Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-7357-5305-2
© Christian Unverzagt 2014
Umschlagbild: Christian Unverzagt
www.christianunverzagt.de
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Vor dem Wort war Schweigen. In ihm war etwas Verschwiegenes: das Buch Metarealismus.
Statt eines Willkommen
Es wäre ein Widersinn, das Buch Metarealismus mit einem Willkommen an den Leser zu beginnen. Der Metarealismus will an niemanden heran kommen. Ebenso wenig legt er es darauf an, dass Leser zu ihm kommen. Das bedeutet nicht Unnahbarkeit. Im Gegenteil, der Metarealismus ist, wenn man seinem verschwiegenen Buch Glauben schenken will, immer schon ganz nah; allerdings dort, wo wir ihn nicht vermuten. Er markiert den Konvergenzpunkt von größtmöglicher Nähe und kleinstnötiger Distanz zur Normalität.
Zwei Geschichten
Es gibt zwei Geschichten des Metarealismus, eine wahre und eine metarealistische. Wovon nur diese weiß, nicht aber jene: dass sie ineinander verschlungen sind. Wahr ist, dass niederländische Maler, russische Dichter, deutsche Denker und französische Theologen den Metarealismus im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts unabhängig voneinander entdeckt haben.1 Ihnen folgten, ohne Bezugnahme auf jene, die sonst ihre Vorgänger gewesen wären, amerikanische Literaturkritiker, Künstler verschiedenster Herkunft, Theater- und Filmemacher, Fotografen, Architekten, Politologen… Bald war es, als marschierten metarealistische Legionen durch alle Regionen der Kultur. Gemeinsam war ihnen nur, dass sie alle die Ersten und Einzigen waren. Aufgrund ihrer Unkenntnis voneinander fühlten sie sich in keiner Entdeckerrivalität zueinander. Das erklärt das Schweigen Chinas, wo man erst in Kürze eine Jahrtausende alte Tradition des Metarealismus wiederentdecken wird.
Doch während ihr die nahezu zeitgleichen Parallelentdeckungen verborgen blieben, tendieren auch im Westen die Entdeckungen des Metarealismus dazu, sich als Wiederentdeckung einer älteren Tradition zu verstehen. Metarealistische Maler des 20. Jahrhunderts beanspruchten Hieronymus Bosch (1450–1516) als ihresgleichen. Die metarealistische Theologie erklärte, dass der Quantenphysiker Werner Heisenberg (1901–1976) dasselbe, nur eben anders, habe sagen wollen wie bereits der große Scholastiker Thomas von Aquin (ca. 1225– 1274). Metarealistische Dichter fanden ihre Sprache im archaischen Mythos vorgebildet.
Der Metarealismus hat einen Hang, sich in der Vergangenheit auszubreiten. Dennoch ist es schwierig, ihn in der Geschichte dingfest zu machen. Seine Ausbreitungstendenz wird ausbalanciert durch eine Art Einrollbewegung, die alle Spuren tilgt. Auf jeden vorgeblichen Metarealisten kommt ein sich selbst verleugnender, der sich dem Mainstream irgendwann mit verständlicheren Etiketten andienen will.
So ist das Verhältnis des Metarealismus zur Zeit von Instabilität gekennzeichnet. Das mag einer der Gründe sein, warum er sich in keiner linearen Geschichte entwickelt hat. Dem korrespondiert seine kaleidoskophafte Wahrnehmung, die mitunter einer bunten und bizarren Zusammenschau von Unzusammengehörigem gleicht. Wie Druckwasser, das sich in eingedeichten Flussniederungen an mehreren Stellen Bahn bricht, tauchte er nahezu gleichzeitig auf, aber nicht als gleiches Phänomen. Seine verschiedenen Entdecker meinten jeweils Verschiedenes. Während die einen in ihm die Wirklichkeit hinter den vielen Realitäten entdecken wollten, mobilisierten andere umgekehrt die vielen Wirklichkeiten unter oder über der Einen.
