zeiten der Fruchtbarkeit‹ (Humanae vitae, 11) beruhen, ermutigt werden« (222). Hier wie bei anderen Erwähnungen von Humanae vitae kann man den Eindruck haben, Franziskus wollte diesem Dokument den Stachel der Passagen über die Empfängnisregelung ziehen, um die anderen Aussagen besser zur Geltung kommen zu lassen.

Zwei Aspekte des dritten Kapitels sind wichtig, um den Perspektivenwechsel, den Franziskus vornimmt, richtig zu verstehen. Er überträgt die Vorstellung der »semina Verbi«, von denen das Zweite Vatikanische Konzil in Bezug auf andere Kulturen spricht, auf Ehe und Familie und weitet damit den Blick auf die beiden Institutionen. »Jeder Mensch, der in diese Welt eine Familie einbringen möchte, welche die Kinder dazu erzieht, sich über jede Tat zu freuen, deren Absicht ist, das Böse zu überwinden – eine Familie, die zeigt, dass der Heilige Geist in ihr lebt und wirkt –, wird Dankbarkeit und Wertschätzung finden, gleich welchem Volk, welcher Religion oder welchem Land auch immer er angehört« (77). Franziskus kommt dann in Anlehnung an die Synode 2015 zu dem Schluss, dass zwar einerseits keine Abstriche bei der Verkündigung der kirchlichen Lehre über die Familie gemacht werden dürfen. Andererseits sind »Urteile zu vermeiden, welche die Komplexität der verschiedenen Situationen nicht berücksichtigen« (79). Hier deutet sich schon an, was später in Bezug auf sogenannte »irreguläre Situationen« wichtig wird.

Das vierte Kapitel präsentiert sich quasi als Hymnus auf die Liebe in der Ehe. Ausgehend vom neutestamentlichen Hohenlied der Liebe (1 Kor 13,4–7), bodenständig und lebensnah, emotional und menschlich nähert sich Franziskus dem Thema. Er schreibt über Kommunikation in der Beziehung, Zärtlichkeit und Erotik, frei von jeder Peinlichkeit. »Begierden, Gefühle, Emotionen – das, was die Klassiker ›Leidenschaften‹ nannten – nehmen einen wichtigen Platz in der Ehe ein« (143). Später bei den Tipps für die Familienpastoral ist zu lesen: »Es ist gut, den Morgen mit einem Kuss zu beginnen« (226). Franziskus wird zum Eheberater und man nimmt ihm seine Worte ab. Hier zeigt sich die lange Erfahrung, die Jorge Mario Bergoglio als Beichtvater, als Seelsorger und Bischof gesammelt hat – als einer, der wirklich am Leben der Menschen teilnahm, der in die Armenviertel von Buenos Aires ging und die Probleme und Nöte der Menschen kennt. Oft spricht Franziskus von einer »hörenden Kirche«. Diese Abschnitte in Amoris laetitia lassen einen »hörenden Menschen« erkennen, der versteht, das Gehörte im Licht des Evangeliums zu deuten.

Qualität der Beziehung im Zentrum

Die Ausführungen sind aber auch für Theologie und Lehre nicht unbedeutend. Was Franziskus hier vorlegt, ist weniger eine klassische Sexualmoral als vielmehr eine Beziehungsethik. Das ist eine neue Sicht von Partnerschaft und Ehe, die im Zweiten Vatikanischen Konzil grundgelegt, bei den bisherigen Nachkonzilspäpsten zögerlich umgesetzt und von Franziskus nun ganz dezidiert durchbuchstabiert wird. Dabei stellt er sich in die Tradition der »Theologie des Leibes« von Papst Johannes Paul II. und entwickelt sie weiter zu einer »Theologie der Liebe«. Er geht den Weg, den die Moraltheologie in den vergangenen Jahrzehnten bereits gegangen ist, nun als Papst. Er stellt die Qualität der Beziehung ins Zentrum der Überlegungen und überwindet den Primat der Fortpflanzung. Viele Moraltheologen sehen hierin einen Ansatz für eine neue Würdigung gleichgeschlechtlicher Beziehungen. Diesen Schritt geht Franziskus nicht explizit.