Sie alle haben den Metarealismus entdeckt, der zugleich ihr Metarealismus war, und manchmal noch ist. Sie alle beschreiben die wahre Geschichte des Metarealismus. Die Geschichte des Metarealismus, die im Folgenden dokumentiert wird, ist dagegen die metarealistische. Sie breitet gegenüber den wahren Geschichten kein relativistisches Nebeneinander verschiedener Sichtweisen vor uns aus. Metarealismus ist immer auch Metarelativismus. Die metarealistische Geschichte des Metarealismus entspricht dem Begriff ihres Gegenstandes, der mit allem anderen auch sich selbst übersteigt. So legte es bereits 1990 das damals verschwiegene Buch Metarealismus dar, das weiter unten seinem Geist getreu als durch sich selbst überstiegenes Buch im Buch dokumentiert wird.
Der Metarealismus als sich selbst übersteigendes Phänomen hat auch die Position der Metanominalisten überstiegen und inkorporiert, die sich in Reflexion auf seine parallele und uneinheitliche Entdeckung ergeben hatte. Die Metanominalisten hatten dem Begriff des Metarealismus jede Entsprechung in der Realität abgestritten. Durch ein Versagen der Lexika und Enzyklopädien, die der Verpflichtung ihrer Definitionsmacht nicht nachgekommen seien, habe der vakante Begriff wie eine leere Hülse über gänzlich disparate Phänomene gestülpt werden können. Die metarealistische Erwiderung argumentierte ebenfalls mit dieser Deckungsungleichheit seiner Erscheinungsformen: der Metarealismus sei die Überschreitung, die sich nur in der Ungleichheit mit sich selbst, nie aber als mit sich identisches Phänomen manifestieren könne.
Trittsteine durchs Nichts
Der Leser des verschwiegenen Buches Metarealismus darf erwarten, bei seiner Lektüre zu erfahren, was Metarealismus ist. Dazu wird von ihm selbst verlangt, dass er nicht mit-, sondern umdenkt. Der Metarealismus ist ein permanentes Umdenken. Er ist eine Sicht der Welt, die sich nicht definieren lässt. Sie steht so wenig still wie die Welt selbst. Der Punkt, auf den der Metarealismus gebracht werden kann, ist daher kein Standpunkt, auch nicht sein eigener. Er ähnelt der Sartreschen Existenzformel bis zur Ununterscheidbarkeit, ohne doch mit ihr identisch zu sein: Der Metarealismus ist, was er nicht ist, und ist nicht, was er ist.
Der Versuch, ihn begrifflich zu fassen, erweist den Metarealismus als die Kunst, immer schon einen Schritt weiter zu sein. Er ließe sich, hätte es ihn nicht schon immer gegeben, als legitimes Kind unserer von Haltlosigkeit und Unrast geprägten Zeit ausweisen.
Zugleich und immer wieder erweist er sich als die Kunst, sich die an ihren Möglichkeitshorizont verflüchtigte Welt mit einem Wirklichkeitsboden unterlegt vorzustellen. Es ist, als hätten Metarealisten sich Trittsteine unter ihre Füße gebunden, die sie mit schlafwandlerischer Sicherheit durchs Nichts schreiten ließen; so jedoch, dass sie beim Überschreiten des Bodenlosen auf eine Ebene gelangten, von der aus die Rückseite dessen, was man normalerweise für die Realität hält, sichtbar wird.