Die »Eheberatung« setzt Franziskus im fünften Kapitel fort. Dabei ist interessant, dass er die Fruchtbarkeit der Liebe nicht allein auf Kinder beschränkt. Es gibt für ihn auch eine »erweiterte Fruchtbarkeit«, die sich etwa in Werken der Nächstenliebe ausdrückt. Immer wieder weitet der Papst den Blick über die Kernfamilie hinaus, nimmt Großeltern und Schwiegereltern in den Blick. Ausdrücklich warnt er davor, dass sich Familien gegenüber ihrem Umfeld abkapseln (186).

Nach den Tipps für Paare widmet sich Franziskus im sechsten Kapitel der Familienpastoral. Allerdings könne er dieses Thema nur »allgemein umreißen«; hier seien die Ortskirchen gefragt, um die »Bedürfnisse und Herausforderungen vor Ort zu berücksichtigen« (199). Die ersten Abschnitte tragen wieder selbstkritische Züge: Die Umfrage vor den beiden Synoden habe gezeigt, »dass es den geweihten Amtsträgern gewöhnlich an einer geeigneten Ausbildung fehlt, um mit den vielschichtigen aktuellen Problemen der Familien umzugehen. In diesem Sinn kann auch die Erfahrung der langen östlichen Tradition der verheirateten Priester nützlich sein« (202). Entsprechend müsse die Ausbildung verändert werden. Offen bleibt, ob der Verweis auf die Ostkirchen auch eine Diskussion um den Pflichtzölibat für römisch-katholische Priester antippt.

Liebe und Ehe sind Handwerk

Franziskus betont mit Blick auf die Ehevorbereitung: »Die Qualität zieht mehr an als die Quantität« (207). Da die Ehe kein Fertigprodukt ist, das mit der Hochzeit vom Himmel fällt, braucht es eine Vorbereitungszeit, aber auch eine Begleitung in der Ehe. »Stehendes Wasser verdirbt« (219). Liebe und Ehe sind Handwerk (221), lautet seine Botschaft, ein lebenslanges Arbeiten am gemeinsamen Weg der Partner, das von der Kirche begleitet werden muss. Er ermutigt, Krisen als Herausforderungen und Chancen zu verstehen. »Jede Krise ist eine Lehrzeit«, ist der Papst überzeugt (232). Er ist allerdings auch so realistisch zu sehen, »dass es Fälle gibt, in denen eine Trennung unvermeidlich ist« (241). Wie schon sein Vorgänger Benedikt XVI. betont Franziskus, dass »Geschiedene in neuer Verbindung« nicht exkommuniziert sind und eine besondere Sorge für sie nicht dem Zeugnis der Unauflöslichkeit der Ehe widerspricht (243). Nur kurz geht Franziskus auf konfessionsverschiedene Ehen ein. Er verweist in Bezug auf das gemeinsame Abendmahl auf die bestehenden Normen (247).

Das dürfte viele ebenso enttäuschen wie die kurzen Aussagen über Homosexuelle. Er verurteilt jegliche Form der Diskriminierung und fordert Respekt. Jegliche Analogie oder gar Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit der Ehe lehnt er strikt ab. Die Beratungen bei den beiden Synoden 2014 und 2015 zeigten, dass das Thema Homosexualität noch einmal eine weit größere Sprengkraft besitzt als etwa wiederverheiratete Geschiedene. Nachdem es bei der Synode 2014 bei diesem Thema beinahe zum Eklat kam, versuchte die Synodenregie für das Treffen im Oktober 2015 die Frage möglichst klein zu halten. Das zeigt sich jetzt auch in dem Abschlusspapier. Das Thema bleibt damit unbearbeitet, wird die katholische Kirche aber weiter beschäftigen.

Bevor Franziskus sich weiter den »irregulären« Situationen widmet, schiebt er ein Kapitel über Kindererziehung ein, die er ausdrücklich als eine gemeinsame Aufgabe von Vater und Mutter sieht. Nur kurz geht er auf die Situation von Alleinerziehenden ein. Er warnt vor ›Helikopter-Eltern‹ und einem alleinigen Augenmerk auf die physische und geistige Entwicklung (261). Umsichtig eingesetzte Strafen als Mittel des erzieherischen Ansporns für Kinder sind aus Sicht von Franziskus legitim(268 f). Seine umstrittene Äußerung über einen Klaps, der helfen könne, wiederholt er nicht. Hier und andernorts wird deutlich, dass Franziskus in Kindern die Zukunft der Gesellschaft sieht. Was in der Kindheit grundgelegt wird, prägt später die Welt. »Die Eltern beeinflussen immer die moralische Entwicklung der Kinder«, stellt er zu Beginn des Kapitels fest (259).

Unterscheidung in den Einzelfällen

Im achten Kapitel schließlich kommt Franziskus zu den »irregulären Situationen«. Dabei gibt die Überschrift bereits den Weg vor: »Die Zerbrechlichkeit begleiten, unterscheiden und eingliedern«. Franziskus betont, dass weder von der Synode noch von ihm eine »auf alle Fälle anzuwendende generelle gesetzliche Regelung kanonischer Art erwartet werden durfte« (300). Er sieht eine »pastorale Unterscheidung« in den Einzelfällen geboten. »Und da ›der Grad der Verantwortung […] nicht in allen Fällen gleich [ist]‹, müsste diese Unterscheidung anerkennen, dass die Konsequenzen oder Wirkungen einer Norm nicht notwendig immer dieselben sein müssen«, so Franziskus mit Bezug auf die Relatio finalis der Synode vom Oktober 2015. Ausdrücklich verweist er an dieser Stelle in einer Fußnote auf zwei Abschnitte aus Evangelii gaudium (44 und 47; darin finden sich u. a. diese Sätze: »Alle müssen von dem Trost und dem Ansporn der heilbringenden Liebe Gottes erreicht werden, der geheimnisvoll in jedem Menschen wirkt, jenseits seiner Mängel und Verfehlungen. […] Die Kirche ist berufen, immer das offene Haus des Vaters zu sein. […] Die Eucharistie ist, obwohl sie die Fülle des sakramentalen Lebens darstellt, nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen.«). Es müsse auch hinsichtlich der Sakramentenordnung einen differenzierten Umgang mit den konkreten Situationen geben. Der Verweis kommt später noch einmal, wenn Franziskus über »mildernde Umstände in der pastoralen Unterscheidung« spricht (301 ff). Damit schließt der Papst den Kommunionempfang für Menschen, die nicht dem Ehe-Ideal entsprechen, nicht von vornherein aus; vielmehr gibt er dem Blick auf das Einzelschicksal und dem persönlichen Gewissen größeres Gewicht.

Er beschränkt sich übrigens nicht auf »wiederverheiratete Geschiedene«, sondern er spricht meist von »Geschiedenen in neuen Verbindungen«. Auch beschränkt er sich nicht auf die Frage der Zulassung zu den Sakramenten, sondern befasst sich generell mit der Aufarbeitung des Schicksals von Trennung und neuen Beziehungen. Er setzt also viel grundsätzlicher und umfassender an. Vor diesem Hintergrund dürften auch seine früheren Aussagen vor Journalisten zu verstehen sein, der Kommunionempfang sei nicht die entscheidende Frage beim Umgang mit Geschiedenen. Dies könnte auch erklären, warum die Hinweise auf die Sakramente hier lediglich in zwei Fußnoten verpackt sind. Auch eine weitere Fußnote verdient Beachtung: In Anmerkung 329 geht es um die sogenannte »Josefsehe«. Viele vor allem konservative Kirchenvertreter nennen die sexuelle Enthaltsamkeit als Lösung für wiederverheiratete Geschiedene, damit diese zum Sakramentenempfang zugelassen werden können. Franziskus schreibt hingegen im Blick auf solche Paare, »dass in diesen Situationen, wenn einige Ausdrucksformen der Intimität fehlen, ›nicht selten die Treue in Gefahr geraten und das Kind in Mitleidenschaft gezogen werden [kann].‹«