Der Himmel über dem Himmel
Es heißt, man sei in einer Sprache erst dann wirklich heimisch, wenn man ihre Präpositionen und Präfixe beherrsche. So bemüht sich der Metarealismus um eine der Wirklichkeit angemessene Sprache. Er überschreitet Phänomene, Standpunkte, Sichtweisen, um dahinter zu kommen, was es mit ihnen auf sich hat – statt zu fragen, was ihnen zugrunde liegt. Durchschauen bedeutet für Metarealisten, sehen, dass es auch dahinter und darüber noch etwas gibt, nämlich wiederum Phänomene, Standpunkte und Sichtweisen. Dafür wurde ausgerechnet in einer Sprache, die keine Präfixe kennt, nämlich dem Chinesischen, eine Redewendung geprägt: Tianwai you tian , was ins Deutsche übersetzt ungefähr bedeutet: „Über dem Himmel gibt es noch einen Himmel.“
Flaschenpost
Während einflussreiche Bücher ihre Wirkung zu entfalten beginnen, wenn sie aufgeschlagen werden, treibt das verschwiegene Buch Metarealismus verschlossen seiner Bestimmung entgegen. Einer Flaschenpost gleich, hat es im Informationszeitalter nur seine unendliche Geduld in die Waagschale zu werfen. Seelenruhig stellt es sich dem elektronisch beschleunigten Weltlauf zu einem seltsamen Wettlauf, bei dem ihm vollkommene Gelassenheit als Weg und Ziel gilt. Nach Überzeugung seiner stillen Teilhaber strahle es am Ende auf unnachahmliche Weise sein In-Ruhe-gelassen-sein aus, nach dem sich die Dinge heutzutage und in alle Halbwertzeit vergeblich sehnten.
Buch und Büchse
Es gibt Stimmen, die das verschwiegene Buch Metarealismus mit der ungeöffneten Büchse der Pandora vergleichen. Zeus hatte, um sich für den Diebstahl des Feuers zu rächen, Pandora aufgetragen, sie den Menschen zu schenken, aber mit der Auflage, sie nicht zu öffnen. Als sie dann in Folge des Verbots doch geöffnet wurde, entwichen ihr alle Laster und alles Schlechte, das seither die Welt regiert.
Damit soll nicht gesagt sein, dass das verschwiegene Buch Metarealismus an sich etwas Schlechtes enthält. Seit den quantenmechanischen Gedankenexperimenten, in denen Erwin Schrödinger eine Katze in einer solchen Büchse versteckte, lässt sich wissenschaftlich die These vertreten, dass ihr Inhalt, somit auch das Buch Metarealismus, vor dem Öffnen ein anderer als danach gewesen sein könnte.
Verteidiger des verschwiegenen Buches Metarealismus fahren noch eine andere Strategie, um seine Unschuld zu beteuern: Es sei zwar wie alles Menschliche ebenfalls beim Öffnen der Büchse entstanden, aber als Gegenströmung zum Entweichen ihres Inhalts.
Aus dem Zwischenraum
Mal erscheint das verschwiegene Buch Metarealismus als merkwürdiger Spiegel unserer Zeit, dann wieder kommt es als Zeugnis aus einer anderen Zeit daher. In seinem Verhältnis zur Zeit gleicht es einem Kaleidoskop, in dem, was nach dem Ende wäre (also nicht), umkippt in etwas vor dem Ende, und umgekehrt. Man sagt daher, das verschwiegene Buch Metarealismus sei nichts fürs Ende, aber auch nichts für den Anfang, es sei eher Nichts für zwischendurch.
Vieles in und an ihm ist historisch verortbar, aber nicht unbedingt verifizierbar. Einige Ereignisse, von denen das Büchlein handelt, entstammen dem Zwischenraum zwischen dem, was niemals eintritt, und dem, was nur nicht bemerkt wird. Das gilt für beide Seiten jener stählernen Trennwand, die von der Normalität als Gegenwart durch die Zeit geschoben wird. Hatte für den großen irischen Gelehrten des neunten Jahrhunderts, Johannes Scotus Eriugena, das Nichtseiende keinen geringeren Wert als das für unsere Sinne und unseren Verstand Seiende, so gilt dem Metarealismus das Ungeschehene nicht weniger als das Geschehene.
Der Metarealismus geschieht in einem verschwindenden und manchmal in einem verschwundenen Zeitraum. So ist er immer dabei.