Franziskus legt dar, wie – unbeschadet der Gültigkeit der bisherigen Lehre – eine »vollere Teilnahme am Leben der Kirche« in Einzelfällen nach einer eingehenden seelsorglichen Prüfung der Umstände möglich ist (300). In Anlehnung an die Arbeit der deutschen Sprachgruppe bei der letzten Synode argumentiert der Papst ausführlich mit Thomas von Aquin (301 ff). Franziskus gibt einen Leitfaden für die Unterscheidung an die Hand. Doch für die konkrete Umsetzung sind die Priester und Bischöfe vor Ort gefordert. Der Papst hat auch seine Kritiker im Blick. »Ich verstehe diejenigen, die eine unerbittlichere Pastoral vorziehen, die keinen Anlass zu irgendeiner Verwirrung gibt« (308). Doch stellt er kurz darauf fest: »Wir stellen der Barmherzigkeit so viele Bedingungen, dass wir sie gleichsam aushöhlen und sie um ihren konkreten Sinn und ihre reale Bedeutung bringen, und das ist die übelste Weise, das Evangelium zu verflüssigen« (311).

Nährboden für Veränderungen

Abschließend widmet Franziskus der »Spiritualität in Ehe und Familie« ein eigenes kurzes Kapitel. Das Thema schwingt allerdings bereits im ganzen Papier immer wieder mit. Daher darf es nicht verwundern, wenn dieser Abschnitt vergleichsweise kurz ausfällt.

Auch wenn das Kirchenoberhaupt nicht Hand an Dogmen legt, könnte das Papier dennoch den Nährboden für weitreichende Veränderungen in der katholischen Kirche bilden, die über Reformen allein in der pastoralen Praxis hinausgehen. Denn Franziskus wird seinem Image als »radikaler Papst« gerecht: Er setzt ganz grundlegend an, schaltet Recht und Normen gleichsam einen »Barmherzigkeits-Vorbehalt« vor. Wenn Gott Barmherzigkeit ist, wie er jüngst in seinem Interviewbuch Der Name Gottes ist Barmherzigkeit dargelegt hat, und die Kirche das sichtbare Zeichen der Gegenwart Gottes in der Welt ist, so das katholische Verständnis, dann muss alles Handeln der Kirche mit ihren Gesetzen und Vorgaben die »Barmherzigkeits-Prüfung« bestehen.

Franziskus möchte mit diesem Papier einmal mehr Brücken bauen. Als Pontifex versucht er zwischen Reformern und Bewahrern zu vermitteln. Doch sein Grundton ist klar: Der Blick der Kirche richtet sich nicht mehr nur auf das Schlafzimmer, sondern er geht vor allem ins Wohnzimmer, ins Kinderzimmer und darüber hinaus in das soziale Umfeld. Kritiker werden sagen, der Papst öffne der Beliebigkeit Tür und Tor. Vielleicht ist es aber eher so, dass der Papst ernst macht mit der Botschaft des Gründers. Franziskus will weg von einem Glauben, der sich an unzähligen Normen und auswendig gelernten Katechismussätzen orientiert. Er fordert den Einzelnen heraus, zu einem mündigen und freien Christenmenschen zu werden, Freiheit in Verantwortung zu leben. Franziskus nimmt den einzelnen »Instanzen« in der katholischen Kirche ihre je eigene Verantwortung nicht ab – im Gegenteil. Er hat gesprochen; jetzt sind die Bischöfe, die Priester und die Seelsorger sowie jeder einzelne Gläubige am Zug.

Jürgen Erbacher, geb. 1970, ist langjähriger ZDF-Redakteur mit Schwerpunkt Vatikan und Papst, Teilnehmer an Papstreisen, Autor und Herausgeber zahlreicher Papstbücher sowie Blogger (»Papstgeflüster«).